Der Druck ist fast nicht mehr zu ertragen. Ich weiß nicht, wie lange ich ihm noch standhalten kann.
HOLGER BORCHARDT
Holger war froh, wenigstens nicht mehr in der alten Lagerhalle auf der stinkenden Matratze schlafen zu müssen, sondern wieder in Monikas Wohnung zu sein, nachdem Monika und Ede inzwischen auch nicht mehr davon ausgingen, dass überhaupt nach ihnen gesucht wurde. Zwar wusste Holger nicht, welche Kontakte Monika geflüstert hatten, dass sie zumindest vorerst außer Gefahr waren. Doch er durchschaute ohnehin nicht ganz das Netz an Eingeweihten, Sympathisanten oder irgendwelchen Linken, die Tipps an die Gruppe gaben und sich doch andererseits so weit davon fernhielten, dass man ihnen von behördlicher Seite nicht würde beikommen können. Immer wieder hatte Holger das ungute Gefühl, dass hinter seinem Rücken über ihn gesprochen wurde, was er vor allem an den Fragen merkte, die Monika ihm stellte und die sich darum drehten, wo er gewesen war und mit wem er geredet hatte. Schlimmer war jedoch der Druck, den Hellwig auf ihn ausübte, hatte dieser ihm doch inzwischen mehrfach zugesetzt, weil er einfach keine brauchbaren Informationen lieferte. Ganz konkret war es um einen Vorfall von vor zwei Wochen gegangen, als Holger tatsächlich bei einem Treffen dabei gewesen war und einige Namen von Personen und Orten aufgeschnappt, diese aber nicht an Hellwig weitergegeben hatte. Kurz darauf hatte Hellwig ihn abgefangen, von zwei Kerlen zusammenschlagen lassen und ihm dann gedroht, dass er die Vereinbarung aufheben und Holger nun doch wegen des Mordes an Gerhard Lohmüller vor Gericht bringen werde. Hellwig hatte ihm auf den Kopf zugesagt, dass er genau wisse, dass er bei dem Treffen dabei gewesen war und ihm somit Informationen vorenthalten hatte. Holger hatte nicht die Kraft gehabt, aufzubegehren und ihm ins Gesicht zu brüllen, dass er ihn doch gar nicht bräuchte, wenn er auch von anderen erfuhr, was er wissen wollte. Auch die Tage darauf hatte er Hellwig immer wieder einmal gesehen. Auf der anderen Straßenseite, in einer Fensterscheibe, einfach überall, wo Holger war, schien auch dieser Kerl vom Staatsschutz zu sein, und Holger spürte, dass er ihm endlich etwas liefern musste, wollte er nicht zurück ins Gefängnis und dort den harten Jungs zum Fraß vorgeworfen werden. So hatte er vor gut einer Woche das erste Mal alles, was er aufgeschnappt hatte, an Hellwig weitergegeben und gehofft, dass dieser ihn nun erst einmal für eine Weile in Ruhe lassen würde. Er hatte ja selbst überhaupt nicht begriffen, was die Namen, Zahlen und Deckwörter, die er Hellwig übermittelt hatte, bedeuten sollten. Doch tatsächlich glaubte er, dass etwas vor sich ging, weil innerhalb der Gruppe eine große Unruhe herrschte und immer wieder der Begriff Big Raushole fiel und in diesem Zusammenhang auch davon die Rede war, wie es mit der Margarine gelaufen sei. Holger konnte sich auf so ziemlich nichts von alledem einen Reim machen, und im Grunde wollte er es auch nicht. Doch er hatte mitbekommen, dass die nächsten geplanten Anschläge offenbar unmittelbar bevorstanden und auch, dass eine Großoffensive für den Herbst geplant war. Die Details kannte er jedoch nicht.
»Steh auf!«, hörte er nun Monikas Stimme und öffnete verschlafen ein Auge, dann erhielt er einen Tritt. »Steh auf, hab ich gesagt, und mach, dass du rauskommst!«
Holger versuchte, richtig wach zu werden, was ihm jedoch bei der Menge an Alkohol und Gras, die er intus hatte, alles andere als leichtfiel.
