Z ahncreme. Taubennester. Goldfische im Glas.«
Karol dachte die Wörter mehr, als dass er sie sprach, geschweige denn ausrief. Die wenigen Leute, die jetzt noch unterwegs waren, liefen an dem Stand vorbei. Den meisten von ihnen konnte man die Sorgen ansehen, als säßen sie ihnen auf den Schultern. Drei arabische Männer, Heizer, wie Karol vermutete, blieben kurz stehen. Einer zeigte auf eine Putzbürste, ein Zweiter machte eine Bemerkung, und alle drei gingen lachend weiter, ohne Karol zu beachten.
Er nahm einen Zug von seiner Zigarette und sah hinüber zu den Matrosen auf den Schmeißnetzbooten, die sich ebenfalls auf den Feierabend vorbereiteten, und dann zur Basilika der Fischauktions halle. Lange Wolkenbänke brachen das Spätnachmittagslicht über dem Hafen. Es war nicht mehr viel los um diese Uhrzeit. Er rieb sich mit dem Handrücken seine Nase und blies Rauch aus. Als die Heizer weg waren, rief er ein letztes Mal und nun laut: »Pekingenten! Verdammte Barchentbeinkleider! Astern in der Augenfarbe meiner Mutter!«
Ein mächtiger Mann mit Schiebermütze und münzgroßen, dunklen Augenringen blieb stehen, ließ seinen Blick über die Ware gleiten. Er hatte riesige Hände, und Karol fragte sich, ob der Kerl Klavier spielen könnte, ohne mit den Fingern zwischen den Tasten stecken zu bleiben.
Der Riese unterdrückte ein Rülpsen, nickte in Richtung einer der Tische und fragte: »’s kosten die Stiefelbänder?«
Seine Stimme war dunkel und ausdruckslos.
»Drei Pfennige. Wenn du fünf nimmst, ’n Groschen. Wir haben …«
Der Große unterbrach ihn, indem er die Hand hob.
»Ganz schön dünn. Sind die auch fest?«
»Fest? Damit kannst du ’ne Barkasse bis zum Baakenhafen ziehen.«
Der Mann nickte, hob drei Finger.
»Drei Stück, sehr wohl, der Herr.« Karol zog eine der dreieckigen Papiertüten vom Haken. Er klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen, packte die Bänder ein und nuschelte: »Die ganz große Bestellung. Bittschön.«
Nachdem er den Stand zusammengepackt hatte, kaufte er sich eine Aalsuppe, schlürfte sie hastig hinunter und machte sich auf den Weg, den Hafen entlang in Richtung Chinesenviertel. Das Orange auf den Häuserwänden wurde dunkler.
In seinem Kellerzimmer warf er sich auf die durchgelegene Matratze, die rostigen Spiralen jauchzten auf, und er zündete sich eine Zigarette an. Durch die zwei kleinen vergitterten Fenster, die zum Hinterhof wiesen, drang gerade noch genug Licht, um zwei blasse Parallelogramme auf dem Estrich entstehen zu lassen. Karol aschte auf einen Teller, der auf dem Boden neben dem Bett stand, und betrachtete das an der Wand hängende Gemälde, das ihm ein Russlanddeutscher zwei Wochen zuvor auf dem Markt geschenkt hatte. Der Mann hatte es selbst gemalt, und es zeigte die Moika, wie sie in kräftigem Rot, Blau und Grün, in Gelb- und Brauntönen in einem Bogen durch Sankt Petersburg floss. Eine knallrote Barkasse trieb in der Mitte, am Ufer waren Schollen befestigt, und Karol stellte sich jedes Mal, wenn er das Bild ansah, vor, wie er auf dem breiten Gehweg an der langen Seite der Flussbiegung entlanglief, zu einer Verabredung in einem der dahinter liegenden, in dicken, dunklen Strichen gemalten Häuser. Er legte gedankenverloren den Kopf schräg und fummelte dabei an einem Pickel an seinem Kinn herum.
Er überlegte, ob er sich aufraffen und ins Hoppe gehen sollte. Doch er hatte keine Lust. Ohne Oskar fühlten sich die Abende dort seltsam fremd an, als wäre das Lokal nur halb gefüllt. Auch Lieselotte und ihre Freundinnen konnten da wenig helfen. Und seit Erich sein Chef war, hatte sich auch ihr Verhältnis ver ändert. Er wollte nicht auch noch abends mit ihm an einem Tisch sitzen.
Ein dumpfes Geräusch unterbrach seine Gedanken. Zunächst klang es wie entfernter Donner. Doch schon im selben Moment kamen zwei Männer herein – Klopfen und Eintreten waren eine Handlung –, und der kleinere von beiden baute sich vor Karols Bett auf.
