A uf dem Foto waren an die vierzig Personen zu sehen. Hinten waren sie auf Bänke geklettert, vorne saßen die Jüngsten und die Ältesten auf Stühle drapiert, dazwischen standen sie ungelenk in zwei lose ineinander verflochtenen Reihen. Die Männer trugen Anzüge (zwei hatten sich einen Frack besorgt), die Frauen gemusterte Röcke oder Kleider mit weißen Spitzenkrägen; den Kindern hatte man entweder Pullunder oder ordentlich zugeknöpfte Hemden mit Hosenträgern verordnet. Eingerahmt wurde die Gesellschaft von der Mauer eines Backsteinhauses und linker Hand von den Ästen einer sich schräg ins Bild lehnenden Linde.
Auf einem Poller im Hafen von Larnaka sitzend, musterte Oskar die Fotografie in seinen Händen wie einen zertretenen Käfer. Für einen Augenblick vergaß er die unerträglich heiße Septembersonne, vergaß die Ekzeme und Pusteln, die sich in den letzten Wochen an seinem Po gebildet hatten. Er vergaß, dass ihm weder seine Eltern noch Seppel oder Elli geschrieben hatten, und sogar Karols Brief ließ er gedankenverloren und ungeöffnet in seiner Gesäßtasche verschwinden.
Auf dem Foto thronte Lieselotte in der Mitte der Gesellschaft in einem eleganten, hellen Kleid. Sofort musste Oskar an den wohligen Duft ihrer venezianisch braunen Haare denken. Auf dem Bild wurden sie seitlich von einer großen Spange gehalten, aus deren Mitte ein Strauch ovale Federn ragte, die das Gesicht einer älteren Dame in der zweiten Reihe verschneiten. Unter dem Blumenstrauß in Lieselottes Schoß ergoss sich ihr Kleid wie ein Schwall Milch bis auf den Boden, wo es schließlich in einer vor der versammelten Gruppe verschütteten Stoffpfütze mündete.
Bei näherer Betrachtung sah Oskar, was ihm zunächst nicht aufgefallen war, was aber die Stimmung der Fotografie maßgeblich färbte. Keiner der Feiernden, weder die Angehörigen noch die Freunde oder deren Kinder, nicht eine Person lachte. Niemand freute sich oder bekundete auf andere Weise eine dem Anlass angemessene Gemütsregung. Auch die Braut nicht. Doch aus all dem versammelten Trübsinn stach die Miene des Bräutigams besonders hervor: Seine hohe Stirn, die dunklen Augenhöhlen, aus denen er einen rätselhaft schaurigen Blick entließ. Der in einem Smoking gefangene Mann hielt auf dem Foto Lieselottes Hand fest, als drohe sie weggeweht zu werden.
Oskar kannte Erich Weißdorn als einen Freund aus dem Hoppe, als Karols ehemaligen Arbeitgeber, aber auch als eine schattenhafte Figur, dessen Charakter er nie ganz hatte ergründen können. Erich war ein Mann, dem es schwerfiel, sich zu positionieren, eine Meinung zu haben und diese offen zu vertreten. Seine Geschäfte absolvierte er im Verborgenen, hinter dem Rücken der anderen. Und selbst auf diesem Foto schien sein unmöbliertes, finsteres Gesicht sein Unwohlsein über eine Hochzeit zu verraten, die ein für ihn ungewöhnlicher Schritt ans hellste Tageslicht war. Darüber hinaus zeugte jener Schritt davon, dass er einem Freund die Frau stahl.
Und die Frau sich stehlen ließ.
Als Oskar in den Umschlag fasste, fand er eine kleine Karte, auf der nur zwei Worte standen. Und für einen winzigen Moment fragte er sich, ob er versehentlich die Postsendung erhalten hatte, die eigentlich einen entfernten Cousin Lieselottes oder einen alten Freund aus Kindheitstagen erreichen sollte, jemanden jedenfalls, dessen künftige und eigentlich unwichtige Gewogenheit sie sich nur anstandshalber mit einer solchen, auf das Wesentliche reduzierten Information vergewissern musste.
