BIRKENBLUT

W o er mit den Leichenteilen hinwolle.

Die Räder des Eisenbahnwaggons polterten unter ihnen und ließen ihre Beine erzittern. Noch bevor Oskar antworten konnte, machte der Mann eine abfällige Geste und war im nächsten Abteil verschwunden. Als wären es junge Katzen, schob Oskar seine Rucksäcke zusammen, hockte sich in dem überfüllten Abteil neben ihnen auf den Boden und legte schützend seine Arme über sein Gepäck. Nein, Leichenteile waren das ganz sicher nicht. In der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt, waren sie viel mehr das Einzige, was ihn und Karol am Leben erhalten würde. Hoffentlich.

In Kassel musste er umsteigen, dann ein zweites Mal in Stuttgart, bis er müde und hungrig um 14 Uhr 33 in Ulm ankam. An jeder Station hievte er seine drei Taschen aus den Gepäckablagen, zog die Kanister, die Kisten und die beiden Rucksäcke unter den Bänken hervor und zerrte alles Stück für Stück auf den Bahnsteig. Die Menschen gingen an ihm vorbei, manche starrten ihn misstrauisch, andere mitleidig an. Er hörte, wie jemand einen Witz über Gepäck machte. Gepäck , dachte Oskar und stopfte eine herausgefallene Dose Sardinen zurück in einen der Rucksäcke. Wäre ich die Figur in einem Roman, würde man wohl eher von Habseligkeiten sprechen.

Die Ulmer Innenstadt wirkte auf ihn sonderbar still und leer. Der Nachmittag war hell, klar. Einer, an dem man im Park Enten füttern, spazieren oder Eis essen gehen könnte. Oskar schwitzte unter seiner Last. Die Rucksäcke und Taschen hatte er, zwei an jeder Seite, über seine Schultern gehängt, die kleinen Kisten klemmten unter seinen Oberarmen, die Kanister baumelten an weißen, angespannten Fingern. Er kam nur in Trippelschritten voran. Das dadurch entstehende Klappern seiner Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster hallte von den Wänden der zu beiden Seiten dicht gedrängt stehenden Fachwerkhäuser wider. Er schielte nach Händen, die Gardinen beiseiteschoben, und bemühte sich, sanfter aufzutreten und gleichzeitig größere Schritte zu machen, um die professio nelle Aura eines Expeditionsleiters oder Archäologen zu erwecken, dem nur durch einen dummen Zufall sein Gepäck tragender Kuli abhandengekommen war.

Vor einem Schuhgeschäft sah er eine Tageszeitung liegen, die jemand verloren haben musste und die der Wind nachlässig durch blätterte. Oskar wartete auf den richtigen Moment, setzte einen Fuß zwischen die Seiten und beugte sich vor. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er die Meldung gefunden hatte. Dann entdeckte er sie.

»Sieh mal einer an«, murmelte er.

»Gregor Hradetzky gewinnt Rhein-Main-Wettfahrt.«

Das sogenannte Wunderkind hatte die Konkurrenz ein weiteres Mal in die Schranken gewiesen.

»Pff.«

Oskar hob den Blick und betrachtete sein Spiegelbild in der mit Parolen beschmierten dunklen Scheibe des Ladens. Neben dem mit weißer Tünche gepinselten Wort »Itzig« sah er einen schmächtigen, krumm stehenden Kerl, bepackt wie ein Esel, der ihn skeptisch anschaute. Glatt rasiert war sein im Dunkel stehender Zwilling, die Haare zurückgekämmt über einem schlanken Gesicht, angehenden Geheimratsecken und suchenden Augen. Einzig das von seinem Vater geliehene, etwas zu große cremefarbene Hemd mit der blau aufgestickten Krone über dem Herzen strahlte so etwas wie Souveränität aus. Nach dem Hochgefühl und der Aufbruchsstimmung, die Oskar eben noch in sich gespürt hatte, fahndete er in dem Antlitz seines Doppelgängers in der Fensterscheibe vergeblich. Er seufzte und schlurfte langsam, stöhnend weiter. Im gleißenden Sonnenlicht erreichte er eine Eisenbahnbrücke und überquerte die Donau. Sein Magen knurrte, doch er verbot sich, jetzt schon eine der Dosen zu öffnen oder auch nur einen Pfennig der zehn Reichsmark anzutasten. Auf der anderen Seite kam er an einem Schild mit der Aufschrift »Jahnufer« vorbei. Nach zwei hundert Metern ließ er die Taschen fallen und blieb schwer atmend neben dem sandigen Kieselweg auf einer Grasnarbe direkt neben einer Treppe stehen, deren Betonstufen zum Fluss hinunterführten. Er betrachtete die Innenseiten seiner Hände. Sie waren feucht und rosa von den in das Fleisch schneidenden Riemen.