Wieder erhielt er einen Tritt, diesmal fiel er noch schmerzhafter aus.
»Was’n los?«, hörte er sich selbst lallen, noch immer bemüht, sich aufzurichten.
»Was los ist? Du bist ein verdammter Spitzel, das ist los.«
Holger setzte sich auf. »Was?« Er rieb sich die Augen und sah sie entgeistert an.
»Du hast uns verpfiffen.« Sie stand breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihm.
»Ich habe niemanden verpfiffen«, gab er zurück. »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest.«
»Du kannst froh sein, dass die anderen noch nicht da sind. Verpiss dich, Holger! Und wag ja nicht, dich hier je wieder blicken zu lassen!«
»Hey, jetzt ist aber genug.« Er stand auf. »Was soll denn der Scheiß hier?« Er fasste ihre Schultern.
»Rühr mich ja nicht an! Nie wieder. Und jetzt raus!«
»Kannst du mir mal erklären, was los ist?«
»Ein Vögelchen hat den Bullen was geflüstert«, zischte sie. »Und das kann niemand außer dir gewesen sein. Und außerdem«, sie stieß ihn mit der Hand gegen die Brust, »haben wir auch ganz gute Kontakte. Und einer von denen hat uns gesteckt, dass die Sache bei Lohmüller nur deshalb unter den Tisch gekehrt wurde, weil du jetzt für die Bullen arbeitest und uns alle hier hochnehmen willst.«
»Das ist totaler Blödsinn!«, schnauzte Holger. »Keine Ahnung, wer dir diesen Schwachsinn erzählt hat. Doch ich habe nichts gemacht.«
»Ach nein? Also hast du auch keine Vereinbarung mit Achim Hellwig, nein?«
Als Holger den Namen hörte, zuckte er zusammen.
Monika schüttelte den Kopf. »Du elender Scheißkerl!«, brüllte sie ihn an, machte einen Schritt vor und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.
»Du musst mich verstehen«, jammerte Holger. »Ich habe euch nicht verraten, niemanden habe ich verraten. Ich wollte nur aus dem Gefängnis raus, wollte wieder bei dir sein. Ich habe nur gesagt, dass ich spitzeln würde, doch ich hab’s nicht gemacht. Das schwöre ich dir.« Er fiel vor ihr auf die Knie. »Du musst mir glauben, bitte!« Er streckte ihr die Hände entgegen wie zum Gebet. »Bitte, glaub mir. Ich mache alles, wirklich alles. Soll ich jemanden kaltmachen oder einen Sprengsatz werfen? Sag mir, was ich tun soll. Bitte.«
Sie schüttelte nur den Kopf.
»Bitte, Moni, für uns, für unser Kind. Bitte!«
»Pfff«, machte sie und schüttelte erneut den Kopf. »Du warst in letzter Zeit so zugedröhnt, dass du nicht mal gemerkt hast, dass ich nicht mehr schwanger bin«, stieß sie voller Verachtung hervor.
Holger hatte das Gefühl zu erstarren. »Was sagst du da?« Er blickte auf ihren Bauch. Man hatte ihr die Schwangerschaft die ganze Zeit über nicht angesehen. Er dachte, das wäre normal und käme wohl noch.
»Ich hab’s schon wegmachen lassen, als sie dich verhaftet haben. Und du hast es nicht mal gemerkt.«
Holgers Magen krampfte, er würgte, rappelte sich hoch und rannte zum Klo, wo er sich minutenlang übergab. Dann ließ er sich völlig entkräftet auf den kalten Fliesenboden sinken. Sein Körper begann unkontrolliert zu zittern, und wieder zog sein Magen sich zusammen. Holger stemmte sich so weit hoch, dass er sein Gesicht über die Kloschüssel hielt, dann erbrach er sich erneut und ließ sich danach wieder auf den Boden fallen.
