DAS SECHSTE GESPRÄCH

Kurz bevor ihre locker geschlossene Faust gegen den abblätternden weißen Lack der Tür klopfte, hörte sie die Männerstimmen. Sie spähte in beide Richtungen den Gang hinab und legte vorsichtig ihr Ohr an das Holz.

Ein Mann sprach in perfektem Oxford-Englisch, so ruhig und reserviert, dass sie lediglich den Klang seiner Stimme vernahm. Ein zweiter Brite ergriff das Wort, sagte etwas von Konsequenzen und, wenn sie richtig verstand, von Arbeitslager und Hinrichtung.

»No, no, please …«

Speck .

Seine weiteren Proteste gingen in sich kreuzenden, dumpfen Sätzen unter. Dann ein Akzent.

»Wir machen morgen eine letzte Untersuchung, ab übermorgen acht Uhr sind Sie ein freier Mann.«

Schritte. Mit einem Ruck wurde die Tür geöffnet. Sie zuckte zusammen.

»Oh, Entschuldigung«, sagte Dr. Nowack und schob sich mühsam lächelnd an ihr vorbei. Der Arzt schwitzte.

Gili blieb im Türrahmen stehen.

Der Faltbootfahrer saß in Hemd und Hose aufrecht auf dem Bettrand, frische Verbände waren um Kopf und Hände gewickelt. Am Fenster lehnte mit verschränkten Armen Gunther Makeprenz. Am Fußende des Bettes verharrten zwei Uniformierte, denen die Anspannung in die Gesichter geschrieben stand. Als sie gingen, nickten sie Gili Baum knapp zu.

»Wer waren die Herren?«

»Ein britischer Offizier und sein Adjutant, Vertreter der englischen Regierung oder des Militärs, so genau habe ich es nicht verstanden. Es ging um den Mordanschlag auf mich.«

»Oskar hat sich sehr ehrenwert dafür eingesetzt, dass seine Peiniger eine möglichst geringe Strafe erhalten. Die Gesichter der Tommys hättest du sehen sollen. Aber wir haben ihnen gesagt, dass es wichtig ist. Das solltest du auch in deinen Artikel für die Berliner Illustrirte einarbeiten.«

»Na klar. Wäre es arg schlimm, wenn ich dich und deine besondere Freundschaft zu Herrn Speck in dem Artikel erst im zweiten Absatz erwähne?«

»Oh, sieh einer an. Die kann ja die Krallen ausfahren.« Er brummte belustigt. »Spaß beiseite. Ich stamme doch auch von Tom Sawyer ab. Meinst du, ich latsche am Arsch der Welt herum, weil mich jemand hier vergessen hat? Oskar und ich, wir suchen beide das Abenteuer.« Mit einem Ruck wandte er sich wieder dem Hamburger zu. »Du solltest allerdings nicht außer Acht lassen, dass die Engländer ihre ganz eigenen Interessen verfolgen. Und den Käsköppen würde ich auch nicht trauen. Von den Einheimischen ganz zu schweigen, aber das brauche ich dir ja nicht zu erzählen.«

»Hast du noch Fragen?« Gili Baum sah Gunther Makeprenz an, die Brauen nach oben gezogen. »Ich würde gerne mit Herrn Speck weitermachen. Er kann mir wahrscheinlich am besten selbst erzählen, wie der Angriff verlaufen ist.«

Makeprenz erwiderte ihren Blick.

»Natürlich, Mädchen. Macht ihr mal weiter mit dem Artikel. Das Ding muss ja fertig werden.«

Im Gehen wischte er sich mit einem Stofftaschentuch Schweiß von der Stirn, drehte sich im Türrahmen noch einmal um und verabschiedete sich, indem er seine Finger in Augenhöhe ein paar unsichtbare Tasten spielen ließ.

»Kackstelze«, flüsterte Gili, als er weg war. »Seit wann ist er so vertraut mit Ihnen?«

»Ich habe ihn nicht darum gebeten. Er war die letzten Tage immer mal kurz zu Besuch und scheint seine Meinung über meine Fahrt geändert zu haben. Ich glaube fast, er will mein Freund sein. Vielleicht hat Nowack ihn überzeugt.«

Gili stellte ihre Tasche auf das Fensterbrett und begann, konzentriert etwas darin zu suchen.

