Als Oskar erwachte, wusste er ein paar Herzschläge lang nicht, wo er sich befand. Die schmalen, blickdichten Vorhänge waren zugezogen, irgendwo ein winziger Spalt Licht, als läge er in einem Sarg mit enormen Ausmaßen, dessen Deckel sich gerade schloss. Schließ lich erinnerte er sich. Noch im selben Moment erfüllte ihn neue Panik.
In die Irrenanstalt haben sie dich gebracht. Die denken von dir, dass du verrückt bist. Und vielleicht bist du es ja. Vielleicht ist es nicht nur die Malaria. Du bist nichts mehr, Mensch, du bist eingesperrt, besitzt nichts mehr, und es ist vorbei. Unwiderruflich. Es ging lange genug. Alles geht irgendwann einmal zu Ende. Hier, in diesem Raum endet es für dich. Aber was dann? Was jetzt? Noch bin ich am Leben. Ich lebe noch immer.
Schwer atmend schob er die Bettdecke beiseite und richtete sein unversehrtes Auge auf die geschlossene Tür und den Lichtspalt am unteren Ende. Ihm war, als habe er nachts etwas auf dem Flur gehört. Eine Wache vermutlich, die sie vor seiner Tür postiert hatten.
Du bist paranoid, total plemplem.
Er stand auf und schlich zur Zimmertür, im Takt des Blutes in seinen Schläfen. Vorsichtig öffnete er sie, lugte in beide Richtungen. Der Flur war stechend hell. Es war niemand zu sehen. Gerade als er umdrehen wollte, entdeckte er einen leeren Stuhl, drei oder vier Meter links den Gang entlang. Ein aufgeschlagenes Buch lag mit dem Gesicht nach unten darauf. Schritte im Treppenhaus. Eilig zog er sich zurück, schlüpfte unter die Decke und schloss die Augen. Er war schweißgebadet. Das Blut in seinem Kopf pochte noch immer. Die Türklinke wurde gedrückt.
»Oh, Entschuldigung.«
Die Stimme von Fräulein Baum. Schon wandte sie sich wieder zum Gehen.
»Kommen Sie herein, ich bin wach.«
Sie zögerte, dann ging sie zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite, ließ Luft herein und drehte sich zu ihm um.
»Sie sehen furchtbar aus. Aber auch ein bisschen besser. Erschöpft.«
Wer hat sie beauftragt? Kommt sie wirklich von diesem Makeprenz? Von den Holländern? – Hör auf damit.
Sie steuerte auf ihren angestammten Platz zu und ließ ihn dabei nicht aus den Augen.
»Wollen Sie mir sagen, was los ist?«
»Bitte? Oh, ich … Ich müsste mich langsam wieder um Arbeit kümmern.«
»In Ihrem Zustand? Da hab ich eine bessere Idee.« Sie setzte sich und glättete das mit Blumen gemusterte Kleid über ihren Oberschenkeln. »Was halten Sie davon, wenn ich Ihre Geschichte, als Nebenprodukt sozusagen, in einen Artikel verwandele? Ich wollte Ihnen das gestern schon erzählen: Gunther Makeprenz sagt, die Berliner Illustrirte Zeitung hat sich beim Deutschen Klub gemeldet, da der Verlag keine Adresse von Ihnen hat. Er meinte, das Blatt würde gerne einen Artikel über den Anschlag drucken. Aus Ihrer Sicht erzählt. Abenteuerberichte sind derzeit wohl sehr gefragt. Die würden gut zahlen, meinte er. Wir könnten halbe-halbe machen.«
»Danke, ich denke darüber nach«, murmelte er und starrte die Decke an. »Also gut, ich habe drüber nachgedacht, einverstanden.«
Die Lücke zwischen ihren Zähnen. Während sie weitersprach, kühlte sie ihr Gesicht mit den zu einem Fächer gebogenen Seiten ihrer Unterlagen.
»Darf ich Ihnen etwas verraten, ohne dass Sie petzen?«
»Klar.«
»Gunther glaubt Ihnen Ihre Geschichte nicht. Der denkt, Sie sind plemplem. Aber wie es scheint, hat der Angriff auf Sie hohe Wellen geschlagen. Hier in der Gegend, aber auch in der Heimat. Das sollten wir ausnutzen.«
»Ich möchte nicht, dass die Eingeborenen wegen mir Ärger bekommen.«
Sie stutzte.