»Bist du fertig?«, fragte Monika genervt. »Dann mach jetzt, dass du rauskommst!«
Holger weinte bitterlich, rollte sich ein wie ein Fötus.
»Hast du nicht gehört? Du sollst dich verpissen!«, fauchte sie, doch Holger rührte sich nicht.
Einen Moment blieb sie in der Tür stehen, dann verschwand sie.
»Wenn du jetzt nicht endlich abhaust, knall ich dich ab.« Holger hörte ein Klicken und sah zu Monika hoch. Sie hielt eine Waffe auf ihn gerichtet, die sie gerade spannte.
Holger schluckte, sah Monika an. Er fühlte sich kraftlos, und kurz dachte er, dass es eine Erlösung sein könnte, wenn sie wirklich abdrückte. Doch dann ging eine Regung durch seinen Körper, und er stand mühsam auf.
»Du hast unser Kind umgebracht«, stellte er tonlos fest.
»Und gleich bist du dran, wenn du jetzt nicht verschwindest.«
»Ich beweise dir, dass ich euch nicht verraten habe. Ich beweise es.«
»Raus!«
Holger setzte sich in Bewegung, schleppte sich in den Flur, griff seine Schuhe und drückte die Klinke der Wohnungstür.
»Ich werde es dir beweisen«, sagte er abermals, da erhielt er von Monika einen Stoß und stolperte in den Hausflur. Knallend schlug sie die Tür hinter ihm zu.
Einen Moment lang stand er da, barfuß und nur mit T-Shirt und Jeans bekleidet. Seine Jacke war in der Wohnung. Doch noch mal zurückgehen würde er nicht. Holger setzte sich auf die oberste Stufe und zog seine Schuhe über die nackten Füße, dann ging er die Treppen hinunter. Er trat auf die Straße und verharrte kurz, dann wandte er sich nach links und stolperte mehr, als er ging, über den Gehweg. Sein Blick fiel auf zwei Männer, die in einiger Entfernung standen und zu ihm herüberzusehen schienen. Waren das zwei von Hellwigs Männern? Oder Freunde von Ede, die Monika den Tipp gegeben hatten? Holger hob die Hand und streckte ihnen die Faust entgegen, was diese jedoch entweder nicht sahen oder einfach ignorierten. Fast wäre Holger mit einem Passanten zusammengeprallt, als er weiterging und noch immer zu den Männern hinüberblickte. Nur kurz berührte dieser ihn am Arm.
»Pass doch auf!«, schimpfte der Mann, worauf Holger erschrocken zurückwich. Er blickte auf die Stelle an seinem Arm, wo er und der Passant sich berührt hatten. Hatte er einen Stich wahrgenommen? Holger schob rasch den T-Shirt- Ärmel höher, prüfte, ob dort womöglich ein Einstich war. Hatte man ihn soeben vergiftet? Er konnte nichts entdecken, doch vielleicht war die Nadel so dünn gewesen, dass die Einstichstelle nicht zu erkennen war. Er sah wieder zur anderen Straßenseite, die Männer waren verschwunden. Doch wohin? Holger drehte sich um seine eigene Achse, dann rannte er los.
Immer wieder rempelte er gegen andere Fußgänger, versuchte auszuweichen und schürfte einige Male an den Hauswänden entlang, wenn er den Abstand falsch einschätzte. Er wusste nicht, wie lange er lief, wusste nicht, wo er war. Ihm war nur immer wieder, als würde er verfolgt, Gesichter tauchten auf und verschwanden wieder, sein Herz schien ihm aus der Brust springen zu wollen.
