SCHLAMM

der Fluss unter ihm deutlich an Selbstbewusstsein gewann. Ihm war, als würde die Donau anfangen zu summen, eine anschwellende Klage anstimmen. Sie war auf einmal dunkel, modrig. Aus dem hellgrünen Wasserweg war ein grimmiger, düsterer Strom geworden, der die Sonnenschein schnell mit sich zog. Oskar blickte sich um, plötzlich war das Ufer in beide Richtungen mindestens einhundert Meter von ihm entfernt. Steile, in den Himmel ragende Felshänge versperrten den Blick auf alles, was dahinter liegen mochte. Er hielt eine Hand in das Wasser, spürte den Widerstand des Flusses, seine Kälte. Achtzig Meter tief seien die Wassermassen am Eisernen Tor, so hatten es ihm zwei Bauern erklärt und dabei ängstlich ihre Brauen hochgezogen.

Oskar linste auf den über seinem Becken festgezurrten Anschnallriemen.

Die Sonnenschein glitt wie an einem Seil gezogen dahin. Um kehr oder Anlegen waren unmöglich. Das Wasser zischte an beiden Seiten in sein Faltboot, die kurze Hose klebte an seinen Beinen. Oskar spürte, wie sein Geschlecht in der Kälte schrumpfte, da erwischten ihn die ersten größeren Strudel mit mehreren Haupt schnellen. Das Wasser schlug krachend gegen sein Boot, seine Schultern, die Ohren. Sein Puls begann zu rasen. Mit hastigen Paddelschlägen hielt er die schlingernde Sonnenschein auf Kurs. Zwischen dem Knarzen des Gestells hörte er sein eigenes Stöhnen. Mit einem plötzlichen Ruck wurde der Sog des Wassers ein weiteres Mal stärker, der Gurt drückte gegen seinen Bauch, und er versuchte, durch das bedrohlich peitschende Wasser etwas zu erkennen.

Er hatte das Paddeln beherrscht, bevor er lesen konnte. In Hamburg hatte Oskar an Hunderten von Nachmittagen wie ein Besessener das Faltbootfahren geübt. Es war etwas gewesen, das ihm gehörte, dem sich niemand anderes so ausgiebig gewidmete hatte. Karol war der Unterhaltung und der Zweisamkeit wegen auf ein paar Touren mitgekommen, eine Passion für das Bootfahren hatte er aber nie entwickeln können. Oskar hingegen hatte stets den Schwierigkeitsgrad erhöht, sobald er sich sicher sein konnte, der Beste seines Bezirks, der Stadt, der weiteren Umgebung zu sein. Mit Steinen gefüllte Beutel hatte er sich um die Arme gebunden, sich am Ölhafen Finkenwerder die Hände an den Tauen schmierig gerieben, nur um mehr Mühe mit dem Paddel zu haben; er war mit einer Augenbinde gefahren und hatte mit bloßen Händen gerudert. Selbst bei strömendem Regen und unter hellen Blitzen hatten ihn seine Geschwister auf Elbe oder Alster gefunden. Jede dieser Herausforderungen war ihm damals vorgekommen, als träfen zwei Hunde aufeinander. Man hatte sich beschnuppert, miteinander gespielt, geknurrt und gebellt und manchmal wurde auch gebissen. Doch ernsthaft Schaden hatte dabei niemand erlitten.

Daran dachte er jetzt, als er sich seinem Gefühl nach am Anfang des Verdauungstraktes der Donau befand. Er schätzte, dass er mit mindestens dreißig Stundenkilometern dahinstürmte. Er schlug mit den Paddelblättern auf Schaum spuckende Kronen und versuchte, mit dem Werkzeug in seinen Händen nach tiefen Stellen zu fahnden. Der Fluss unter ihm drückte das Wasser wütend in die Außenhaut der Sonnenschein . Überspülte das Boot in wilden Stru deln, immer mehr davon floss hinein. Die Spritzdecke war an einer Stelle abgerissen, hing, nur noch von einem Haken gehalten, wie ein Lappen über Bord. Oskar presste sein Rückgrat gegen die Lehne, sein Hemd schmatzte, war von kaltem Wasser durchtränkt. Er wuchtete seine Knie rechts und links gegen die innere Bordwand, verschluckte sich am Fluss, hustete und konnte kaum noch erkennen, wo er hinfuhr. Er betete, dass die Außengummierung des Doppelbodens halten würde.