»Sagen Sie, wo wir schon bei dem Anschlag sind: Ich würde Sie bitten, das nicht zu reißerisch in dem Artikel zu verarbeiten. Das klingt vielleicht komisch, aber die Männer tun mir irgendwie leid.«

»Keine Angst, das kriege ich hin. … Er muss hier doch irgendwo sein, heiliger Bimbam«, fluchte sie leise vor sich hin.

Vorsichtig begab Oskar sich in einen Schneidersitz. Beobachtete sie, wie sie in ihrer Tasche wühlte. Nach allem, was er wusste, war sie allein hier, am Ende der Welt. Und strahlte das Selbstbewusstsein einer einsamen Königin aus. Die mit anderen nur belanglos plaudern kann, weil niemand ihr geheimnisvolles Wissen besitzt. Die eine kleine, melancholische Wahrheit kennt, unverständlich für herkömmliche Menschen. Sie trug kein Wangenrot, keine Ohrringe. Der fehlende Zahn, das Kratzen in ihrer Stimme. Die wahllos über ihr Gesicht und ihre Arme verstreuten Sommersprossen. Eine winzige Asymmetrie in ihren Augen, die linke Iris verschaffte ihr manchmal ungewollt einen Silberblick. Eine herrliche anatomische Ungenauigkeit.

All das.

Er griff nach einem auf seinem Nachttisch liegenden Handspiegel. Zugekleistert mit Mullbinden, aus denen ein paar Haarsträhnen ausbrachen, ramponiert und müde blickte er auf sich zurück.

»Na also.«

Sie hob zum Zeichen ihres Fundes den Bleistift in die Höhe, blies sich eine Strähne aus der Stirn und drehte sich zu ihm um, konzentriert ihre Unterlagen studierend.

»In Ihren Aufzeichnungen schreiben Sie von Depressionen. Sie seien zwar an traumhaften Orten entlanggefahren, doch vieles sei Ihnen eintönig erschienen. Ich habe mich erkundigt, nachgelesen in der hiesigen englischen Bibliothek. Ihre Gefühle des Alleinseins auf dem Wasser und Ihre verminderte Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, die Sie in Ihren Unterlagen beschreiben, sind vollkommen normal. Auch die beeinträchtigte Wahrnehmung. Man nennt das …«, sie blätterte um, »Hypnagogene Halluzination. Antriebslosigkeit, Depressionen, Angstzustände und erhöhte Reizbarkeit sind durchaus häufige Begleiterscheinungen.«

»So«, gab er schwach lächelnd zurück.

»Ich erwähne das nur, damit Sie sich keine Sorgen machen.«

»Haben Sie je von dem Medina-Wurm gehört?«

Sie sah ihn skeptisch an.

»Ist dünner und kleiner als ein herkömmlicher Regenwurm, weniger durchsichtig, eher weiß. Der kommt als Larve über das Trinkwasser in den Körper. Vom Magen aus wandert er durch das Gewebe des Menschen. Da bilden sich so Geschwüre, die enorme Schmerzen verursachen. Abszesse oder Entzündungen sind oft die Folge, während der Wurm immer weiter, manchmal bis in die Füße zieht. Dort bricht er dann durch die dünner werdende Haut und man muss ihn mit einem Stäbchen, um das man ihn wickelt, jeden Tag ein kleines Stück weiter aus dem Bein, dem Schenkel oder dem Fuß herausziehen. Eine unappetitliche Angelegenheit.«

Ihre Miene changierte zwischen Ekel und Empathie.

»Und diesen Wurm, diesen Medina-Wurm, den haben Sie gehabt?«

»Nein.«

Aus ihren Augen schossen Pfeile.

»Aber ich dachte, es könnte Sie interessieren.«

Sie setzte sich und musterte ihn. Die Luft im Raum war dick und warm, und ihr Blick wanderte zum Ventilator an der Decke.

»Kaputt«, sagte Oskar, ohne sie anzusehen.

»Ich habe Ihre Schilderungen des Festes bei den Maharadschas und Gouverneur Carter gelesen.« Ihre Stimme klang jetzt sanft, das Kratzen darin war kaum zu vernehmen. »Wie ging es weiter? Sie schrieben, Carter hätte Ihnen erzählt, dass der Wettbewerb eingestellt worden sei.«

»Ja, ich hatte mir so etwas schon gedacht, aber zu diesem Zeit punkt war mir das egal. Ich hatte mich längst entschlossen. Ich wollte nach Ceylon, egal wie.«

