»Herr Speck? Sind Sie wach?«
Zu laut. Er brauchte einen Moment. Nickte. Hustete. Er wendete seinen Kopf dem kleinen Tischchen neben seinem Bett zu, sah den darauf liegenden zusammengefalteten Zettel.
Er ist noch da. Er ist immer noch da. Und es ist immer noch wahr.
Dann atmete er langsam aus, sank zurück und begann, mit einer Hand seine Stirn zu kneten.
»Haben Sie noch Fieber?«
Die Stimme des Mannes dröhnte.
»Ja«, antwortete er leise.
Der Fragesteller wandte sich mit einem süßlichen Grinsen der Frau zu, die er mitgebracht hatte.
»Dann solltest du besser gleich anfangen, bevor er zu müde wird. Doktor Nowack sagt, er darf derzeit höchstens eine Stunde pro Tag sprechen.«
An der Decke des Krankenzimmers drehte leise quietschend ein Ventilator seine Runden. Hinter seiner Hand hervor linste Oskar auf seinen Besuch. Neben einer Frau, die wiederholt versuchte, mit verkniffenen Lippen eine Strähne aus ihrem Gesicht zu pusten, stand an seinem Bettende ein schnell und vehement spre chender Kerl, der Oskar an jene Luftballon-Männlein erinnerte, die seine Mutter an Kindergeburtstagen immer zu knoten pflegte. Er war nicht besonders groß, hatte kräftige Unterarme und einen nahezu perfekt runden Kopf. Über einer ausgebeulten, kurzen Hose trug er ein buntes Hemd, Hosenträger und einen Hut, wie ihn die Einheimischen bevorzugten, verziert mit einem rundherum verlaufenden Schweißrand, die Silhouette eines Gebirges.
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie hier so überfallen. Ich hoffe, Dr. Nowack hat uns angekündigt. Gunther Makeprenz mein Name. Ich bin der Präsident des Deutschen Klubs, und das hier ist Fräulein Baum.« Er legte eine Hand auf ihren Unterarm. »Sie wird das Gespräch mit Ihnen führen und alles aufschreiben, was sie ihr erzählen wollen. Ihr können Sie das alles anvertrauen. Die ganze … Diese Angelegenheit. Später können wir – wenn nötig – alles ins Reine übertragen. Aber wir dachten, vielleicht notiert sie besser erst mal alles mit Bleistift. Wie Sie sehen: Papier, Spitzer – alles vorhanden. Na, sagen Sie mal was.«
Ein Verband hüllte in dicken Bahnen Oskars Kopf ein und umschloss ein Ohr, und mehr als ein mattes »Ja« konnte er der seltsamen Emphase des Besuchers nicht entgegensetzen.
Die junge Frau löste sich sanft aus dem Griff des Präsidenten und umarmte Kladde und Lederetui. Sie sah ihn skeptisch an, als er weitersprach.
»Ganz schön irre Geschichte. Dr. Nowack hat ein bisschen be richtet. Wirklich verrückt. Er sagte, die Dinge seien wohl etwas aus dem Ruder gelaufen.« Makeprenz deutete ein Lachen an, und für einen kurzen Augenblick sah er aus wie ein glückliches Kind. »Verstehen Sie? Als ob Gregor Hradetzky einen Albtraum gehabt hätte oder so. Kennen Sie den? Der Kerl ist eine Berühmtheit. Seit Jahren spricht die ganze Welt von ihm. Hradetzky hier, Hradetzky da. Der ›König des Wassers‹. Im Klub schwärmen sie von ihm.«
Oskar sah aus dem Fenster.
»Was hat Nowack Ihnen über mich erzählt?«
Makeprenz schielte zu der jungen Frau hinüber, kratzte sich an der Backe.