»Bleiben Sie ruhig liegen, Herr Gerlich, keine Umstände. Vorne am Eingang bei der Treppe stößt man sich leicht den Kopf. Da könnten die Gelben ruhig mal ein Schild anbringen.«
Konstanty von Stäblein deutete auf seinen Begleiter, einen Koloss, der sich die Stirn rieb, machte aber keine Anstalten, den Mann vorzustellen. Das war auch nicht nötig. Karol erkannte ihn sofort. Konstanty sah sich um.
»Schön haben Sie es hier.«
»Reklamationen nehmen wir nicht an, von Schuhbändern schon gar nicht.«
Der Riese reagierte nicht und begann, gelangweilt ein paar Bücher zu inspizieren, die in dem einzigen Möbelstück des Zimmers standen, einem schief zwischen den Fenstern lehnenden Regal.
»Keine Sorge. Laszlo ist mit seinem Kauf sehr zufrieden, es wird aber auch allerhöchste Eisenbahn.«
Konstanty zeigte auf die ausgeleierten, knöchelhohen Stiefel sei nes Kompagnons, deren Laschen sich ohne die Senkel wie schlafende Betrunkene nach vorne beugten.
»Ich habe ihn gefragt, wieso er drei gekauft hat, und Sie glauben nicht, was er gesagt hat: Man wisse nie, wann man noch mal eins gebrauchen kann. Ein dürres Stiefelband! Laszlo, wirklich. Solange dir kein drittes Bein wächst.«
Er kicherte. Dann strich er sich mit beiden Händen übers Gesicht, bis er sie wie zum Gebet flach aneinandergelegt vor seinem geschürzten Mund zusammenführte.
»Wo fang ich an?«, sagte er mit seiner Kinderstimme. »Herr Gerlich. Ich denke, man tritt Ihnen nicht zu nahe, wenn man annimmt, dass sich Ihr Herz nicht nennenswert verdunkelt, sobald Sie abends den Fischmarkt verlassen, nein? Kein Gramm Trübsal, nicht wahr? Wie auch, man wohnt fast umsonst, und der Vermieter ist so großzügig, die angehäuften Schulden zu stunden. So lässt’s sich leben, was? Aber man kann nicht immer nur nehmen, Herr Gerlich. Genau wie Ihr paddelnder Freund. Der kann sein Glück vermutlich kaum fassen. Gondelt auf Kosten anderer durch die Welt und lacht sich halb tot dabei.«
Karol fuhr sich durch seine borstigen Haare und drückte seine Zigarette am Bettgestell aus, ohne seine Gäste zu beachten.
»Da kennen Sie ihn aber schlecht. Osse amüsiert sich bestimmt nicht. Der nimmt das wahnsinnig ernst.«
Laszlo griff nach einem Blumentopf auf dem Fensterbrett und besah sich dessen Unterseite.
»Genau das ist einer der Gründe, weswegen wir hier sind«, sagte Konstanty. »Sie haben nämlich recht: Ich kenne Ihren Freund nicht. Das heißt, ich muss Ihrem Urteil vertrauen und weiß noch nicht ein mal, wie der Mann überhaupt aussieht. Meinem Freund Walter Schwencke von der Brauerei geht es nicht anders, und auch Herr von Tschammer und Osten hat sich schon nach ihm erkundigt. Das bringt mich ein bisschen in eine prekäre Situation, wenn man bedenkt, wie viel Geld und Prestige an Ihrem rudernden Kollegen hängt. Ganz nebenbei, und das muss Sie nicht kümmern, ich erwähne es aber dennoch, hat Tschammer mir eine Stelle in seinem Stab versprochen, wenn alles gut geht. Aber eben nur, wenn! Sie wissen ja, es soll eine fulminante Parade geben, Glanz und Gloria, und, und, und. Eine Menge Holz. Also wären Sie so gütig, uns ein Foto von Herrn Speck zu überlassen?«
Karol beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der Riese lustlos in einer mit Krempel gefüllten Obstkiste kramte, die auf ein paar Büchern abgestellt war. Unter der Kiste erkannte Karol das Fotoalbum, in das er neben Ansichtskarten und Bildern aus seiner Kindheit auch Fotografien gelegt hatte, die ihn und Oskar vor den Bootshütten beim Hoppe zeigten. Lieselotte hatte sie im vergangenen Winter geschossen, und es waren die einzigen, die er von seinem Freund besaß.
Träge stöberte Laszlo in der Kiste.