Habe geheiratet.
»Oskar, come, ship is waiting.«
Oréstis tippte ihm auf die Schulter. Der drahtige Grieche, dessen schwarz glänzende Locken sich jedes Mal zu freuen schienen, wenn er sprach, deutete mit seinem Kopf ans Ende des Piers. Oskar schmiss Lieselottes Foto mitsamt der Karte ins Hafenbecken und trottete ihm hinterher.
Sie bahnten sich einen Weg durch die laut debattierende Menschenmenge am Hafen. Ein Mittelmeerdampfer der Lloyd-Triestino-Reederei war am Vormittag eingelaufen und hatte mehrere Hundert Reisende ausgespuckt, die sich nun orientierungslos am Kai im Kreis drehten und abwechselnd Fremdenführern, Hotelvermittlern, Taschendieben oder Chauffeuren in die Arme liefen.
»Taxi ride« – »Two Schilling, Sir?« – »Ninety, friend, ninety Piaster …«
Sie waren bis zum Marktplatz direkt am Hafen vorgedrungen, als Oréstis stehen blieb und auf einen riesigen Passagierdampfer mit drei kunstvoll verzierten Aussichtsplattformen deutete, der etwas außerhalb der Hafengemäuer vor Anker lag. Motorboote flitzten zwischen dem Schiff und einem Steg hin und her.
»Macedonia!« Oréstis strahlte. »Your ceremony. Award!«
Auf dem Schiffsdeck hatten sich vor dem Achtersteven Rembetiko-Musiker aufgebaut, die mit Gitarren, Baglamas, einem Akkordeon, Geigen und Bouzoukis traurige Lieder anstimmten, bis ein Matrose zu ihnen trat, ihrer Sprache offenkundig nicht mächtig, und sie ungelenk gestikulierend aufforderte, etwas Munteres zu spielen. Oskar und Oréstis schlenderten unter den vom Bug bis zum Heck gespannten Lichterketten entlang, vorbei an großen, auf dreibeinigen Stativen stehenden Jupiterlampen, die mit ihren grel len Zyklopenaugen auf die oberen Decks, den Schornstein und die Masten zielten. Um sie herum plätscherten Gespräche vor sich hin, Gläser klirrten, und übertriebenes Lachen flackerte auf. Überall waren Menschen, überall Stände und Händler, die sonst am staubigen Hafen ihre Waren anboten und sich nun auf den Decks aneinanderreihten.
Während Oréstis auf an Bändern hängende, gerupfte Vögel und an Bindfäden aufgezogene Meerestiere zeigte, unter ihnen, wie er stolz erklärte, der begehrte Tintenpolyp, überlegte Oskar, wie er Lieselotte antworten würde, ob er ihr überhaupt schreiben sollte. Irgendwann würde er sie im Hoppe treffen. Vermutlich mit Erich. Der Gedanke lähmte ihn. Ein Schuhmacher zog ihn am Ärmel, bot ihm einen langschaftigen Stiefel an.
Du weißt es doch längst: Du kehrst nicht nach Hamburg zurück.
Sie kamen an einer fahrbaren Garküche vorbei, in der kleine Fleischstücke über einem Holzkohlenfeuer brieten, und Oskar fragte sich, ob er Karol würde überreden können, nach Zypern überzusiedeln. Es würde ihm gefallen. Natürlich würde es das. Wie oft hatten sie sich an weit entfernte Strände, auf die Straßen und in die Cafés von Städten mit exotischen Namen geträumt. Hatten aussichtslos Seemannsgarn gesponnen, wer zuerst eine Spanisch sprechende oder nur mit einem Lendenschurz bekleidete Frau finden würde und mit welcher Geschäftsidee sie auch im Ausland alles auf den Kopf stellen könnten. Und wozu sonst hatte er in den letzten Tagen all seine Erkundigungen eingeholt?