Irgendwann, er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, fand er sich vor dem Haus in der Holsteinischen Straße wieder, in dem seine Mutter wohnte. Er hielt auf den Eingang zu, klingelte wieder und wieder. Doch niemand machte ihm auf. Was hatte sie noch gesagt, als sie sich zuletzt gesprochen hatten? Wollte sie nicht irgendwohin? Nach Sylt, genau, jetzt fiel es ihm ein. Und den Schlüssel hatte sie irgendwo für ihn deponieren wollen, ja, das hatte sie gesagt. Aber wo? Er versuchte sich zu erinnern, schlug sich mehrmals gegen den Kopf, als würde dies irgendetwas nützen. Er trat ein paar Schritte zurück, drehte sich um. Ein junges Paar schob einen Kinderwagen in unmittelbarer Nähe auf dem Gehsteig entlang. Holger überlief eine Gänsehaut. Waren das zwei von der RAF , und in dem Kinderwagen lag ein Maschinengewehr? Holger machte eine hastige Bewegung, versuchte sich zu verstecken. Die Frau blickte zu ihm herüber, dann unterhielt sie sich wieder mit ihrem Mann. Ja, sie taten so, als würden sie einfach nur spazieren gehen. Doch Holger durchschaute sie, er durchschaute sie alle. Alle wollten ihm ans Leder.
»Geht weg!«, brüllte er den beiden zu, die hierauf erschrocken rübersahen und nun ihren Schritt beschleunigten. Holger verharrte einen Moment in geduckter Haltung, fürchtend, dass das Paar jeden Augenblick zurückkäme und das Feuer auf ihn eröffnete. Ja, sie würden versuchen, ihn abzuknallen, genau wie sie es mit Buback gemacht hatten.
Er wartete noch eine Weile, doch offenbar waren die zwei mit dem Kinderwagen einfach nur weitergegangen. Holger setzte sich auf die kleine Mauer rechts neben dem Eingang. Wo hatte seine Mutter den verdammten Schlüssel hingetan? Er sah sich um. Der Oleandertopf, natürlich! Er stand auf, hob den Tontopf an, unter dem nun der Schlüssel zum Vorschein kam. Holger ergriff ihn, betrat das Haus und dann die Wohnung. Als er die Tür hinter sich zudrückte, atmete er erleichtert aus.
»Hallo? Ist jemand hier?«, rief er. Schließlich hätte es sein können, dass Hanna da war. Doch offenbar war auch das nicht der Fall. Kurz stellte sich so etwas wie Erleichterung ein, dann überkam ihn ein eigenartiges Kribbeln, und er ging schnell hinter der Tür weg. Wenn man dort hindurchschießen wollte, wäre das kein Problem. Vielleicht würde nicht gleich die erste Kugel das Holz durchschlagen, doch mit einem halb automatischen Gewehr, genau wie sie’s bei Buback benutzt hatten, wäre es kein Problem, sich in Kürze Zutritt zu verschaffen. Holger ging in die Küche, sah vorsichtig aus dem Fenster. Nur ganz kurz, damit man ihn von unten nicht ausmachen konnte. Alles schien ganz normal. Doch er wusste, dass sie da draußen waren und auf ihn lauerten. Was sollte er jetzt tun?
Er musste unbedingt mit Hellwig sprechen. Er hatte ihn in diese Lage gebracht. Nur seinetwegen war Monika wütend auf ihn und hatte ihn rausgeworfen. Und hätte er Holger nicht verhaftet, hätte sie auch die Abtreibung nicht gemacht. Hellwig war an allem schuld, nur er und niemand sonst.
Holger öffnete den Kühlschrank und nahm die halb volle Flasche Wein heraus, die darin stand, setzte sie an und trank direkt aus der Flasche. Er rülpste, setzte erneut an. Dann nahm er sich das Stück Käse, das dort lag, und biss ein großes Stück davon ab.
Immer abwechselnd trank und aß er, setzte sich, stand wieder auf und sah aus dem Fenster. Er fühlte sich wie ein gefangenes Tier im Käfig, wollte raus. Er wollte zu Monika, mit ihr sprechen und sie um Verzeihung anflehen. Doch er wusste, dass sie ihn so nicht anhören würde. Er musste etwas leisten, musste beweisen, wozu er fähig war, um einer von ihnen zu sein. Doch was sollte er tun?