»In Ihren Notizen stand, Sie hätten kein Geld und nichts zu essen gehabt.«

»Nachdem ich von Carter aufgebrochen bin, habe ich mich wochenlang nur von Austern ernährt, die ich selber gefangen habe. Indische Fischer hatten mir das beigebracht. Anfangs fand ich das großartig, mondän. Nach drei Tagen hasste ich die Dinger – morgens, mittags, abends: nichts als Austern.«

Er erzählte ihr von Bombay und wie er dort hofiert wurde. Von den Geschäftsleuten, die ihn überall einluden. Davon, dass er binnen weniger Tage, aber leider auch nur für ein paar Tage eine lokale Berühmtheit war. Dass die Menschen im Restaurant von den Nachbartischen aus verfolgten, wie er seine Gabel zum Mund führte, und dabei zeitgleich selbst ins Unsichtbare bissen.

»Was war das Schlimmste, was Sie erlebt haben?«

»Die Malaria. Ich hatte andauernd damit zu kämpfen, konnte nur fahren, wenn sie ein paar Tage mal etwas nachließ. Im Golf von Khambhat, auf dem Weg nach Surat, hatte ich einen Tidenhub von fünfunddreißig Fuß, schwierigste Wasserverhältnisse. Gekentert bin ich zum ersten Mal bei schwerer Brandung an der Porbandar-Küste, ein zweites Mal vor Goa und dann noch mal am Kap Komorin, wo ich einen Teil meiner Ausrüstung verloren habe.«

Sein Atem wurde schwerer. Er stand auf und ging zum Fenster, fuhr sich über den Mullturban und durch die wenigen frei liegenden Haare am Hinterkopf. Sie wartete, wollte gerade etwas sagen, als er fortfuhr.

»Eigentlich ist die Welt gar nicht so schlecht. Es hat immer jemanden gegeben, der mir geholfen hat. Inzwischen hatte sich meine Geschichte wie ein Lauffeuer in Indien verbreitet. An den meisten Stränden hat bei meiner Ankunft eine Ansammlung von Menschen auf mich gewartet. Wie einen Heilsbringer haben sie mich teilweise behandelt. Nach mir gegrapscht haben sie, um zu prüfen, ob ich echt sei. Im Hospital von Porbandar hat mich der Leibarzt des Maharadschas kostenlos behandelt. Die Leute haben die Sonnenschein bestaunt und geglaubt, es wäre ein U-Boot, mit dem ich tauchen und fliegen kann.«

Mit einem Ärmel wischte er Schweiß aus dem Gesicht, hörte ihren Bleistift, der eifrig mithielt.

»Und was habe ich von zu Hause gehört? Nichts. Und wenn, war es Seppel, der mich einmal in einem Brief süffisant gefragt hat, was ich bei den dreckigen Indern wolle. Mit Deutschland gehe es vorwärts, meine Arbeitskraft könne man gut gebrauchen. Er hat geschrieben, meine Mutter sei verzweifelt, habe mich schon aufgegeben. Ich erinnere mich, wie ich klatschnass, abgemagert und wütend am Strand von Mangalore im Regen auf und ab gelaufen bin und sich die Leute nach dem Mann umgedreht haben, der über Heuchler und Biertischpatrioten geflucht hat.«

Sein Blick schweifte ab.

»Dabei habe ich Menschen getroffen, die durch mich zum ersten Mal von Deutschland gehört haben, die mich gefragt haben, wie sie so sind, die Menschen in Deutschland. ›Sind sie lustig, die Deutschen?‹, haben sie gefragt. ›Sind sie nett? Stark und freundlich?‹ Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Leute dort haben zum ersten Mal ein Faltboot gesehen, und für eine Stunde oder auch nur für ein paar Minuten hatte ich Freunde. Richtige Freunde. Engere, als ich in über zwanzig Jahren in Hamburg hatte –  Karol einmal ausgenommen. Es gab Wildfremde, die mich bei sich haben übernachten lassen, die mir, ohne Fragen zu stellen, ihr Motorrad geliehen haben, wenn ich dringend etwas besorgen musste, die mir Vogelnestsuppe, Schildkröteneier, Krabbencurry gaben, Betelnüsse, Haifischflossen, burmesische Zigarren, Mangos, Bananen oder Papayas, Palmwein und indonesischen Reisschnaps oder ihren einzigen Bleistift, damit ich mir Notizen machen konnte. Ich habe Kinder getroffen, die mir mit Masullabooten zu Hilfe gekommen sind, als ich in der Brandung gekentert bin, mich unter wildem Geschrei auf einen Tragstuhl gehievt und ans Ufer gebracht haben, wo bereits ein paar freundliche Palankinträger und Men schentrauben auf mich gewartet haben. Frauen sind aus dem Nichts aufgetaucht und haben mir mit Papier oder Flickzeug ausgeholfen oder nur fest meine Hand gedrückt, weil sie mehr einfach nicht hatten. Diese Leute haben mich vorbehaltlos gemocht, angelächelt und damit etwas zum Ausdruck gebracht, was ich in den Briefen von zu Hause nicht ein einziges Mal gelesen habe.«