»Nun ja, er sagte, es handele sich um eine ungeheuerliche Geschichte. Nowack meinte, bei dem Anschlag seien Ihre sämtlichen Aufzeichnungen abhandengekommen. Die Operation an Ihrem Ohr ist wohl erfolgreich verlaufen, aber Sie haben eine längere, wie drückte er sich aus …?«
»Rekonvaleszenz«, half ihm die Frau leise.
»Richtig, danke, das haben Sie vor sich. Der Kopf sei ziemlich lädiert, und die Hände, er habe so etwas noch nicht gesehen. Wie getrocknete Büffelhaut, sagte er, glaube ich. Seiner Meinung nach brauchen Sie wohl noch etwas Zeit. Wäre alles etwas viel.« Er lehnte sich auf das Bettgestell: »Doktor Nowack sagt, Sie hätten sich furcht bar darüber aufgeregt, dass die Holländer Ihr Boot zerstört haben. Und heute Morgen kam dann wohl ein Brief …«
Oskar versuchte, nicht hinzusehen.
»Und anschließend hätten Sie nach jemandem verlangt, der unverzüglich Ihre Erinnerungen zu Papier bringen könne, bevor Sie etwas vergessen. Und deswegen stehen wir jetzt hier.« Makeprenz sah besorgt auf Oskars in Mullbinden steckende Hände. »Wenn ich das richtig verstanden habe, wollen Sie Ihre Erlebnisse für irgendeine Frau zusammenfassen.«
Oskar konnte sich nicht mehr beherrschen, schielte schließlich doch auf den Zettel neben seinem Bett.
»Nicht irgendeine. Aber: Ja.«
»Ich bin mit dem Doktor schon länger befreundet, nach zwei Jahren kennt man hier jeden Nachtwächter«, erklärte Makeprenz. »Daher hat er mich gefragt, ob mir jemand einfiele, der Ihnen helfen könne. Und Fräulein Baum wohnt seit Kurzem bei uns im Klub und war so nett, ihre Dienste anzubieten. Sie wird gerne für Sie ein paar Notizen machen.«
»Keine Notizen«, flüsterte Oskar.
»Bitte?«
»Es muss alles detailliert aufgeschrieben werden. Die ganze Geschichte. Von vorne. Keine Notizen.«
Makeprenz sah seine Begleitung an, die mit einem Schulterzucken ihre Bereitschaft signalisierte. Dann sagte er: »Bevor ich es vergesse: Die Tommys wollen Sie auch noch mal sprechen. Sobald Sie sich besser fühlen.« Einen Moment lang zögerte er. »Sagen Sie, wollen Sie eigentlich in der Stadt bleiben? Ich meine, mir ist alles recht. Aber der ganze Aufruhr mit dem Anschlag, die Engländer, die Holländer, wir im Klub dazwischen, dazu die politische Situation. Das könnte alles höchst unangenehm werden.«
Das Quietschen des Ventilators.
Als niemand etwas sagte, klopfte Makeprenz zweimal sachte mit der Faust auf das Bettgestell. »Tja, dann lass ich Sie mal allein.«
Die Tür fiel ins Schloss, die junge Frau zog sich den einzigen Stuhl des Zimmers heran und setzte sich neben das Bettende.
Nebenan heulte jemand leise und jämmerlich. Sie blickte sich um.
»Haben Sie kein Gepäck?«
Ihre Worte klangen vorsichtig.
Oskar legte die Stirn in Falten, versuchte umständlich, sich in eine bessere Position zu bringen.
»Lassen Sie mal. Ich kümmere mich darum. Wir finden Ihre Siebensachen schon.«
Sie schlug einen Block auf, holte einen Bleistift aus ihrer Tasche und sah ihn herausfordernd an.
»Also gut, legen wir los. Der Nowack sagt, es ginge um eine Reise. Sie seien in Ulm aufgebrochen. Mit einem Faltboot.«
Er nickte, sie schrieb.
»Wann war das?«
»Zweiunddreißig.«
»Genauer?«
Er stutzte.