Die Gedanken kreisten wieder und wieder, ohne dass er zu einer Lösung kam. Irgendwann schloss er den Kühlschrank, ließ den angebissenen Käse auf dem Küchentisch liegen und wankte ins Wohnzimmer. Er würde sich nur ein bisschen ausruhen, dann käme ihm eine Idee, wie er alles wieder ins Lot bringen konnte.
Ihm war eiskalt, als er sich auf die Couch fallen ließ, sodass er nach der Wolldecke griff und sich diese bis über den Kopf zog. Einfach nur schlafen, an nichts mehr denken. Wenigstens für einen Moment.
Als Holger wieder aufwachte, war es draußen dunkel geworden und in der unbeleuchteten Wohnung kaum etwas zu erkennen. Mühsam richtete er sich auf und ging zum Klo. Als er fertig war, ging er wieder in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Durch den Lichtschein sah er jetzt auch wieder den Käse, den er auf dem Tisch hatte liegen lassen. Doch er hatte keine Lust, diesen noch weiter zu essen. Und auch sonst gab dieser Kühlschrank kaum etwas Essbares her, zumindest nichts, worauf er Appetit hatte. Obst hätte er essen können, und das Gemüsefach war voller Karotten. Pah! Das war doch kein Essen. Er knallte die Kühlschranktür so heftig zu, dass die Wasserflaschen in der Tür klapperten. Dann öffnete er alle Schränke, nahm sich schließlich Kekse heraus und noch einen Rotwein, den er öffnete und auch diesen wieder direkt aus der Flasche trank.
Dann kehrte er zurück ins Wohnzimmer, blickte zunächst aus dem Fenster auf die nur durch eine Laterne beleuchtete Straße, auf der kein Mensch zu sehen war, schaltete dann das Fernsehgerät ein und setzte sich auf die Couch. Die Kekse waren schnell verputzt, und auch der Wein bald geleert, doch Holger hatte keine Lust, jetzt wieder aufzustehen und noch nach irgendetwas anderem zu suchen. Er deckte sich wieder zu und sah zum Fernseher, ohne dass er hätte sagen können, was dort lief. Schließlich schlief er wieder ein und wachte das nächste Mal auf, als bereits Tag war.
Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren, dann stand er auf, schaltete den Fernsehapparat, aus dem nur noch weißes Rauschen kam, aus und ging ins Bad. Er war froh, ein paar frische Sachen im Schlafzimmer seiner Mutter zu haben, sodass er sich nun umzog, um dann zu überlegen, was er als Nächstes tun sollte. Er spürte, dass er etwas in der Tasche hatte, offenbar einen Zettel, den er nun herauszog und darauf blickte. Es war die Visitenkarte von Achim Hellwig, die dieser ihm an dem Tag nach seiner Verhaftung gegeben hatte. Holger überlegte. Er würde mit Hellwig reden müssen und ihn überzeugen, dass er seinen Namen reinwusch. Hellwig musste ihm helfen, damit Holger Monika seine Unschuld beweisen könnte. Hellwig war schuld an dem ganzen Schlamassel, also musste er ihn jetzt auch wieder da rausholen.
Er wählte die Nummer und wartete.
»Hallo?«
»Hallo, hier spricht Holger, Holger Borchardt.«
»Bist du verrückt, mich hier anzurufen?«, zischte Hellwig.
»Sie haben mir doch Ihre Karte gegeben.«
»Das war, bevor du für uns eingestiegen bist. Ich leg jetzt sofort auf.«
»Nein!«, rief Holger. »Wir müssen uns treffen.«
»Warum? Hast du was für mich? Bring es in den Schuppen, wie vereinbart.«
»Ja, ich hab was«, log Holger. »Wir müssen uns treffen.«
»Du spinnst wohl!«
»Entweder wir treffen uns, oder Sie kriegen nichts«, stellte Holger klar.
»Verdammter Idiot. Na gut. Du kennst doch die Schenke Tarantel ?«
»Ja, kenn ich.«
»Komm in zwei Stunden dorthin.«
»In Ordnung«, stimmte Holger zu, und sofort legte Hellwig auf.
