»Entschuldigen Sie, ich bin spät dran. Gunther, also Herr Makeprenz, hat mich aufgehalten. Es gibt scheinbar immenses Interesse an dem Angriff auf Sie. Gunther war ganz schön baff. Ich ...«
Oskar saß aufrecht in seinem Bett, legte einen Finger auf den Mund, bedeutete ihr zu schweigen.
Sie lauschten dem Klagegesang im Nachbarzimmer, dem nölenden Heulen eines Mannes. Oder einer Frau, die Verzweiflung in der Stimme machte eine genaue Bestimmung unmöglich, sie war mehr leiernder Ausdruck einer seelischen Qual als eine Reaktion auf physische Schmerzen. Durch die Wand hörten sie, wie eine der Schwestern den Raum nebenan betrat und die wimmernde Person streng zurechtwies. Dann war Ruhe.
»Du lieber Himmel, geht das hier die ganze Zeit so?«
Oskar nickte.
»Unheimlich«, sagte er nachdenklich. »Wie im Irrenhaus. Wenn ich das Morphinderivat nehme, geht’s. Aber länger als drei Stunden am Stück schläft hier auf der Etage niemand.«
»Soll das heißen …?«
»Ja, auch nachts. Wie ein Schlosshund.«
»Das meine ich nicht. Wissen Sie nicht, wo Sie sind?«
Oskar fuhr mit der Zunge über seine Lippen.
»Nicht so wichtig. Machen wir erst mal weiter mit Ihren Erlebnissen im hinteren Bereich der Donau.«
»Moment. Was meinen Sie damit? Wir sind im Militärhospital. Ich bin hier operiert worden.«
Sie wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sagte leise: »Das Militärhospital ist nebenan, Herr Speck. Ein Haus weiter. Wahrscheinlich waren Sie da unterm Messer.«
Die Tür des Nachbarzimmers wurde geräuschvoll geschlossen.
»Das hier ist die psychiatrische Anstalt der Stadt. Sie sprechen heute schon viel sicherer und schneller als gestern, merken Sie das auch?«
Oskar schlug die Bettdecke zurück. Er richtete sich auf, und ein dunkler Schmerz waberte durch seinen Kopf. Schwankend ging er zum Fenster, hielt sich am Kippverschluss fest. Dann wurde ihm schwindelig. Benommen kehrte er zum Rollbett zurück und setzte sich auf den Rand.
»Wie viele Geschwister haben Sie?«, fragte sie fröhlich.
Er sah sie entgeistert an.
»Wenn ich Ihre Geschichte aufschreiben soll, benötige ich ein paar Hintergrundinformationen.«
Langsam knetete er seine Nasenwurzel.
»Seppel, Heinrich, Elli … Und noch ein paar andere. Namen habe ich vergessen.«
Sie wartete auf ein ironisches Lächeln, aber es blieb aus.
»Hat Ihre Familie Sie während Ihrer Reise unterstützt, Geld geschickt?«
»Vier-, fünfmal, irgendwann hat das aufgehört.«
»Aber … wovon haben Sie die ganze Zeit über gelebt?«
Er überlegte, ganz so, als hörte er die Frage zum ersten Mal.
»Ich habe sehr schnell einen Blick dafür entwickelt, wo ich etwas zu essen bekomme, wo ich was verdienen kann. Ich habe bei der Ernte geholfen oder ein paar Tage beim Hausbau. Aber immer wieder haben mir Menschen auch etwas geschenkt. Brot, Suppe oder ein Stück Leder, mit dem ich ein Loch in der Bootshaut vernäht habe, einen Hut, wenn ich einen brauchte. Später habe ich Vorträge gehalten und für Zeitungen kurze Berichte über meine Erlebnisse geschrieben. Die Ergebnisse habe ich meist gar nicht mehr gesehen, weil ich weitergefahren bin.«
Eine Krankenschwester kam mit einem zusammengefalteten Laken über dem Arm herein, bemerkte den Gast, entschuldigte sich und machte auf dem Absatz kehrt.
»Und Ihr Freund Karol?«
Er schlüpfte zurück unter die Bettdecke, verzog angestrengt die Mundwinkel und rückte sich den Verband zurecht.
»Als ich aufgebrochen bin, hat er in einem Kellerloch unter einem Restaurant namens Chop Shuey in der Nähe des Hamburger Hafens gewohnt. Ein furchtbar heruntergekommener Winkel der Welt. Karol hatte kein Geld. Noch nie. Und ich auch nicht. Im Grunde konnte man unsere Situation damals ganz einfach zusammenfassen: Wir hatten nichts, wir wussten nichts, und wir konnten nichts. Das war die Ausgangslage.«
Ihre Zahnlücke wurde sichtbar.
»Sie kannten sich schon länger?«
»Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, wie ich mit ihm unter den Bäumen der Palmaille um die Wette laufe. Wir haben unsere ersten Zigaretten zusammen gepafft. Er ist dabei geblieben. Und wir sind oft Boot gefahren, auf der Elbe.«
»War wohl ’ne schönen Zeit.«
Er senkte die Lider.