»Haben Sie das Ihrer Familie mitgeteilt?«

»Nein. Wo hätte ich da anfangen sollen? Es war aussichtslos. Trotzdem war es mir wichtig, dass meine Mutter die Fotos mit Carter und den Maharadschas zu sehen bekommt. Ich dachte, wenn sie das sieht, wird sie mich verstehen. Mit einem Schlag wird sie alles begreifen. Ich hatte Schwierigkeiten, die Bilder entwickeln zu lassen. Die ganze Sache hat ewig gedauert. Ich habe sechs oder sieben Städte abklappern müssen, bis ich ein Geschäft gefunden habe, das imstande war, mir zu helfen. Ich war fast auf den Tag genau drei Jahre unterwegs, als ich durch die Adamsbrücke nach Talaimannar gepaddelt bin, zum westlichsten Punkt Ceylons. Von dort aus habe ich Anfang Mai 1935 die Bilder nach Hause geschickt mit dem Hinweis, dass ich nicht untergegangen sei. ›Nicht untergegangen, nicht aufgegeben‹, habe ich geschrieben. Dass alles gut sei und ich Deutschland ein wenig in die Welt hinaustragen würde. Ich bin kein guter Schreiber. Und ich habe Tage gebraucht, bis ich den Brief so formuliert hatte, dass er nicht nach einer Kränkung klang. Wissen Sie, ich kann wirklich gut zanken, aber in diesen Brief habe ich jede Unze Freundlichkeit gelegt, die ich aufbringen konnte. Ich wollte unbedingt, dass die verstehen, was mit mir geschah, wie die Menschen in jenen Breitengraden zu mir waren. Wie Menschen auch sein können.«

Er setzte sich auf die andere Seite des Bettes, den Rücken ihr zugewandt. Im Zimmer war es dämmrig geworden. Während sie schwiegen, fiel Gilis Blick auf eine Kerze auf seinem Nachttisch, doch etwas hielt sie davon ab, sie anzuzünden.

»Einen Tag nachdem ich den Brief mit den Fotos zur Post gebracht hatte, habe ich ein Telegramm von meinem Vater erhalten. Er teilte mir mit, dass ich nicht mehr schreiben müsse. Keine wei teren Angaben. Ach doch. Ein Satz. Warten Sie, ich glaube, ich kriege ihn noch zusammen: ›Mit den besten Wünschen für dein ferneres Wohlergehen, Vater.‹«

Sie legte ihre Mappe zur Seite. Ihre Stimme klang belegt.

»Sie müssen mir das alles nicht erzählen, wenn Sie nicht wollen. Wir brauchen das nicht für den Artikel.«

Er nickte.

»Keine Ahnung, wieso ich Ihnen das sage. Ich habe darüber noch mit niemandem gesprochen.« Er beugte sich langsam vor und betrachtete seine Füße. »Ich habe überhaupt noch nie jemandem so viel über mich erzählt.«

»Auch nicht Karol?«

Er drehte sich wieder ihr zu, und ein milder Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

»Karol musste ich nie etwas erklären. Er war der einzige Mensch, den ich nie begrüßt und nie verabschiedet habe. Wenn wir uns getroffen haben, haben wir eben da weitergemacht, wo wir beim letzten Mal aufgehört hatten. Eine offizielle Begrüßung hätte sich merkwürdig angefühlt. Oder lange Erklärungen, wie man sich fühlt oder was einen gerade beschäftigt. Wir wussten es meist ohnehin.«

Für einen kurzen Moment sah er ihre Zahnlücke.

»Auf jeden Fall war ich dann drei Monate bei Hagenbeck. Auf Ceylon. Hab mich auskuriert.«

»Es gibt ihn nicht wirklich, oder?«

»Hagenbeck?«

»Karol, er existiert nicht, hab ich recht?«

Oskar zog ein Stück Papier zwischen Bettgestell und Matratze hervor.