Den Inhalt seiner Taschen, Rucksäcke und Kanister fand er genau so vor, wie er ihn am vergangenen Abend in dem Geräteschuppen in Övelgönne verstaut hatte. Er legte die Bootshaut flach auf den Boden, den Vordersteven daneben, klappte die am Dollbord befestigten Schrägstäbe nach hinten und hängte den Spant in die Bo denleisten und an den Dollbordstäben ein. Schlafwandlerisch küm merte er sich anschließend um die vordere Trittbodenhälfte und schob den ersten Teil des Gerippes in die Haut. Nachdem er mit dem hinteren Teil ähnlich verfahren war, hob, drückte, schraubte und drehte Oskar und kümmerte sich um die Süllränder, bevor er die Trinkwassertanks prüfte und sie mit Reißverschlüssen an den Innenseiten der Segeltuchhaut befestigte.

Er versuchte sich zu beeilen, um vor Einbruch der Dunkelheit noch ein paar Kilometer zurückzulegen, als er bemerkte, dass jemand hinter ihm stand. Ein Junge mit einem Glasauge gaffte ihn vom Kieselweg aus an. Aus dem Mund des Kindes ragte der Stängel eines Lutschers, den er von rechts nach links und wieder zurück wandern ließ.

Als Letztes sicherte Oskar den Sitz mit dem Hakenwinkel. Zwan zig Minuten nachdem er mit der Montage begonnen hatte, lag vor ihm auf dem Rasen neben dem staubigen Uferweg sein einsatzbereites Faltboot, das seine Schwester vor Jahren in einem Anfall sorgloser Einfältigkeit Sonnenschein getauft hatte.

Obwohl er genau wusste, dass dies nicht der Fall war, prüfte er alles noch einmal, um zu sehen, ob er irgendetwas vergessen hatte. Er schritt das fünf Meter vierzig lange Boot ab, beugte sich hier und da über das schmale Modell 540-G und griff in den Einstieg. Plötzlich hielt er inne. Die angenietete Leiste unter dem Trittboden brettchen griff nicht richtig. Sein Sitz würde sich hin- und herbewegen, noch bevor er die erste Brücke passiert hätte.

Der Junge hinter ihm steckte sich einen weiteren Lutscher in den Mund. Beim Aufstehen wurde Oskar schwindelig. Seit der dünn bestrichenen Schmalzstulle, die er sich gestern Abend mit Karol geteilt hatte, hatte er nichts mehr zu sich genommen. Er rieb sich die Nase und ging auf das Kind zu.

»Ich brauch deinen Lutscher.« Er zeigte auf sein Boot. »Nehm dich dafür ’ne Runde mit: bis da vorne und wieder zurück.«

Der Junge schüttelte den Kopf und ließ den Stiel des Lutschers wandern.

»Ist ein Zweisitzer von Pionier. Ich habe es mit einem Freund umgebaut. War ziemlich aufwendig. Hab damit schon Rennen gewonnen.«

Der Kleine warf einen Blick auf das Faltboot, während sein Glasauge gleichgültig die Donau anstarrte. Dann sah er den Fremden an und verneinte stumm.

Oskar fiel Karols Trick mit den Händen ein. Vorsichtig ging er vor dem Jungen auf die Knie.

»Ich mach dir einen Vorschlag. Eine Wette. Wenn ich es schaffe, dir die Hände umzudrehen, ohne sie zu berühren, gibst du mir deinen Lutscher. Wenn ich es nicht schaffe, bekommst du von mir zehn Reichsmark.«

Oskar konnte Karols Schmirgelpapierlachen hören. Er fragte sich, ob seine Mutter und sein Vater es wohl genauso lustig fänden, dass er ihr Geld, seine gesamte Barschaft für die Reise, derart leichtfertig aufs Spiel setzte. Aber mit einem defekten Boot loszufahren kam nicht infrage. Keine halben Sachen.