Er gab Oréstis, der sich heiter mit einem zwischen Türmen aus Kunsthandwerk und Stoffballen sitzenden Schneider stritt, ein Zei chen, dass er im Schiffsinneren die Toilette aufsuchen wolle. Vor sichtig drängelte er sich durch die Menge, »Entschuldigung, excuse me«, als ihn jemand von hinten ansprach. Ein rundlicher älterer Herr mit streng gestutztem Resthaar und dick umrandeter Nickelbrille stellte sich als John Hagenbeck vor. Er sei der Halbbruder des Hamburger Tierparkbesitzers, selbst Händler exotischer Exemplare aus der Tierwelt und froh, jemanden gefunden zu haben, der Deutsch spreche.
»Ich bin auf der Insel, um mir ein paar Gnus für meine Revue anzusehen. Nächstes Jahr soll es durch Europa gehen. Wo kommen Sie her?«
»Ich bin auch aus Hamburg«, sagte Oskar ungeduldig.
Er wollte vor der Ehrung in Ruhe Karols Brief lesen, aber Hagenbeck ließ ihn nicht gehen.
»Na, sieh einer an. Ich wohne inzwischen auf Ceylon, bin nur zwei Wochen hier.«
Ein Ober mit Tablett schlängelte sich zwischen ihnen hindurch.
»Und was machen Sie hier?«
»Ich bin mit meinem Faltboot nach Zypern gekommen. War eine Art Wettfahrt.«
John Hagenbecks Gesicht leuchtete auf.
»Dann wird der ganze Zinnober hier Ihretwegen veranstaltet! Gratuliere.«
Über ihnen läutete jemand die Schiffsglocke.
Die Gespräche verstummten, und der Kapitän der Macedonia stellte sich für alle Gäste gut sichtbar an die Reling des ersten Sonnendecks. Die goldenen Knöpfe an seinem Jackett glänzten, an den Epauletten hingen kleine Kordeln. Vor ihm war ein rundes Mikrofon aufgebaut.
»Meine Damen und Herren, Ladies and Gentlemen, Axiotimi kyries ke kikeriki, oder wie das hier bei Ihnen heißt.«
Der Kapitän, ein Mann aus Bahrenfeld, erklärte, zwei Dolmetscher seien eigens erschienen, um für die Anwesenden alles Folgende sowohl ins Griechische als auch ins Englische zu übersetzen. Er erläuterte das Ausmaß der sportlichen Leistung, die an diesem Abend zu würdigen man zusammengekommen sei, rekapi tulierte die Regeln des Wettstreits, stellte ihn in eine Reihe mit der Weltumrundung Elly Beinhorns, ließ verlauten, dass man organisatorische Pannen mit der Kurzfristigkeit der anberaumten Feier entschuldigen müsse, und erklärte, eine weit größere Ehrung sei alsbald in Berlin geplant.
Nervös überlegte sich Oskar, was er sagen würde.
»Begrüßen Sie deshalb nun mit mir den Sieger der Wettfahrt von Deutschland nach Zypern.«
Ein Mann mit einer Rührtrommel begann, einen langsam anschwellenden Wirbel zu spielen, und Oskar suchte den Aufgang zum Sonnendeck.
»Heißen Sie den größten Abenteurer unserer Tage willkommen: Herrn Henri May!«
Zwei Konfettikanonen schossen Papierschnipsel in den Abend, die Menge johlte und applaudierte. Ein sichtbar ausgeruhter May erschien hinter dem Kapitän und winkte den Gästen zu, ehe er seine Hände als Zeichen seiner Dankbarkeit über seinem Kopf verschränkte.
»Entschuldigen Sie«, rief John Hagenbeck Oskar über den Jubel zu, »aber wer ist das?«
Weitere Menschen drängten vom Bug des Schiffes unter das Sonnendeck, und Oskar musste sich am Fallreep festhalten, um nicht umzufallen. Er zog Karols Brief hervor, riss ihn auf und wendete das Blatt in seinen Händen. Eine aufkommende Brise zog daran.
Nur langsam beruhigte sich das Volk auf dem Dampfer, ein schlaksiger Mann ergriff das Wort und reckte eine kleine Kiste in die Höhe.