»Deswegen sind Sie extra hergekommen?«
»Unter anderem.«
»Aha.«
»Also?«
»Also was?«
»Das Foto, Herr Gerlich.«
»Hab keins, tut mir leid.«
Konstanty zog eine Zigarette aus einer Schachtel und schüttelte auch für Karol eine hervor.
»Nehmen Sie«, sagte er, als Karol nicht reagierte. Der Angespro chene gehorchte, der Gast gab ihm und sich Feuer und blies beim Sprechen den ersten Zug aus. »Also gut, ffff, kein Foto. Schade. Wäre wichtig gewesen. Elly Beinhorn macht, wenn sie sich schminkt, optisch was her, da sollte Ihr lieber Oskarfreund nicht hintenanstehen. Deutscher Held und so. Der muss schon taugen. Na, seine Zähne wird er ja noch haben, oder?«
»Was?«
»Man sagt: Wie bitte? Gute Zähne sind wichtig, Herr Gerlich. Schauen Sie sich mal die Fotos der Berühmtheiten aus den Filmen an.«
Laszlo lächelte und schnaufte, bis ihm auffiel, dass man seine Zähne dabei sehen konnte.
»Zeigen Sie mal Ihre.«
Konstanty deutete mit dem Kinn auf Karol.
Der zog an seiner Zigarette und ließ den Rauch aus einem Spalt im Mundwinkel ausströmen.
»Laszlo«, fuhr Konstanty fort, »hatte neulich Streit mit jemandem und musste ihm am Ende seine Schneidezähne entfernen.« Er wandte sich an den Riesen, ohne Karol aus dem Blick zu verlieren. »Beide. Oder, Laszlo?«
Sein Freund hob entschuldigend die Schultern.
»Du hast sie dem Mann nach vorne herausgebrochen, nicht wahr? Nach oben geklappt. Mag man sich gar nicht vorstellen, was das für Schmerzen sind.«
»Am besten geht’s mit ’nem Faden oder ’ner kräftigen Schnur«, brummte Laszlo und zog mit seinen Fäusten an zwei unsichtbaren Enden.
»Unangenehmes Thema«, sagte Konstanty, leckte sich die Lippen und tippte Asche auf den Boden. »Ich muss noch einmal auf die Brauerei, auf Schall & Schwencke, zurückkommen. Darüber wollte ich mit Ihnen nämlich eigentlich sprechen, Herr Gerlich. Aber erst mal«, er reichte Karol die Hand, »ich bin der Konstanty. Also komm, lass uns die Stimmung hier mal etwas aufwärmen.«
Karol beugte sich vor und erwiderte den Gruß wortlos.
»Mein Freund Walter, Sohn von Heinrich Schwencke, einem der Gründer von Schall & Schwencke, erzählte mir vorhin von der Konkurrenz deines Kollegen. Da haben sich inzwischen eine ganze Reihe von Menschen aufgemacht, wie es scheint. Na klar, bei zehntausend Reichsmark schaut jeder mal, ob das blöde Faltboot im Keller noch schwimmt. So war das ja auch geplant. Soll alles seinen Gang gehen. Aber schon irre, wer da so aus seinem Loch hervorgekrochen kommt. Ein Paddler aus München hat ein Blatt mit seinen Reisestempeln geschickt und Fotos, auf denen er – auf jedem einzelnen – ein Getränk der Brauerei in die Höhe hält. Krebst irgendwo in Österreich rum. Ein anderer hat gefragt, ob er ein Kanu anstelle eines Faltboots nutzen dürfe. Sogar eine Frau aus Bielefeld hat geschrieben, sie hätte die ersten Stationen schon hinter sich. Der musste man leider mitteilen, dass Frauen nicht teilnehmen dürfen. Schmeckt sie dir? Ist eine Reval.«
Karol schlug, auf seinem Bett liegend, ein Bein über das andere, wischte sich mit den Fingern über seinen Mund und sah Konstanty ausdruckslos an.
Der Riese hob derweil Karols Jacke von einem Stuhl, befühlte sie, legte sie wieder zurück und klopfte anschließend mit einem Feuerhaken gegen die Füße des kleinen Holzofens.
»Und dann gibt es da noch diesen Dortmunder, der steif und fest behauptet – und schreibt, er könne das mit Stempeln belegen –, dass er bereits kurz vor dem Schwarzen Meer sei.«
Konstanty legte die Stirn in Falten und schob seine Unterlippe zu einem Flunsch.
»Kann das sein? Ist da was schiefgegangen?«
Laszlo setzte sich auf den Stuhl und taxierte das Gemälde, als Konstanty weitersprach.