»Neunzehnhundertzweiunddreißig.«
Kurz griente sie ihn an. Er war sich nicht sicher, meinte aber, eine Lücke zwischen ihren Schneide- und Backenzähnen gesehen zu haben.
»Im Frühjahr, Mai.«
»Wo wollten Sie hin?«
»Nach Zypern.«
»In Ihrem Faltboot?«
»Ja.«
»Nach Zypern?«
»Eigentlich war es gar nicht mein Faltboot. Gehörte mal meiner Schwester.«
Wieder die Zahnlücke. Es war ihr rechter Eckzahn, der fehlte, ein schwarzes Loch an seiner statt.
»Sie hat es mir geliehen. Als wir noch sehr jung waren. Eine Dauerleihgabe sozusagen.«
Neben dem Ventilator war nur das Schaben ihres Bleistifts zu hören. Sehr langsam griff er nach einer auf seinem Nachttisch ste henden dampfenden Tasse Bandrek, pustete und nippte daran. Dann bemerkte er seinen Fauxpas und bot seinem Gast ein Glas Wasser an.
»Nein, danke. Das ist in der Tat ungewöhnlich. Was war denn der Grund für den Aufbruch?«
Oskar massierte sein nicht verbundenes Auge und ertastete das glatte Stück Haut auf seiner Wange, die Hautinsel in seinen Bartstoppeln. Seine Stimme war rau und kraftlos, zähflüssig die Sprache.
»Schulden. Zu hohe Schulden. Karol, mein bester Freund, und ich, wir hatten unseren Betrieb verloren. Ein Ingenieurbüro.«
»Verstehe. Aber das erklärt noch nicht …«
»In Hamburg herrschte Chaos. Keine Aussicht, an Geld zu kommen. Auf Zypern gab es damals die Gelegenheit, in einer Mine zu arbeiten. Also bin ich los. Die Donau entlang.«
»Ist das denn möglich? Mit einem Faltboot von Ulm bis nach Zypern?«
Er überlegte. Trotz Ventilator war es heiß in dem Zimmer. Im Hof rief eine Frau etwas Unverständliches.
»Nein. Aber ich habe das damals nicht hinterfragt. Karol hat vor meiner Abreise gemeint, ich würde ohnehin viel früher zurückkehren. Höchstens halbe Strecke, hat er gesagt.«
»Ihr Freund hatte Zweifel?«
»Im Gegenteil. Er war überzeugt, ich hätte das nötige Geld schon vorher zusammen.«
Sie sah ihn fragend an.
»Der geheime Blick.«
»Verstehe ich leider immer noch nicht.«
Er ließ seinen Kopf auf das Kissen sinken, betrachtete die abblätternde, pistaziengrüne Farbe der Decke.
»Karol hat immer gesagt, ich hätte ›den geheimen Blick‹. Könne wertvolle Steine erkennen. Andere könnten das nicht.« Vorsichtig strich er mit den Mullbinden-Händen sein Laken glatt. »Als Sechzehnjährige haben wir mal in der Nähe von Goslar nach Gold gesucht, und ich hab etwas Ferberit gefunden. Seitdem war Karol der festen Überzeugung, ich hätte einen sechsten Sinn für Edelmetalle, würde sie geradezu anziehen. Er sagte, ich würde bestimmt schon nach ein paar Tagen fündig werden, und dann wären wir aus dem Schneider. Er hat sich schon immer eine einfache Welt gewünscht.«
Das Heulen nebenan schraubte sich zu einem dünnen Jaulen empor. Sie wartete, bis es abebbte.
»Und? Haben Sie etwas gefunden?«
Für einen Moment schien er außer Atem zu sein.
»Es ist alles ganz anders gekommen. Doch dazu muss ich Ihnen von dem Wettbewerb erzählen. Und von May und Fischer. Und dann natürlich auch von Neweklowsky.«
Auf dem Flur hinter der Tür war ein leises Scheppern zu hören.
Er schluckte.
»Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn ich nicht einen großen Fehler begangen hätte.«