»Guten Abend, mein Name ist Walter Schwencke, und hier in meinen Händen halte ich nicht weniger als zehntausend Reichsmark! Die Brauerei Schall & Schwencke ist stolz, mit diesem Geld den deutschen Helden Henri May auszeichnen zu dürfen.«
Die Übersetzung erfolgte und erneut erklang tosender Jubel.
Oskar –
Nie zuvor hatte Karol ihn so angesprochen. Nicht persönlich und nicht in einem Brief.
… irgendwas ist furchtbar schiefgelaufen. Von Stäblein war gerade bei mir und sagte, der Dortmunder habe Zypern erreicht. Vor dir! Er gab mir vierundzwanzig Stunden, um unsere Schulden zu bezahlen. Ich schreibe dir vom Bahnhof aus. Ich werde verschwinden. In die ländliche Bedeutungslosigkeit. Nehme meine Mutter mit, es ist zu gefährlich. Ich habe nicht viel Zeit.
Lass uns den Kontakt einstellen. Zeig diesen Brief niemandem.
Es tut mir so leid.
Dein bester Freund Karol
PS : Geh nicht zu der Siegerehrung! Auf keinen Fall gehst du da hin, verstehst du? Und verlier meinen Schlips nicht, Osse. Adieu.
»Es tut mir leid, wenn ich das falsch interpretiert habe. Ich wollte Sie nicht kränken.«
Oskar sah Hagenbeck verständnislos an, hörte ihn kaum.
Der Kapitän animierte die Leute zu einem dreifachen »Hipp, hipp, hurra«. Und dann erklärte May auf dem Sonnendeck, man könne im Anschluss Postkarten mit zwei Motiven erwerben – eine mit seinem Konterfei, die andere mit ihm vor seinem Klepper-Boot. Gerne werde er diese signieren, ein hölzernes Modell seines Faltboots könne ebenfalls bestaunt und, ja, auch angefasst werden, bevor er es einem Museum in München spenden würde.
John Hagenbeck verschränkte die Arme vor seiner Brust und verfolgte nachdenklich das Geschehen über ihnen.
»Sagten Sie nicht, dass es sich um eine Wettfahrt mit Faltbooten handelte?«
Oskar wischte einen Konfettischnipsel von seiner Nase.
»Ja. Henri May war mit einem Partner unterwegs. Mit zwei Klep per-Booten. Entschuldigen Sie mich. Ich muss auf die Toilette.«
Hagenbeck rief ihm hinterher: »Besuchen Sie mich mal auf Ceylon. Ist wunderschön dort.«
Schwankend bewegte sich Oskar in Richtung einer der Eingänge zum Schiffsinneren. Er hörte noch, wie Theo Fischer auf dem Sonnendeck erläuterte, dass der Chefredakteur des TIME Magazine ihm zwei Seiten mehr als die geplanten acht für einen Artikel zugebilligt habe, und er sah, dass Henri May währenddessen hinter ihm stand und gähnte.
Als Oskar zurückkam, hatte ein kräftiger Wind eingesetzt. Wellen ließen das Schiff sanft schaukeln. Die Ehrung war vorbei, die Gäste hatten sich wieder auf den diversen Decks der Macedonia verteilt. Auch Hagenbeck war verschwunden. Ein griechischer Kell ner, der ein Tablett mit Sekt, Ouzo und Cognac balancierte, glitt an ihm entlang und fragte auf Englisch, ob Oskar zugreifen wolle, doch der Angesprochene reagierte nicht. Stattdessen eilte Oréstis zu dem Ober, tippte ihm auf die Schulter, griff ein Glas Ouzo und prostete seinem deutschen Freund besorgt zu.
Neben ihnen wurde es laut.
Der Kapitän und Henri May schlenderten gemächlich über das Deck, im Schlepptau eine vielköpfige Entourage aus wichtigen Gästen der Oberschicht, ein paar Mitgliedern des Militärs sowie einem Mann, in dessen Brusttasche diverse Wimpel steckten. Das mächtige, rote Kinn des Kapitäns warf am Hals eine Reihe Falten, die Hände hielt er hinter seinem Rücken verschränkt. Er hörte dem Dortmunder zu, der neben ihm lief und dabei die Gewinnerkiste mit dem Geld in den Händen wendete.