»Werden sie nicht. Da finden wir schon einen Weg.«
»Was macht dieser Makeprenz eigentlich beruflich? Ich meine, den Deutschen Klub zu betreuen ist doch keine ausfüllende und Geld bringende Sache. Er war gestern kurz hier. Ohne Grund. Kam mir fast so vor, als wollte er Freundschaft schließen. Aber vielleicht wollte er auch nur prüfen, ob was dran ist an dem, was ich Ihnen erzähle. Auf seinen Beruf angesprochen, meinte er, er würde die deutsche Kultur an diesem gottlosen Ort aufrechterhalten.«
»Ober ist der. War er zumindest früher mal. Der oberste Ober oder so, sagt er. Und mangels Alternativen haben sie ihm wohl den Posten beim hiesigen Deutschen Klub angeboten. Mit Kultur hat der so viel am Hut wie ich mit Quantenphysik.«
Sie neigte ihren Kopf und deutete mit dem Finger auf seine Wange.
»Haben Sie das schon mal Doktor Nowack gezeigt?«
Er fasste sich an die münzgroße kahle Stelle zwischen den Barthaaren.
»Das Loch im Bart? Nowack sagt, man nennt das Alpo…, Alopezie oder so ähnlich. Nichts Schlimmes. Was meinten Sie, zahlt die Berliner Dings-Illustrierte?«
»Ich wollte erst Ihre Meinung abwarten, bevor ich mit denen über Geld spreche. Aber ich werde schon einen akzeptablen Preis erzielen, keine Bange. Geschicktes Verhandeln hat mir meine Mutter beigebracht. Wenn ich das Personal unten richtig verstanden habe, planen die heute noch ein paar Tests mit Ihnen, wir haben also nur eine halbe Stunde. Ich würde gerne mit dem Meer weitermachen.« Sie summte leise eine monotone Melodie, während sie mit dem Bleistift an ihren Zeilen entlangfuhr. »Sie sagten gestern, Sie sind bei Saloniki in ihrem engen, schwer bepackten, lädierten, gerade erst geflickten Faltboot, das vermutlich nicht zu diesem Zweck gebaut wurde, aufs offene Meer hinausgepaddelt. Wie würden Sie dem geneigten Leser erklären, warum man Sie darum beneiden sollte?«
Er überlegte.
»Tja. Wie beschreibt man Glück? Vielleicht ist es wie Verliebtsein?« Er sah sie fragend an. »Stellen Sie sich vor: Sie paddeln auf einem friedlichen, von der Schneeschmelze überfluteten Fluss in die riesige, klare, tiefblaue Ägäis. Es war das Schönste, was ich bis dahin erlebt hatte.«
Er spürte die Malaria. Den dick-warmen Atem des Sommers, der in jede Ritze der Psychiatrie drang und seine Konzentration störte.
»Hatten Sie nie Angst vor dem Meer?«
Wieder musste er nachdenken. Aus der Ferne erklang das Geräusch einer Krankenwagensirene.
»Oder anders gefragt: Was war der größte Unterschied zwischen Ihren Fahrten auf den Flüssen und dem Paddeln auf offener See?«
»Der Unterschied«, wiederholte er und spürte, wie sein Gesicht glühte, »ist erst mal gar nicht so groß. An normalen Tagen. Aber wehe, das Wetter ist gegen Sie. Dann vergleichen Sie ein Pfeifen mit einem Orchester. Einen Zahnstocher mit einem Schwert.«
»Lassen Sie hören.«
Ihre Stimme klang, als würde sie am liebsten vor Freude lachen. Etwas störte ihn, doch er fuhr fort.