»Wechseln wir lieber noch mal das Thema. Diese Wohnung.«
»Dieses Loch, meinen Sie.«
»Bitte, Du . Ich gebe ja zu, der Raum ist günstig. Aber bedenk mal den Standort und die Nähe zur Arbeitsstelle. Eigentlich müsstest du viel mehr bezahlen. Ich kenne die Lage und bin kein Unmensch. Wir fangen mit zwanzig Reichsmark Zulage an und sehen mal, wie es läuft.«
»Wie bitte?«
Karol zwickte die Glut von der Zigarette ab und richtete sich auf.
»Na also, mit der Höflichkeit klappt es doch schon ganz gut. Jetzt werd nicht hysterisch. Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht begeistert sein wirst. Und herumliegen hast du das Geld natürlich auch nicht.«
»Das … Das geht nicht.«
»Das habe ich auch erst gedacht, als du damals mit dieser Zypern-Idee angekommen bist. Jetzt schau nicht so. Ich kann dich eigentlich ganz gut leiden. Im Gegensatz zu meinem Vater übrigens. Der hätte euch die ganze Sache von vornherein nicht zugebilligt. Der würde einem Kommunisten nicht mal glauben, wenn der ihm mittags sagt, dass es zwölf Uhr ist.«
Konstanty lehnte sich auf das Bettgestell, ließ Rauch aus seinen Nasenlöchern quellen und dachte nach.
»Weißt du was? Wir machen das anders. Keine Mieterhöhung. Aber dein Freund muss als Erster durchs Ziel fahren. Er muss! Und du musst dafür Sorge tragen. Verstehst du? Schaffst du das?« Und als Karol erneut nicht antwortete: »Wo ist er gerade?«
Karol setzte sich auf den Bettrand und stützte sich vornüber gebeugt auf seine Beine.
»Müsste schon vorbei sein am Schwarzen Meer.«
»Müsste? Er muss, Gerlich! Er sollte. Ich denke, in zwei Monaten ist das zu schaffen, nach Zypern. Jeder Tag, den er ab jetzt unterwegs ist, kostet euch zusätzlich zehn Reichsmark. Kommt er in zwei Monaten als Erster an, müsst ihr also von euren viertausend sechshundert an mich abgeben. Natürlich nur, wenn er gewinnt. Sollte er verlieren, schuldet ihr mir euren und meinen Anteil, neun tausend Reichsmark, zahlbar eine Woche nach Ende des Wettbewerbs. Und ich könnte mir vorstellen, dass in so einem Fall Walter auch seine tausend haben will.«
»Das ist doch sein eigenes Geld!«
»Ich denke, ich habe unsere Position deutlich gemacht.«
Karol nickte.
»Ach, eins noch. Da du kein Foto von deinem Freund hast, kannst du ihn mir vielleicht wenigstens beschreiben.«
Karol wendete den kalten Zigarettenstummel in seiner Hand. Ihm war schlecht.
»Oskar. Was soll ich Ihnen da beschreiben? Ist ein feiner Kerl. In einer Menge würde er nicht weiter auffallen, mittelgroß, straßenköterbraune Haare, immer zurückgekämmt. Gutmütiges Gesicht.«
»Wesensmerkmale?«
»Ist ’n stiller Mensch. Aber wenn Sie ihn genau ansehen, wissen Sie Bescheid. Der hat was Entschlossenes. Seinen eigenen Kopf.« Ein Anflug von Wut schlich sich in seinen Tonfall. »Und für mich wird der alles tun, keine Sorge.«
Auf dem Weg nach draußen streifte Konstanty im engen Kellerflur versehentlich mit seinem Mantel an der dreckigen Wand entlang, schnalzte mit der Zunge und strich sich den Putz vom Stoff. Dann wandte er sich Laszlo zu.
»Ich weiß nicht, ob er das mit den Zähnen verstanden hat. Ich kann einfach nicht so gut erklären. Könntest du ihm das vielleicht noch mal …?«
Laszlo nickte, zog die Tüte mit den Stiefelbändern hervor und kehrte um. Konstanty inspizierte erneut den Mantel, seufzte leise und ging langsam in Richtung der vier krumm gemauerten Stufen, die zur Eingangstür hinaufführten. Dort angekommen, blieb er einen Augenblick lang im Rahmen stehen, spürte den ersten Herbstwind, der das Ende des Sommers ankündigte. Er dachte an die Bäume im Garten seiner Eltern, deren Blätter den Boden golden und weinrot schimmern ließen. Bis eine säuerliche Erinnerung an demütigende Urlaube mit seinem Vater in ihm aufstieg. Eine plötzliche Wehmut. Er hob das Kinn und schloss die Augen und hörte, wie der Kommunist ein dünnes, gequältes Stöhnen von sich gab.