»… natürlich nicht einfach. Der Türke ist von ganz anderem Schlag. Die Brüder muss man zu nehmen wissen. Wenn Sie sich mit denen fraternisieren, sind Sie ruckzuck deren Diener. Ich habe es gerade schon zu Walter gesagt: Der Ton macht die Musik. Klare Ansagen.«
Sie waren beinahe an Oskar vorbei, als Henri May plötzlich stehen blieb, sich nach ihm umdrehte und stutzte.
»Hab ich doch recht gehabt. Das ist ja eine herrliche Überraschung. Ich wusste, dass ich dich vorhin schon vom Sonnendeck aus gesehen hatte. Ich hatte bei der Brauerei angeregt, dich einzuladen. Walter fand die Idee hervorragend. Bist du gerade angekommen?«
May wartete die Antwort nicht ab. Er sah sich nach dem großen, hageren Mann mit den Wimpeln um und winkte ihn zu sich.
»Walter, das is’n Ding, hier hast du deinen Zweitplatzierten. Da machen wir nachher noch ’n Foto. Und ein Kasten Freibier sollte auch drin sein, oder?«
Henri Mays Lachen. Nicht echt, aber laut.
Der Mann von der Brauerei winkte zum Zeichen seiner Zustimmung entspannt ab, doch als er Oskar ansah, registrierte der etwas Konzentriertes, Feindseliges in seinem Blick.
»Das ist Oskar Schreck, der Zweite«, erläuterte May, dem Kapitän zugewandt. »Den haben wir in … Österreich war es, glaube ich, getroffen. Theo weiß so was immer besser. Wir haben ihn damals zu uns ans Lagerfeuer gesetzt und erst mal durchgefüttert. Unter Ruderbrüdern muss man sich unter die Arme greifen, auch wenn man Konkurrenz ist. Wie geht’s dir?«
Er gab dem Hamburger einen Klaps auf die Schulter.
Oskars Kinn zitterte. Er sah Theo Fischer an, der hinter May stand und seinem Blick auswich. Ihm fiel ein, was ihm Mark Twain zwei Tage zuvor von den Seiten des Büchleins aus geraten hatte:
»Freundlichkeit ist die Sprache, die die Tauben hören und die Blinden sehen können.«
»Ich …«, begann Oskar tonlos, während sich das Wort »Zweitplatzierter« aufgespießt vor seinen Augen drehte.
»Entschuldigen Sie, aber ich muss Einspruch erheben.«
John Hagenbeck, der in zweiter Reihe stand, hatte sich eine Zigarre angesteckt und brachte sie durch Paffen zum Glühen. Der gesamte Pulk drehte sich zu ihm um.
»Oder … Eigentlich möchte ich nur eine Frage stellen.«
»Wenn es nicht zu lange dauert«, sagte May und versuchte, entspannt zu klingen.
»Hagenbeck mein Name. Vermutlich werden Sie das ruckzuck erklären können, und ich möchte Ihre Feier auf keinen Fall stören. Aber eines verstehe ich nicht.« Der Tierhändler paffte. »War es bei diesem Wettbewerb erlaubt, Teile der Strecke mit einem Motorboot zurückzulegen?«
Ein unruhiges Murmeln wanderte durch die Menschentraube, zwei Männer lachten verstohlen.
»Was soll das heißen?«, fragte Walter Schwencke und machte einen Schritt nach vorne.
»Diese Herren«, Hagenbeck deutete auf May und Fischer, »sind in einem Motorboot nach Zypern gekommen.«
»Sie sind ja nicht recht bei Trost«, konterte May.
Walter Schwenckes Tonfall klang nun nüchtern, interessiert: »Woher wollen Sie das wissen?«
»Nun, ganz einfach«, sagte Hagenbeck, putzte sich einhändig mit einem Taschentuch die Nase und verstaute es in seiner Hosentasche. »Ich war mit den beiden Herren zusammen an Bord dieses Motorboots.«
»Das ist doch absurd.« Henri May verzog das Gesicht. Dann sah er sich Hagenbeck genauer an. »Moment mal, ich habe Sie doch vorhin gesehen, wie Sie mit Oskar gesprochen haben. Sie sind befreundet. Soll das ein Komplott werden?«
Hagenbeck ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Womöglich haben Sie mich auf dem Boot nicht wahrgenommen. Aber eine Verwechselung ist ausgeschlossen. Vor zwei Wochen haben Sie und Ihr Freund sich von Kastelorizo aus von einem Motorsegler auflesen und zwei Kilometer vor der zypriotischen Küste in ihren Booten absetzen lassen. Ich hatte mir seinerzeit nichts dabei gedacht, hatte vermutet, es habe mit dem Tidenhub zu tun oder dass Sie den Tag mit etwas Sport beenden und die Gelegenheit nutzen wollten. Es waren einige Menschen an Bord.«
Walter Schwencke verfolgte den Disput aufmerksam.
May versuchte, seine Contenance zu wahren, und wandte sich Oskar zu.
»Hast du dir diesen Schwachsinn ausgedacht? Soll das witzig sein? Du bist mir ein schlechter Verlierer, wirklich. Ihr könnt ja versuchen, das zu beweisen, viel Spaß.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Oskar leise.
May starrte ihn reglos an.
»Ich werde deinen Sieg nicht anfechten, deinen Rekord.«
»Das will ich auch hoffen.«
»Ich werde stattdessen einen neuen aufstellen. Noch bevor Sie alle«, er deutete vage in die Runde, »zurück in Deutschland sind, werde ich mit meinem Faltboot bereits den Euphrat hinabfahren. Ich habe mich erkundigt. Die Behörden verweigern einem die Passage durch den Suezkanal, also geht es nur gen Osten. Und wenn die Sache tatsächlich mit Elly Beinhorn mithalten soll …« Er nickte Schwencke zu. »Vielleicht erweitern Sie den Wettbewerb? Vielleicht auch nicht. Mir ist es egal. Ich muss noch ein paar Schreibmaschinen reparieren, dann fahre ich weiter.«
Erneut setzte Unruhe ein, während sich Oskar, der Ohnmacht nahe, fragte, wie er diese Sätze in aller Seelenruhe hatte aussprechen können.
»Das ist gar nicht mal so dumm«, sagte Walter Schwencke, blickte amüsiert auf Oskar herab und adressierte anschließend May. »Der Fairness halber frage ich den Sieger ganz offiziell: Haben Sie etwas dagegen, dass wir das Geld wieder in den Topf werfen und eine richtig große Sache daraus machen? Die Brauerei, das sage ich hier und heute zu, legt noch mal fünftausend Reichsmark obendrauf.«
Henri May hauchte einen Lacher.
»Von mir aus. Wenn Herr Scheck sich weiter der Lächerlichkeit preisgeben will.« Er machte eine gelangweilte Geste. »Gegen einen neuen Rekord habe ich nichts einzuwenden. Größer als Beinhorn, hervorragend. Darf man fragen, wo auf unserer Reise der finale Akkord erklingen soll?«
Die Geräusche der Gruppe waren verebbt. Entfernt hörte man die Wellen plätschern. Alle, May, Fischer, Hagenbeck, Walter Schwencke, der Kapitän und sein Gefolge, Oréstis, der in einem Bissen verharrte, im Halbdunkel stehende Militärs sowie gut zwei Dutzend Schaulustige, Frauen, Männer, sogar zwei Kinder, alle blickten sie auf Oskar und erwarteten eine Antwort.
Auf Deck rollte ein paar Meter weiter ein Glas.
Der Hamburger schluckte, seine Augen wanderten von einem zum anderen.
»Ich …«, sagte er, als sein Blick bei Hagenbeck hängen blieb. »Ich fahre mit meinem Faltboot nach Ceylon.«