25. Kapitel

Retsif HaAliya HaShniya, am Hafen von Jaffa,

Sonnabend, 11. Juni 1977

Ich bin bereit, mein altes Leben gegen mein neues einzutauschen, und hoffe, diesen Schritt niemals zu bereuen.

LEA STERN

Genau einen Monat war sie nun hier in Jaffa, und sie hatte die Zeit wie in einem Rausch erlebt. Ein Rausch voller Sinnlichkeit und tiefgründiger Gespräche. Sie war bei ihr, bei Rachel, die beiden sahen sich Tag und Nacht. Und die wenige Zeit, die Rachel für ihre Arbeit als Journalistin benötigte, verbrachte Lea allein mit ihrer Mutter, wenngleich sie sich eingestehen musste, dass das Zusammenleben mit dieser sie manchmal vor Herausforderungen stellte.

Lea war nicht dafür gemacht, sich um die körperlichen Bedürfnisse anderer zu kümmern. Selbst wenn sie nicht den Club gehabt hätte und damit kein Leben, in dem sie die Nacht zum Tag machte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, Kinder großziehen zu wollen. Pflegerische Dienste lagen ihr nun mal einfach nicht. Wie behandelte man einen Menschen, wenn er Hilfe brauchte? Wie tröstete man? Es schien ihr, als hätte sie all das verlernt, wenn sie es denn jemals beherrscht hatte.

Doch Lea hatte sich mit der Situation arrangiert, wenngleich sie manchmal das Gefühl hatte, dass ihre Mutter in gewissen Situationen weit lieber Rachel um sich gehabt hätte als ihre eigene Tochter, was Lea ihr nicht einmal übel nahm. Elana spürte ja sehr genau, dass das, was für Rachel ganz und gar selbstverständlich schien, Lea Überwindung kostete, wohl auch deswegen, weil diese einfach eine andere Einstellung hatte. Sie würde es für sich selbst nicht wollen, für Dinge, die sie durchaus allein verrichten konnte, andere in Anspruch zu nehmen. Für Lea war das Verhalten ihrer Mutter oftmals einer gewissen Bequemlichkeit geschuldet, und sie hielt es für falsch, diese auch noch zu unterstützen, während Rachel oftmals schon zu ahnen schien, was Elana begehrte, und sich sogleich anschickte, ihre Wünsche zu erfüllen.

Es gab Momente, da hatte sie das Gefühl, als störte sie die Zweisamkeit, die Rachel und Elana teilten. Doch es war keine Eifersucht, die sie empfand, sondern sie war einfach der Meinung, dass Rachel es mit ihrer Fürsorge übertrieb und Elana dies nur allzu gern annahm.

Aber es gab auch die andere Seite, die leichte, wenn Lea sich während der Tagesstunden zum Hafen begab, um sich dort in dem bunten Geschehen treiben zu lassen. Und dann am Abend, wenn sie zu dritt gegessen und danach noch zusammen einen Spaziergang gemacht oder ein Glas Süßwein getrunken hatten, brachen diese besonderen Stunden an, die für Lea berauschender und intensiver waren als alles, was sie bisher erlebt hatte. Und auch Rachel hatte ihr gesagt, dass sie in den letzten Wochen so glücklich gewesen war wie wohl nie zuvor in ihrem ganzen Leben.

Auch jetzt saßen sie noch zu dritt draußen auf der Terrasse und unterhielten sich, erfüllt von Leichtigkeit und Glück, ihre Erinnerungen, Wünsche und Träume zu teilen.

»Möchte noch jemand Wein?«, fragte Lea und erhob sich.

»Ich gerne noch«, antwortete Rachel, während Elana den Kopf schüttelte und sagte: »Ach nein, mein Schatz, danke. Ich denke, es wird langsam Zeit für mich.«

Lea ging an Rachels Stuhl vorbei und berührte in einer zärtlichen Geste deren Nacken, beugte sich herunter und umarmte sie.

»Ach, ihr zwei, ihr seid wirklich wie Schwestern«, bemerkte Elana gerührt.

»Nicht wie Schwestern, Mama«, korrigierte Lea in liebevollem Ton, worauf Rachel sie hastig von sich schob und abrupt aufstand.

»Ich habe ja ganz vergessen, meine Wäsche noch aufzuhängen«, stammelte sie.

»Wie bitte?« Lea machte einen Schritt rückwärts. Ihr war, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten.