Er holte zum Beweis den Schein hervor, glättete ihn auf seinem Bein, legte ihn vor die Füße des Kindes auf den Kiesweg und setzte vorsichtig die Spitze seines Schuhs darauf, damit er nicht wegflog. Der Junge zögerte. Er wendete den Lutscher in seinem Mund, schielte einäugig auf das Geld und zog etwas Rotz hoch. Dann nickte er.

»Sehr gut. Die Regeln sind ganz einfach. Alles, was du tun musst, ist, deine Hände vor mir auszustrecken.«

Das Kind gehorchte.

»Nein, nicht so. Andersrum«, korrigierte ihn Oskar.

Als der Junge die Hände wendete, steckte Oskar den Schein ein, nahm dem Kleinen den Lutscher ab und ging zurück zu seinem Boot. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. Er betrachtete die klebrige Kugel, seufzte, zog sie vom Stiel, machte kehrt und gab sie dem Einäugigen zurück.

Vor der Sonnenschein kniend, knickte er den Stiel, zwirbelte ihn zweimal um die eigene Achse, klemmte ihn tief zwischen Leiste und Brettchen und überprüfte alles auf seine Festigkeit. Dann zog er das Faltboot die Stufen hinab ans Wasser. Er inspizierte seine Taschen und verstaute ein Gepäckstück nach dem anderen im Körper des Bootes. Das Ersatzpaddel schob er in einen eigens dafür genähten Schaft, den Feldstecher in ein mit einer Kordel verbundenes Säckchen, und nachdem er etwas Dreck von der Linse des Mikroskops für die Mineralienfunde geblasen hatte, fand er auch dafür einen Platz.

Schließlich vergewisserte er sich, dass die Schokolade, das getrocknete Dosenfleisch und die Kondensmilch auf der Zug fahrt keinen Schaden genommen hatten. Er wickelte sie in seine Ersatzkleidung – eine Hose, zwei Unterhosen, ein Hemd, zwei Paar Strümpfe, eine Jacke sowie Karols Krawatte – und stopfte alles in die Messingkanister. Zum Schluss tastete er vorsichtig nach der in einem Stoffbeutel steckenden Mauser-Pistole, schob sie tiefer in eine der Kisten und platzierte diese im Heck des Faltboots neben den leeren Stabtaschen. Er klopfte zweimal gegen die Außenhaut, blickte auf und sah den spitz zulaufenden Hals des Ulmer Münsters auf der anderen Seite des Flusses in den blauen Himmel emporragen.

Noch kann ich zurück , dachte er . Umkehren. Zum Bahnhof. Mich in den Zug setzen und eine andere Lösung finden.

Karol würde heute Abend mit Lieselotte im Hoppe sitzen und ein Glas Langsamer Selbstmord, Jungfrauenmilch fünfzehnjährig oder Rattenblut auf ihn trinken, was alles nichts anderes war als Himbeersaft mit Kümmel und einem beliebigen Schuss Alkohol. Oskar stützte die Hände in die Hüfte und betrachtete sein Boot. Die Donau dahinter floss träge und dunkel dahin.

Er holte tief Luft und stieg ein.

Der Kleine beobachtete, wie Oskar sein Paddel ins Wasser stieß. Als der Junge sich zum Gehen wandte, bemerkte er ein gefaltetes Stück Papier auf dem Rasen. Er hob es auf und öffnete es. Es war eine herausgerissene Anzeigenseite. Er überflog die Überschriften der Annoncen:

»Panther-Klopfer für jugendliche Elastizität«, »Charakter beurteilung gegen Einzahlung von einem Franken siebzig auf ein Postscheckkonto der Luzerner Stadtbank«, »Flasche Birkenblut gegen Haarausfall, 30 Pfennige«.

Am Fuß der Seite war eine der Anzeigen mehrmals mit einem Bleistift umkreist worden:

»Arbeiten auf Zypern – Anstellung in einer Kupfermine sofort möglich – Bezahlung auskömmlich. Schreiben Sie uns oder melden Sie sich bei Interesse in unserem Büro.

Cyprus Mines Corporation in Skouriotissa.«

Der Einäugige kratzte sich im Nacken und schaute dem Mann hinterher, der sich – bereits ein ganzes Stück flussabwärts – in hoher Geschwindigkeit von ihm entfernte, den Blick fest auf die erste Biegung geheftet.