Zwei Stunden. Bis dahin würde Holger einen Plan haben müssen, was er von Hellwig fordern und Monika liefern konnte, damit er sie zurückgewann. Vielleicht könnte er versuchen, ihr weiszumachen, dass es genau anders herum war. Dass Hellwig ihn als Spitzel haben wollte, er jedoch falsche Informationen an diesen gegeben hätte, um den Staatsschutz in die Irre zu führen. Oder aber, dass er gar nicht wusste, wer Hellwig war, und dieser es mit Absicht so hatte aussehen lassen, dass sie sich kannten. Oder … nein, seine Gedanken drehten sich schon wieder im Kreis. Zwei Stunden. Dann musste er etwas haben. Vorher nicht.
Holger war zu früh. Außer ihm saßen nur zwei Männer an einem Tisch und aßen offenbar zu Mittag. Sie beachteten ihn aber gar nicht, und der Typ hinter der Bar, den Holger etwas älter schätzte als sich selbst, polierte gerade ein paar Gläser und grüßte nur kurz, als Holger die Schenke betrat.
Er setzte sich in die hinterste Ecke an einen Tisch, von wo aus er den Eingang im Auge hatte und sich niemand unbemerkt an ihn ranschleichen konnte. Denn auf dem Weg hierher war es ihm fast genauso gegangen wie gestern, als er das Gebäude verlassen hatte, in dem Monika wohnte. Er glaubte, nein, er wusste, dass er verfolgt wurde. Überall schien irgendjemand auf ihn zu lauern, und er hatte das Gefühl, dass es sich hierbei nicht um Polizisten, sondern um RAF -Leute handelte, die ihn als Verräter ausgemacht hatten und ihm nun als Leder wollten. Hellwig musste ihm da raushelfen, er hatte gar keine andere Wahl. Schließlich würde Holger ihm sonst überhaupt keine Informationen mehr liefern können, wenn er nicht die Möglichkeit hätte, in die Szene zurückzukehren, um dort die Augen und Ohren offen zu halten. Und wenn er das tat, musste er etwas haben, was er Monika und ihren Leuten anbieten konnte, etwas richtig Gutes. Dann könnte immer noch alles gut werden und Monika und er zusammen sein. Und irgendwann – vielleicht – würde sie wieder schwanger werden. Das war doch möglich.
Holger bestellte sich ein Bier, das er eilig wegtrank. Noch bevor er den letzten Schluck nahm, orderte er ein weiteres.
Holger reckte den Hals, als ein Mann mit Baseballcap die Schenke betrat, glaubte aber zunächst nicht, dass es Hellwig sei. Doch beim genaueren Hinsehen erkannte er den Mann vom Staatsschutz, stand auf und hob den Arm. Hellwig beeilte sich, an den Tisch zu kommen, und zischte:
»Setz dich gefälligst hin, du verdammter Idiot!«, worauf Holger sich wieder auf seinen Stuhl plumpsen ließ.
»Warum? Wissen Sie was? Die sind hinter mir her, oder?«
»Mensch, nun atme mal durch. Wer soll hinter dir her sein?«
Holger trank hastig einen Schluck, worauf Hellwig dem Barkeeper ein Zeichen gab, ihm ebenfalls ein Bier zu bringen.
»Na, die eben«, flüsterte Holger. »Meine Freundin hat mich rausgeschmissen, und sie hat Ihren Namen genannt.«
»Meinen Namen?«
»Ja, Vor- und Zunamen«, betonte Holger und lehnte sich etwas zurück. »Na, was sagen Sie nun?«
Hellwig überlegte kurz.
»Mein Name ist bekannt«, stellte er fest. »Das war nur ein Test, und du bist drauf reingefallen.«
»Nein, so war das nicht. Sie wusste von Ihnen und welche Rolle Sie spielen. Wirklich«, versicherte Holger.
Hellwig überlegte abermals, dann schüttelte er den Kopf.
»Dass ich Ermittler bin, ist bekannt. Und die können sich auch vorstellen, dass ich mit dir gesprochen habe. Ich habe schon mit den meisten von denen geredet, das ist keine große Sache.« Er blinzelte einige Male, dann schüttelte er den Kopf. »Du gehst zurück«, entschied er dann.