»Ja«, stieß Rachel verlegen hervor, »ich muss rüber. Wir sehen uns morgen, okay?«

Elana sah von Rachel zu Lea und wieder zurück.

»Stimmt etwas nicht?«

»Aber nein, Elana, es ist alles in Ordnung. Du kennst das ja. Wenn die Wäsche zu lange nass herumliegt, ist es später so schwierig, sie noch glatt zu bekommen«, versuchte sich Rachel an einer Erklärung.

Lea schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Was redete Rachel da nur?

»Nun ja, dann gehen wir wohl am besten schlafen«, meinte Elana. »Könntest du mich noch raufbringen, Lea?«

»Sicher«, stimmte sie zu.

»Gute Nacht.« Rachel schob sich an Lea vorbei, beugte sich dann zu Elana hinunter und gab ihr einen raschen Kuss. »Wir sehen uns ja dann morgen.«

»Gute Nacht«, gab Elana zurück, stand ebenfalls auf, und zusammen gingen die drei hinein. Rachel griff ihre Schlüssel, die wie immer auf dem Flurtischchen lagen, dann war sie auch schon zur Haustür raus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

»Rachel hatte es aber wirklich sehr eilig«, wunderte sich Elana, worauf Lea nur nachdenklich nickte, ohne ein Wort zu erwidern. Dann brachte sie ihre Mutter die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer, sagte ihr ebenfalls gute Nacht und verließ den Raum. Langsam, fast schon zaghaft, stieg sie die Stufen hinab ins Erdgeschoss, legte sich ihr Tuch um die Schultern, nahm ihre Schlüssel, ging zum Nachbarhaus und klingelte.

Es dauerte einen Moment, bis die Tür geöffnet wurde.

»Komm rein«, sagte Rachel nur und machte sogleich kehrt, worauf Lea das Haus betrat, in dem sie seit ihrer Ankunft hier jede Nacht verbracht hatte, drückte die Tür hinter sich ins Schloss und blieb abwartend stehen.

»Es tut mir so leid«, stieß Rachel hervor, der augenblicklich die Tränen kamen. »Ich habe einfach Panik gekriegt.«

»Aber weshalb?«, fragte Lea. »Ich meine, irgendwann muss sie es doch sowieso erfahren, und je länger wir damit warten …«

»Warum?«, fiel Rachel ihr ins Wort. »Warum muss sie oder irgendwer davon wissen. Das ist doch eine Sache, die nur dich und mich etwas angeht.«

»Weil es keinen Grund für uns gibt, uns zu verstecken«, antwortete Lea, die spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte.

»Aber warum müssen wir es an die große Glocke hängen? Warum können wir nicht so tun, als ob alles ganz normal sei?«

Die letzte Bemerkung traf Lea mitten ins Herz, und einen Moment lang war sie nicht in der Lage, überhaupt noch etwas hierauf zu erwidern.

»Genau das hast du damals auch gesagt«, brachte Lea schließlich mit brüchiger Stimme hervor. »Es ist alles ganz normal. Wir«, sie zeigte erst auf Rachel und dann auf sich selbst, »sind normal. Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssten.«

Rachel schlug die Hände vors Gesicht. »Ich dachte ja, ich könnte es. Ich dachte, dass mir das, was die Leute über mich denken und reden, egal ist. Ich dachte …« Sie brach ab.

»Du willst also gar nicht mit mir leben«, erkannte Lea, und die Worte auszusprechen war für sie wie ein Stich ins Herz.

»Doch«, beeilte sich Rachel zu versichern, »ich will mit dir leben. Natürlich will ich das.« Sie kam auf Lea zu und fasste ihre Hände. »Aber es reicht doch, wenn wir beide es wissen, dass wir uns lieben.«

Lea stand nur da und blickte Rachel an. Sie fühlte eine Trauer in sich, die ihr fast den Atem nahm. Alles war wie damals, es hatte sich nichts geändert. Sie hatten einen Traum geträumt während der Nacht, und das über die ganze Zeit, während Lea nun hier war. Doch nun war die Nacht dem Tag gewichen, und das Licht, das er mit sich brachte, war zu hell, um sich noch der Illusion einer Dämmerung hingeben zu können. Wie hatte sie es nicht sehen können? Sie durchschaute doch sonst jeden Menschen und ahnte seine Schritte voraus. Wie hatte ihr das entgehen können?