»Zunächst ist da die Sonne. Auf dem Meer ist sie das reinste Krematorium. Nach dem ersten Tag im Mittelmeer war meine Haut feuerrot. Ich musste mich mit einem selbst gebauten Verdeck aus einem Stück Zelttuch schützen und mir einen nassen Lappen in den Nacken legen, um weniger zu schwitzen und weniger Flüssigkeit zu verlieren. Und ich habe schnell gemerkt, dass ich meine Rudergewohnheiten ändern musste. Sie haben recht: Die Sonnenschein war nicht für den Einsatz auf dem Meer gebaut, war zu schmal für große Wellen. Ich musste mit den Füßen steuern. Das Boot hatte Pedale, die über feste verzinkte Stahlseile mit einem Ruder am Heck verbunden waren. Außerdem hatte ich ein kleines Segel dabei, das ich aufgezogen und an einer Schnur gehalten habe. Mein Körper war in ständiger Anspannung, ich musste fortwährend paddeln oder die Segelleine festhalten.« Er machte es in der Luft über der Bettdecke vor, einen verzweifelten Ausdruck auf dem Gesicht. »Am wichtigsten war, das Ruder am Heck unter Wasser zu halten, um große Brecher zu umschiffen. Im Grunde war es akrobatisches Segeln. Bei Gegenwind kam ich zeitweise nur zweieinhalb Kilometer pro Stunde voran.«
»Wie konnten Sie feststellen, wie schnell Sie waren?«
»Ich habe während der Fahrt eine leere Konservendose genommen und sie gerade über das Segel in die Luft geworfen. Und dann habe ich die Sekunden gezählt, die sie benötigt hat, um hinter dem Heck herunterzufallen.«
Sie nickte und notiert das Gesagte.
»Wie viele Stunden sind Sie täglich gefahren?«
Mit einem Mal wusste er, was ihn störte. Oder nein, nicht störte , es war eher, als forderte es ihn heraus, es gefiel ihm auf eine seltsame Art. Ihre Stimme. Sie kratzte. Nicht heiser, eher als würden Körner auf ihren Stimmbändern liegen. Als wäre sie ständig kurz davor, sich zu räuspern.
»Von morgens bis abends. Solange ich konnte. Wenn es zu heiß war, bin ich nachts gefahren.«
»Wie haben Sie sich orientiert?«
»Ich bin an der Küste entlanggefahren. Hab mich vom Schatten der Bäume, von Tempeln oder Kirchtürmen leiten lassen. Ich war nur selten so weit auf See, dass ich die Küste aus den Augen verloren hätte. Und wenn ich sie doch mal verlassen musste, zwischen zwei weit entfernt liegenden Inseln oder wenn es zu dunkel war, hatte ich meinen Kompass.«
»Verstehe. Was ist aus …?«
Es klopfte. Doktor Nowack, ein schlanker, braun gebrannter Mann mit entspannten Gesichtszügen stand im Türrahmen und tippte auf seine Armbanduhr.
»Noch fünf Minuten, bitte«, sagte sie.
Nowack nieste, hob seine Hand und ging.
»Also gut, beeilen wir uns. Was wollte ich sagen? Ah ja: Haben Sie eigentlich je erfahren, was aus diesen beiden Männern wurde? May und Fischer?«
Sein Blick wanderte von dem abblätternden Putz der Wände zu dem schräg an der Decke hängenden Ventilator und blieb schließlich im dichten Grün der Büsche jenseits des Fensters hängen.
»Es hat eine Weile gedauert, aber irgendwann hatte ich sie tatsächlich aus meinem Kopf verdrängt. Erst an einem sehr merkwürdigen Abend im Deutschen Konsulat von Athen fielen sie mir wieder ein. Ich hatte einen kleinen Umweg genommen, da man mich eingeladen und mir ein dringend benötigtes Honorar zugesagt hatte, wenn ich mich bereit erklären würde, einer Gruppe von deutschen Exilanten von meinen Erlebnissen zu berichten.«
Die Sirene des Krankenwagens schnitt in seine letzten Worte, und unter dem Fenster hörte man nach der abrupt folgenden Stille das Schnurren des eilig vorbeifahrenden Transports.
»Wie würde man diesen Abend betiteln? Welche Überschrift würden Sie ihm geben?«
Er kratzte sich am Arm.
»Telefon.«
»Wieso das?«
»Nein, vielleicht doch besser Fílippos.«
»Das verstehe ich noch weniger. Wer ist das?«
»Ich habe an jenem Tag einen Begleiter bekommen. Jemand, der fortan mit mir im Boot saß. Und der hieß Fílippos.«