Auf einmal merkte er, wie ihm das Boot wieder gehorchte. Er musste lachen. Er stieß das Paddel kräftiger ins Wasser. Ein so tief empfundenes Gefühl des Triumphes breitete sich in ihm aus, dass er für einen Moment annahm, er könne dem Fluss Befehle erteilen, nicht nur über den Kurs seines Bootes, sondern über den Verlauf der Donau entscheiden. Er lockerte den Druck seiner Füße auf die Pedale, deren Drähte vom Boden der Sonnenschein zu einem am Heck angebrachten Ruder führten. Und dann, nur für einen Moment, kaum länger als man braucht, um jemanden zu schubsen, vernachlässigte er diese zusätzliche Steuerung, um mit einer Fußspitze dem Holzkasten mit seiner Mandoline nachzuspüren. Sofort schabte das Boot über mehrere Meter Länge gegen einen aus dem Nichts auftauchenden Felsen.

Hektisch und mit kräftigen Paddelschlägen versuchte Oskar, die taumelnde Sonnenschein durch eine nicht enden wollende Armada an Strudeln zu manövrieren, doch das Boot wackelte und drehte sich in den Flanken des Wassers, als wäre es von Geistern besessen. Direkt vor ihm tauchte ein weiterer massiver Stein auf. Er wich aus, ein riesiger Schwall Wasser peitschte über ihn hinweg und begrub das Faltboot unter sich, drückte die Sonnenschein unter die Wasseroberfläche. Ein dunkles Gurgeln umschloss ihn. Kaum konnte er wieder atmen, senkte sich das Boot in die Tiefe und fiel nach einigen Stromschnellen senkrecht eine Wasserwand hinab. Inmitten des Getöses hörte er ein lautes Krachen.

Seinem Empfinden nach musste er sich irgendwo an der Grenze zwischen Rumänien und Bulgarien befinden, als er die Sonnenschein hinter einer Felsspalte auf eine matschige Einbuchtung schob. Er sackte zu Boden, kippte mit dem Gesicht in den Schlamm, schmeckte seifigen Schleim auf seiner Zunge und biss beim Schlucken auf einen Kieselstein. Mit letzter Kraft spuckte und hustete er alles aus. Eine Weile blieb er so liegen, die Arme ausgebreitet, der Atem schwer, die Augen geschlossen, die Nasenlöcher von Schlick verklebt. Als er die Augen wieder öffnete, erkannte er in wenigen Metern Entfernung die Umrisse eines umgefallenen Baumes, der ins Wasser ragte. Seine Krone drückte die Zweige eines Busches nieder, und direkt daneben sah er im ausgehenden Licht des Tages etwas reflektieren. Glitzern. Erneut musste er husten. Seine Knochen taten weh, er konnte nicht aufstehen, fixierte mit den Augen das Funkeln, erwartete, dass es verschwand. Doch das Gegenteil war der Fall. Jetzt schien es sogar noch heller zu schimmern.

Als das Licht der untergehenden Sonne tiefer zwischen den Zweigen hindurchfiel, rappelte sich Oskar mühsam hoch, kroch auf das blinkende Etwas zu, knickte um und schlug sich das Knie an einem Stein auf. Die Luft blieb ihm weg, und er erinnerte sich an das, was ihm Karol einst eingetrichtert hatte: Im Kurveninneren eines Flusses ist Gold zu finden, Spargel. Unter großen Steinen zum Beispiel. In Felsritzen, an großen Bäumen oder Sträuchern musst du gucken, direkt am Ufer. Je stärker die Strömung, desto kleiner das Gold.

Man könne darauf beißen, hatte Karol gesagt.

Oder seinen Fingernagel hineindrücken und so Spuren hinterlassen, um festzustellen, ob es auch tatsächlich Gold sei.

Es passte.

Alles passte genau.