»Sie haben das Bündel Briefe gesehen, stimmt’s? Ich hatte vergessen, dass ich sie in dem Karton verstaut habe. Nein, er existiert nicht. Nicht mehr jedenfalls. Er hat sich erhängt. Seine Mutter hat es mir geschrieben.«

Er hielt den Zettel hoch, und sie erkannte ein Telegramm.

»Und bevor Sie fragen: Ja, sie ist die Frau, für die ich das alles festhalten möchte. Nicht für andere, für mich oder meine Familie. Aber Karols Mutter soll wissen, wie die ganze Sache abgelaufen ist. Das bin ich ihr schuldig. Ich weiß nicht mal, wo er begraben liegt.«

Draußen vor dem Fenster zirpten Grillen im Chor.

»Oskar Speck«, sagte Gili, »du hast ein Talent dafür, mir traurige Geschichten zu erzählen.« Sie sah sich in dem dunklen Zim mer um. »Bei all dem, was Nowack und Gunther mir erzählt haben, hatte ich mir etwas anderes vorgestellt.« Dann schob sie schnell hinterher: »Aber es ist viel besser, als ich dachte. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich dich jetzt doch duze?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich muss immer noch oft an ihn denken. Karol hat Leben in jeden Raum gebracht, den er betreten hat, und damit das Gegenteil von dem bewirkt, was passiert, wenn ich irgendwo auftauche. War echt ’ne Marke. Er hat mit mir das Ingenieursbüro aufgemacht, obwohl er immer Architekt werden wollte. Hat mir andauernd von diesem oder jenem Baustil vorgeschwärmt. Mir wird ganz schlecht, wenn ich mich daran erinnere, wo er leben musste.«

Das tiefe, schwermütige Heulen einer Dampflok war zu hören, gefolgt von dem Pochen ihrer Maschinen.

»Das letzte Lebenszeichen von ihm war die Nachricht, die er mir nach Zypern geschickt hat. Dann ist er anscheinend mit seiner Mutter aus Hamburg geflohen. Keine Ahnung, wohin. Bis vor ein paar Wochen hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Ich vermute, seine Mutter hat in irgendeinem Zeitungsbericht von meinem Aufenthaltsort gelesen.« Er holte tief Luft. »Nachdem er verschwunden war und sich nicht mehr gemeldet hat, habe ich mir einfach vorgestellt, dass alles normal ist. Hab ihm weiter geschrieben. Ganze Nachmittage damit verbracht, mich mit ihm im Boot zu unterhalten. Ich wusste ja, was er geantwortet hätte.« Er ahmte Karols Tonfall nach. »›Mit einem Bein gehst du noch lang nicht nach Hause, Osse!‹«

Etwas juckte unter seinem Verband. Mühsam schob er hinter seinem Ohr zwei Finger darunter und begann, sich zu kratzen.

»Hast du eigentlich eine Frau?«

Sie fragte, während sie zwei Blätter zum Vergleich nebeneinanderhielt, so desinteressiert, als erwartete sie keine Antwort.

»In Semarang wollte mich mal eine junge Einheimische heiraten. Lala. Eine schöne Frau.« Er sah sie an. »Aber um deine Frage zu beantworten: Nein.«

»Hab ich das richtig verstanden: Hat Doktor Nowack vorhin gesagt, dass du übermorgen entlassen wirst? Wir müssen uns aber noch mal treffen, ich muss noch von deinen letzten Stationen erfahren, und ich brauche noch ein paar Details für die Artikelserie.«

»Wir können uns im Café Taman treffen, hinten am Hafen.«

»Hast du schon eine Unterkunft?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Du könntest vielleicht bei Sugar unterkommen. Er hat ein Haus, und soweit ich weiß, wohnt er dort allein.«

Er nickte nachdenklich.

»Wer ist das?«

»Oh, Sugar ist fesch! Der erste Mann, den ich kennengelernt habe, der mich nicht hintergehen oder ausrauben wollte. Ein so genannter Bandleader. Ich gehe jetzt. Übermorgen zwölf Uhr im Taman? Verrätst du mir noch, wohin du von Ceylon aus fahren wolltest? Von dem Überfall habe ich ja schon erfahren. Aber dazwischen feh len mir noch ein paar Stationen.«

Er überlegte.

»Ich wollte zurück nach Deutschland.«

»Bitte? Wieso denn das?«

Er kratzte sich ein weiteres Mal.

»Ich musste ! Wegen Hradetzky.«