»Das will ich ja auch. Doch ich muss denen was geben, womit ich ihr Vertrauen zurückgewinnen kann.« Holger deutete nach draußen. »Die verfolgen mich. Echt jetzt. Ich brauche eine Waffe.«
Hellwig gab einen verächtlichen Laut von sich. »Du willst eine Waffe?« Er tippte sich an die Stirn. »Das kannst du vergessen, Freundchen.«
»Verdammt noch mal, die machen mich kalt.«
»Eben sagtest du noch, du willst zu denen zurück.«
»Will ich auch. Also zu Monika will ich zurück. Doch erst mal muss ich aufpassen, dass ich nicht abgeknallt werde. Wenn ich aber was habe, was ich denen liefern kann, dann würde sich die Sache wieder beruhigen.«
»Und an was denkst du?«
»Irgendwas, das die wissen wollen, etwas, das wichtig für sie ist.«
Hellwig trank einen Schluck Bier. »In Ordnung, ich überleg mir was und melde mich.«
»Und die Knarre?«
»Noch mal, Holger. Du kriegst keine und damit basta. Und ruf mich nicht noch mal an, hörst du? Ich lasse dir über den Schuppen eine Nachricht zukommen.«
»Wann?«
»So schnell wie möglich.«
»Ich muss was unternehmen, Hellwig. Je länger ich warte, desto eher können die sich etwas für mich überlegen, weil sie dann sicher sein können, dass ich ein Verräter bin.«
»Ich melde mich so schnell wie möglich«, versprach Hellwig erneut und trank noch einen Schluck. »Und du rufst mich nicht noch mal an, hörst du?«, schärfte er Holger nochmals ein. »Unsere Kommunikation läuft über den Schuppen.«
»Okay, verstanden.« Holger nickte.
Hellwig stand auf und ging an den Tresen. »Hier«, sagte er und ließ dem Barkeeper einen Schein zukommen. »Für mich und für ihn. Stimmt so.«
»Danke«, gab dieser nur zurück.
Hellwig drehte sich noch einmal zu Holger um und zog seine Cap noch tiefer ins Gesicht. Dann verließ er ohne ein Wort des Abschieds die Schenke.
Holger sah auf das noch halb volle Bier, das Hellwig hatte stehen lassen, setzte es an und trank es in einem Zug leer. Dann verließ auch er das Lokal und machte sich auf den Weg zurück in die Holsteinische Straße.
Die nächsten Stunden blieb er dort, aß das, was sich noch im Kühlschrank befand, und leerte eine weitere Flasche Wein. Insgesamt viermal ging er im Verlauf des Nachmittags nach unten zum Schuppen, schloss auf und prüfte, ob dort eine Nachricht für ihn lag. Doch das war nicht der Fall, sodass er jedes Mal enttäuscht und noch unruhiger als zuvor in die Wohnung zurückkehrte.
Es war gegen kurz nach zehn am Abend, als er zum wiederholten Male in Hannas Zimmer ging, da er von dort aus den Weg zum Schuppen einsehen konnte. Er zuckte zusammen, weil er glaubte, im Dunkeln eine Gestalt dort ausgemacht zu haben. Sofort trat er zur Seite, blieb aber in unmittelbarer Nähe des Fensters stehen. Einen Moment lang wartete er, dann sah er erneut nach. Er konnte nichts mehr entdecken, alles war ruhig, und nichts bewegte sich.
Holger griff sich den Schlüssel und machte sich abermals auf zum Schuppen. Immer wieder sah er sich um, als er nach draußen trat, dann schlich er vorsichtig hinüber und holte den Schlüssel hervor. Er zögerte, als er feststellte, dass das Schloss abgenommen worden war. Hatte der Bote es eilig gehabt, sodass er vergessen hatte, es wieder anzubringen? Holger sah auf den Boden, doch runtergefallen schien es nicht zu sein. Vielleicht war es drinnen? Er trat ein und spürte eine unglaubliche Erleichterung, als er sah, dass dort im Karton eine Nachricht lag. Holger nahm den Zettel und trat wieder ins Freie, drückte die Tür zu und kehrte zurück ins Haus. Hier war es ohnehin zu dunkel, um die Nachricht lesen zu können. Als er in den Hausflur trat, betätigte er den Lichtschalter und entfaltete den Zettel.