»Ich werde noch morgen bleiben, und dann am Montag den ersten Flug nach Berlin nehmen«, kündigte sie an.

»Nein, o nein, bitte«, flehte Rachel. »Tu das nicht, Lea. Bitte verlass mich nicht, verlass uns nicht. Deine Mutter braucht dich.« Sie machte eine Pause. Tränen liefen über ihre Wangen. »Ich brauche dich. Und wer weiß. Eines Tages, wenn die Dinge sich ändern, dann könnten wir …« Rachel brach ab, als sie Lea in die Augen sah.

»Die Zeit mit dir war wunderschön, Rachel, und ich werde sie in meinem Herzen bewahren, solange ich lebe.«

Rachel schluchzte auf, und Lea nahm sie in den Arm und hielt sie.

»Bleib noch diese Nacht. Bitte, nur die eine Nacht.«

Lea lächelte sanft, beugte sich vor und gab Rachel einen innigen Kuss, von dem beide wussten, dass es der letzte sein würde, den sie tauschten. Dann verließ Lea Rachels Haus und blieb einen Moment vor der Haustür ihrer Mutter stehen. Sie blickte auf das Meer, das im Mondlicht schimmerte, atmete tief den salzigen Geruch ein, der von dort herüberströmte. Dann schloss sie auf und ging ins Haus, wissend, dass das hier nie wieder ihre Heimat sein würde.

Zwei Wochen später

Gestern Abend hatte sie mit ihrer Mutter telefoniert, die dann den Hörer an Rachel weitergegeben hatte. Sie hatten miteinander geplaudert. und Rachel hatte noch von dem Arztbesuch berichtet, bei dem sie gestern Elana begleitet hatte. Das Gespräch war freundlich, aber die Oberflächlichkeit, mit der sie sich unterhielten, in jedem Satz spürbar gewesen. Als sie aufgelegt hatten, war da nur ein einziges Gefühl in Lea: Es war vorbei. Die Liebe zu Rachel würde immer da sein und alles überdauern, doch es war nichts als eine glückliche Erinnerung. Wie ein Foto, das man hin und wieder hervorholte und an die schöne Zeit zurückdachte, ehe man es zurück an seinen Platz stellte und sein Leben weiterführte.

Sie würde nur noch einmal in ihrem Leben nach Jaffa reisen, und zwar dann, wenn ihre Mutter gestorben war. Doch auch dann würde sie das, was Rachel und sie miteinander verbunden hatte, nicht mehr aufleben lassen. Dafür war in dem Moment, als Rachel sich erneut nicht zu ihr hatte bekennen wollen, zu viel gestorben. Lea wollte nicht an der Vergangenheit festhalten, wollte sich nicht mehr fragen, was sein könnte. Sie wollte sich nie wieder an einem Irgendwann festhalten. Und ein wenig erleichterte es sie, dieses Kapitel ihres Lebens endgültig abschließen zu können. Ihr Leben war hier in Deutschland, in ihrem Club und mit den Menschen, die ihr am Herzen lagen.

Vor ein paar Tagen war die Beerdigung Holger Borchardts gewesen, und Lea wusste, dass Maria und Hanna eine Weile brauchen würden, den Schmerz hinter sich lassen zu können, der mit dem gewaltsamen Tod des Sohnes beziehungsweise des Bruders verbunden war. Doch sie würden darüber hinwegkommen, wie jeder Mensch auf die eine oder andere Art mit dem leben musste, was das Schicksal ihm aufbürdete. Die Verletzungen würden heilen und das Narbengewebe, das sich bildete, die beiden nur stärker machen. Das war nicht nur ihre feste Überzeugung, sondern auch die Hoffnung, die Lea in sich trug. Und gemeinsam würden sie stark sein, Maria, Hanna und sie selbst, und würden einander stützen. Wie eigenartig die Umstände gewesen waren, die sie drei zusammengeführt hatten – für Lea fühlte es sich an, als steckte ein Plan hinter alledem. Und obwohl sie weder zu Adonai oder einem irgendwie bezeichneten Gott betete, so gab ihr das Gefühl, dass alles am Ende einen Sinn ergab, doch eine große Kraft. Eine Kraft für die Zukunft, eine Kraft zum Weitermachen. Und eine Kraft, aus der Glück entstand, auf welche Weise auch immer man es erlebte.