»Ja, war’s. Wir haben nächtelang im Café Hoppe gesessen, diskutiert. Karol mehr als ich. Das Hoppe lag an der Strandpromenade in Övelgönne, die Bootshütten direkt daneben. Das war un ser zweites Zuhause. Meist waren wir die Letzten, die gegangen sind. Sind dann durch die Nacht gelaufen, bis morgens, zum Hafen, an den Akkordarbeitern von der Vulkanwerft vorbei. Die kamen da immer müde von ihrer Nachtschicht, mit Grograusch und vom Werftstaub schwarzen Gesichtern. Und wir aus dem Hoppe hatten genauso einen sitzen. Karol hatte immer einen frechen Spruch auf Lager für die Jungs. Dem konnte eh keiner böse sein, mit seinem einwangigen Lächeln. Ich habe Hamburg geliebt, wollte nie weg.«
Das Kratzen des Bleistifts auf Papier.
»Aber dann mussten Sie.«
»Ja. Mit unserem Gläubiger war nicht zu spaßen. Ein Mahnbrief nach dem anderen. Ich habe den Kerl nie kennengelernt, Karol hat sich um diese Sachen gekümmert. Und dann habe ich in einer Zeitschrift die Anzeige der Kupferminengesellschaft entdeckt. Ich sehe Karol noch vor mir, wie er mir auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Chop Shuey zum Abschied in die Schulter boxt, um mir Mut zu machen. ›Zeig’s ihnen, Spargel‹, hat er gesagt. Dann ist er die Treppe runter und war weg.«
Ein kurzer Hustenanfall schüttelte Oskar.
»Wir waren bei Neweklowsky. Haben Sie auf ihn gehört? Welche Route haben Sie gewählt?«
Vorsichtig rutschte er im Bett ein Stück nach oben, lehnte sich mit dem Oberkörper an das Kopfende des Gestells.
»Dank Neweklowsky ist mir überhaupt erst aufgefallen, wie absolut dämlich dieser Wettbewerb war, auf den wir uns eingelassen hatten.«
»Warum?«
»Um auf den Vardar zu wechseln, hätte ich von Widin aus ein paar Hundert Kilometer über Land reisen müssen. Nach Skopje. Genau wie Neweklowsky es mir erklärt hatte. Aber ich wusste ja nicht mal, ob das nach den Statuten erlaubt war, ob es überhaupt Regeln gab. Womöglich würde die Brauerei die ganze Sache abblasen, wenn sie Wind davon bekäme. Ich wusste nicht, ob ich mich beeilen musste, ob May und Fischer wirklich in die Sache eingestiegen waren. Ich habe damals überlegt, ob ich Karol von den beiden erzählen sollte, hab mich dann aber nicht getraut.« Er atmete aus. »War zu feige.«
»Also hören Sie mal. Niemand, der von Ulm aus mit einem Faltboot nach Zypern aufbricht, ist ein Feigling. Nicht ganz dicht vielleicht. Aber auf keinen Fall feige.«
Von draußen drang das meckernde Zwiegespräch eines Molukkenhuhns mit einer Wachtel in das Zimmer.
»Jedenfalls hat am Ende die Vernunft gesiegt. Ich habe mir gesagt: Du fährst die Route zum Schwarzen Meer und basta, und dann gen Süden, so wie du es geplant hast. Aber kaum hatte ich mich entschieden, tauchte eine andere absurde Idee in meinem Kopf auf. Ich war zu viel allein, da kommen einem die merkwürdigsten Dinge in den Sinn.«
Sie hörte auf zu schreiben, sah ihn erwartungsvoll an.
»Karol hatte recht. Es gab nur einen Ausweg aus dem Schlamassel, so unwahrscheinlich es auch war.«
»Gold.«
Er nickte.
»Es war wie eine Manie. Ich konnte auf einmal an nichts anderes mehr denken. Für ein paar Tage habe ich sogar an Karols Pro phezeiung geglaubt und überall glitzernde Steine gesehen.« Er atmete schneller. »In Budapest war die Donau noch ganz weiß von ausgespültem Sediment, da war nichts zu erkennen. Dahinter nur Weiden mit Ziegen und Pusztapferden, alles grün. Trotzdem habe ich bei jeder Rast gesucht. In braunem Tiefland, an grünen Hügeln. Zwischen Felsen. Und gleichzeitig viel zu hastig, weil ich nicht wollte, dass sich der Vorsprung von May und Fischer weiter vergrößert.«
»Haben Sie unterwegs jemanden gefragt, wo Sie fündig werden könnten?«
»So was erzählt Ihnen niemand. Schon gar nicht, wenn Sie ein Fremder sind. Ohnehin bin ich kaum jemandem begegnet, der Deutsch oder Englisch gesprochen hat. Da gab es höchstens ein paar Fischer, die in ihrem Boot saßen und mit einer Butschka auf die Wasserkante schlugen, um Fische vom Grund anzulocken. Die hätten mir nicht weiterhelfen können.«
»Und?«
Wieder rückte er den Verband an seinem Kopf zurecht.
»Ich hatte keine Ahnung. Nicht die leiseste Ahnung hatte ich. Ich bin an Novi Sad vorbeigefahren, durch Belgrad und an der Festung von Golubac entlang. Faszinierende Gegend, aber ich hatte keine Augen dafür. Und dann bin ich zu einem Stück der Donau gekommen, das die osmanischen Türken Demir Kap nennen. Das Eiserne Tor. Ich erinnerte mich, dass Henri May und Theo Fischer die Stelle aufgrund der gefährlichen Wasserströme auslassen wollten. Also paddelte ich in Ufernähe entlang, um auf verdächtig aussehende Steine zu achten, als …«