Grunewald – Krumme Lanke – Sofort . Das war alles, was dastand.
Holger überlegte. Von hier bis zur Krummen Lanke im Grunewald waren es gute sieben, vielleicht sogar acht Kilometer. Seinen Wagen hatte irgendwer aus der Szene, und zu Fuß würde er eine Ewigkeit brauchen. Er dachte an die Fahrräder, die unten im Keller standen. Bestimmt waren die unverschlossen, hatten doch nur Hausbewohner dort Zutritt.
Holger lief die Stufen wieder hinab und schaltete das Licht im Keller ein. Dort standen hübsch aufgereiht insgesamt sechs Fahrräder. Holger prüfte bei dem vorn stehenden Herrenrad die Reifen. Sie waren prall gefüllt, was Holger schmunzeln ließ. Ja, deutsche Gründlichkeit und Ordnung waren doch etwas Herrliches.
Er griff sich das Rad, trug es hinten aus dem Fahrradkeller heraus, setzte sich drauf und fuhr los. Holger trat kräftig in die Pedale, und nach etwa einer Viertelstunde war er schon gewaltig am Keuchen. Er brauchte noch mal gut weitere zehn Minuten, bis er den Grunewald erreichte. Ab dort schob er das Fahrrad, da er nicht genug sehen konnte und keine Lust hatte, über den Lenker abzusteigen.
Bei der Krummen Lanke angekommen, überlegte er kurz, wohin er sich wenden sollte. Schließlich war der See mehr als einen Kilometer lang, und jetzt im Dunkeln konnte man nicht allzu weit gucken. Er entschied sich, bei der Badestelle zu warten, war dies doch für Berliner vor allem der Ort, den sie mit der Krummen Lanke verbanden.
Holger setzte sich auf den quer liegenden Baumstamm und wartete. Der Mond glitzerte auf dem Wasser, und jetzt am Abend, wo niemand sonst hier war, hatte der See etwas unglaublich Friedliches. In einigen Wochen, wenn es warm genug war, tummelten sich hier um diese Zeit etliche Pärchen, sodass man sich blöd vorkam, wenn man allein aufkreuzte. Doch jetzt empfand Holger es wie ein kleines Geschenk, einfach hier sitzen zu können und zu warten in der Hoffnung, dass Hellwig selbst oder einer seiner Leute gleich käme und ihm hoffentlich eine gute Geschichte lieferte, die glaubhaft genug war, um damit die anderen zu überzeugen.
Holger nahm ein Geräusch wahr, und als er sich in die Richtung drehte, aus der er soeben selbst gekommen war, auch einen Umriss. Holger stand auf und ging der Gestalt entgegen. Dann verharrte er jedoch, als er die Waffe sah, die auf ihn gerichtet wurde. Holger hob die Hände.
»Ich bin unbewaffnet«, stammelte er.
»Ja, ich weiß!«
Dann fiel der Schuss, und Holger brach zusammen. Der Schmerz in seinem Bauch schien ihn zu zerreißen. Holger sah Monika vor sich, Hanna, seine Mutter, Thomas. Alle Menschen, die ihm je etwas bedeutet hatten. Er wollte hier nicht elendig krepieren. Er hatte doch immer etwas erreichen wollen, Gutes tun, sich für andere einsetzen. Was war nur schiefgegangen?
Er krümmte sich, blickte auf und sah erneut in den Lauf der Waffe. »Bitte«, brachte er noch hervor, dann durchbrach ein weiterer Knall die abendliche Stille im Berliner Grunewald. Und Holgers Leben endete noch vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag.