DAS FÜNFTE GESPRÄCH

Mit dem Schwung der aufgehenden Tür brach es aus ihr hervor.

»Ich habe brillante Neuigkeiten für Sie.«

Zwei Finger an die Nasenwurzel drückend, lag er im Bett, die Augen geschlossen, knurrte leise.

Sie blieb im Türrahmen stehen.

»Na prima. Und ich hatte schon befürchtet, dass Sie sich nicht freuen würden.«

»Freuen würde mich eine Ladung Chinin von der Größe eines Backsteins. Diese Kopfschmerzen bringen mich noch um. Die Schwester spricht nur Boso Suroboyoan. Ich habe hier noch keinen …«

Der Rest des Satzes war Schlurren und Stöhnen.

»Haben die Ihnen was gegeben?« Sie bemerkte die Kisten und Taschen, die neben seinem Bett standen. »Oh, Ihre Sachen sind gekommen.«

»Jabisaufmeinboot.«

Ihre Schultern sanken. Ein Hundeblick.

»Es tut mir so leid. Ist wirklich eine Gemeinheit, dass die Holländer es vernichtet haben. Was ist mit diesem Hersteller, Pionier, könnten Sie die nicht fragen, ob sie Ihnen ein neues schicken?«

Er schluckte, schien nur schwer Luft zu bekommen.

»Die Pionier-Werft ist vor Monaten abgebrannt. Ein Mann von der Versicherung hat mir geschrieben. Ich hatte bereits vor einiger Zeit wegen neuer Stabtaschen und Querspanten angefragt.«

»Dann treiben wir eben ein anderes auf.«

Erheitert atmete Oskar durch die Nase aus.

»Hier gibt es weit und breit keine Faltboote, nichts dergleichen. Vielleicht besser so.«

Sie blickte enttäuscht auf die Taschen.

»Haben Sie schon nachgesehen, ob noch alles da ist?«

Mühsam reckte er sich, schielte auf das Gepäck, nickte und nahm wieder seine ursprüngliche Position ein.

»Eigentlich wollte ich Sie zu einem Spaziergang einladen. Ich habe die Erlaubnis, Sie für eine Stunde zu entführen.«

Als eine Reaktion ausblieb, trat sie vorsichtig an das Ende des Bettes.

»Wir können das auch auf morgen verschieben. Sie sollten allerdings wissen, dass die Berliner Illustrirte Zeitung statt nur eines Artikels jetzt zwei abdrucken möchte, in zwei aufeinanderfolgenden Wochen, und mit etwas Glück bekommen wir auch noch einen Beitrag im Lokalanzeiger .« Sie wartete, verscheuchte mit ihrer Kladde eine Fliege von ihrem Gesicht. »Die Illustrirte möchte schon bald die ersten Ergebnisse sehen. Eigentlich müssten wir weiterarbeiten.«

Er rieb sich die Stirn und zeigte blind auf einen seiner Messingkanister.

»Da, der erste dort, öffnen Sie ihn und suchen Sie nach einem dunkelbraunen Karton. Darin befinden sich meine Aufzeichnungen. Können Sie ruhig lesen. Nehmen Sie sich etwas aus den Jah ren 1933 bis 35 heraus. Wo wir stehen geblieben waren. Fotos müssten Sie dort auch finden.«

Müde verfolgte er ihre Suche, sah ihre Beine, ihren Po, den beim Bücken darüber gespannten Rock. Ihm wurde warm, er versuchte sich zu konzentrieren.

»Achten Sie auf die Eintragungen aus Belutschistan. Sir Norman Carter. Porbandar.«

In dem verwaisten, weitläufigen Innenhof der Psychiatrie setzte sie sich mit seiner Kiste auf eine Bank unter einen Rosenapfelbaum, dessen Äste die Sonne abwehrten, die an der höchsten Stelle des Himmels angekommen war. Längliche Blätter des Baumes bedeckten um sie herum den hellbraunen Kies, dazwischen der dunkle Matsch einiger heruntergefallener Rosenäpfel.

Die Unterlagen sahen vergilbt und mitgenommen aus. Sandkörner rieselten aus der Bindung der Bücher und Hefte. Sie roch Salzwasser und abgestandene Luft. Ein kleines Insekt krabbelte aus den Seiten. Das Gros des Materials war ordentlich sortiert und unterlag einer gewissen Chronologie, wie sie bei einer ersten Durch sicht feststellte. Sie fand einen ihm gewidmeten, ausgeschnittenen Artikel des Völkischen Beobachters vom Dezember 1934 und einen getippten Polizeibericht der Stadt Khambhat, in dem das Wort »Spy« dreifach unterstrichen auftauchte und an dessen Fußende sie einen handschriftlichen Vermerk entdeckte:

»Wenn du stets die Wahrheit sagst, brauchst du dir nie etwas zu merken. M.T.«

Vorsichtig spähte sie in Bücher und Notizhefte, in Umschläge und Mappen. Sie sah sich im Innenhof um, bevor sie eine dicke Kladde aufschlug, auf der das Wort »Tagebuch« stand. Dann blätterte sie zu einem Datum des von ihm erwähnten Jahres 1933 und begann, an einer Stelle zu lesen, die mit Ausrufezeichen markiert war.

Wieso bloß habe ich nie schwimmen gelernt? Sie haben auf uns geschossen. Ich weiß nicht, wer oder warum. Es passierte abends. Fílippos und ich trieben in der Dunkelheit dahin, als wir plötzlich ein Knallen hörten, als würde jemand weit hinter uns große Steine auf Beton werfen. Ich flüsterte Fili zu, er solle stillhalten. Aber er jaulte auf einmal, sprang an mir empor und taumelte den Bug entlang, ganz so als hätte er einen epileptischen Anfall. Dann tapsten seine Pfoten ins Nichts und er klatschte rücklings in den Euphrat.

Nach zwei weiteren Schüssen war Ruhe. Ich schlüpfte sofort ins Wasser. Nichts als schwarze Tinte, die Fußsohlen des Universums, alles, nur nicht mein getreuer Hund. Also versuchte ich es. Klemmte mit den Fingern meine Nase ab und ließ mich hinabsacken. Das Wasser war tief und furchtbar kalt, und ich glitt starr wie ein Stein hinunter, schaffte es einfach nicht, mich zu bewegen, bekam stattdessen Panik und tauchte schnell wieder auf.

Hülfe, Hülfe, so hülft mir doch.

Wie recht diese Angeber doch hatten. Ich bin zu nichts zu gebrauchen.

Der Euphrat hatte Fílippos verschluckt, als hätte es ihn nie gegeben.

Ich hörte Männerstimmen, habe mich tot gestellt und gewartet.

An die anschließende Fahrt in der Nacht und an die nächsten Tage habe ich kaum eine Erinnerung.

Auf den Seiten danach folgten ein paar unzusammenhängende Passagen, belanglose Beschreibungen der Natur und einiger Bauern. Erst auf der vierten Seite nach dem Eintrag über den Überfall veränderte sich der Ton seiner Schilderungen wieder.

Nach einer furchtbaren Fahrt über den berüchtigten Chor Musa, von Hunger und Durst fast in den Wahnsinn getrieben, traf ich einen Monat später auf die ersten Perser. Ich wurde dort von den beiden Wachtpolizisten auf das Freundlichste aufgenommen und konnte mich, nach Wochen üblen Hungerleidens, an Reis mit Huhn gütlich tun. Bekam hierbei einen erschreckenden Eindruck von der Armut der dortigen Bevölkerung. Ein gerade anwesender Dorfbarbier verschlang, nachdem ich meine Mahlzeit beendet hatte, die von mir sauber abgenagten Knochen.

Sie blätterte ein paar Seiten weiter.

Besonders schlimm ist nach wie vor der Schrecken des Alleinseins und der Hilflosigkeit: ausgeliefert der sturmzerwühlten See in absoluter Finsternis. Gepeinigt vom Fieber, kämpfend mit der Müdigkeit, unfähig, auch nur einen Muskel meines Körpers zu benutzen. Ich verbringe Stunden voller Wut über mich selbst und solche der tiefsten Verzweiflung, in denen ich mein Boot, mein Abenteuer, meine Situation und mein ganzes Leben verfluche. Wieder habe ich nach der zwölften oder dreizehnten Stunde auf dem Wasser Kreuze gesehen.

Lebe stumm und allein. In meiner eigenen, abgeschotteten Welt.

Beim Umblättern entdeckte sie ein paar Fotos von Sturm- und Seeschwalben, Aufnahmen von Küstenabschnitten und mächtigen Felsen, die zwischen die Seiten gesteckt waren. Sie fragte sich, ob die Holländer vor der Auslieferung des Gepäcks alles durchge sehen hatten. Manche der Fotos waren verwackelt, auf anderen waren bestimmte Stellen mit Kreuzen und Kreisen markiert.

Langsam sondierte sie die Aufzeichnungen, bis sie ganz hinten auf zwei Fotos stieß, die offensichtlich nicht auf der Reise geschossen wurden. Sie besah sich das erste, auf dem ein Mann und eine Frau – Specks Eltern, wie sie vermutete – hintereinanderstehend, die Hände auf das Endstück eines römischen Geländers gelegt, in die Kamera schauten, als beäugten sie ein Pendel, das gerade von einem Hypnotiseur einen leichten Stoß versetzt bekommen hatte.

Manche Menschen , dachte sie, können mit einem einzigen Gesichtsausdruck vermitteln, wie unglücklich sie sind, wie frustriert darüber, dass sie kein Glück der Welt zu fassen bekommen, und wie sie das Glück deshalb als solches verachten. Die zwei Personen auf dem Bild vor ihr, so befand sie, gaben dabei ein ganzes unwohles Leben preis.

Etwas länger betrachtete sie das zweite Foto, auf dessen Rückseite jemand dick »K und ich bei Cuxhaven« und darunter »nicht gekentert, nicht aufgegeben« gekritzelt hatte. Es war an einem Strand aufgenommen und zeigte den Mann, den sie die letzten Tage hier in der Psychiatrie besucht und befragt hatte, als Jungen von vielleicht elf oder zwölf Jahren. Ein Paddel aufrecht in seiner rechten Hand haltend, stand er neben einem kräftigen, untersetzten und ungefähr gleichaltrigen Kerl, der einen ungemein selbstsicheren Eindruck vermittelte und Haare wie Besenborsten hatte, von denen ihm eine Strähne in die Stirn hing. Hinter ihnen lag ein Zweisitzer-Kajak, das schräg auf dem nassen Sand platziert war, damit es, wie sie annahm, ganz auf das Bild passte. Kerzengerade standen die Jungen Seite an Seite, mit dem rührenden Ernst ehrlicher Erschöpfung auf ihren Gesichtern. Auch sie schauten beide direkt in die Kamera und hielten sich verschworen an den Händen, wie es nur zwei können, die gar nicht wissen, wie sehr sie sich lieben.

Sie musste schlucken, so eingenommen war sie von der Intimität dieses vergangenen Moments. Sie beschloss, alles Weitere am nächsten Tag mit ihm selbst zu besprechen, und verstaute das Tagebuch in ihrer Tasche, um es später auf ihrem Zimmer im Klub in Ruhe zu lesen. Als sie die Kladde mit den restlichen Dokumenten zurück in den großen Karton legte, fiel ihr ein verschnürtes Bündel auf, das sie in der Kiste übersehen hatte. Sie öffnete die Schnur und blätterte durch Briefumschläge, je einer von Seppel und Heinrich, zwei von Elli Speck. Dazu ein paar Zeilen auf einer Karte der Mutter: Wieso er nicht wiederkomme? Mit Deutschland gehe es bergauf. Dahinter fand sie ein paar offizielle Sendungen der Altonaer Kreditbank sowie ein weiteres, dünneres Postbündel, das mit einer Paketschnur zusammengebunden war.

Sie blickte über ihre Schulter, hinauf zu dem zum Hof hin offenen Gang im ersten Stock, der zu seinem Zimmer führte. Dann holte sie tief Luft und schnürte auch dieses Paket auf.

Alle Briefe waren an ein und dieselbe Person adressiert.

Sie fahndete nach Datumsangaben und zog schließlich eines der Schriftstücke aus seinem Umschlag.