A aarrh!«
John Hagenbeck kniete im Gras, seine Hände umschlossen den eigenen Hals direkt über dem weißen Stützkragen, das Gesicht glomm dunkelrot, eine Zigarre klemmte zwischen den Fingern der rechten Hand. Oskars Gastgeber war für die schwülwarme Temperatur ungewöhnlich festlich gekleidet: Leinenanzug, Hemd, inklusive Stecktuch, Schlips, Taschenuhr mit goldener Kette, und sogar ein Panamahut schmückten den Tierhändler. Schweißtropfen glitten die Bügel seiner Brille hinab. Sein Stock lag neben ihm im Gras.
Senta Hagenbeck, Oskar sowie Hagenbecks Freund, der Paläo anthropologe Eduard Stein, saßen mitten im weit verzweigten Gar ten des Zoologen an einem mit Tee, Kaffee und Aggala-Bällchen gedeckten Tisch. Ein paar Katzensprünge entfernt von der Villa, deren Erker, Giebel und dorische Säulen fragmentarisch durch die unzähligen Mangrovengewächse zu erkennen waren. Heiter blickte die kleine Runde auf den Tierhändler herab.
Hagenbeck lockerte seine Hände und richtete sich auf.
»Zweifelsohne der Höhepunkt meines Films Darwin. 1919 im Zoologischen Garten von Hamburg gedreht, obgleich er im Golf von Bengalen spielt. Kommt mir vor, als wäre es bereits eine halbe Ewigkeit her, liegt aber nicht mal sechzehn Jahre zurück. Wissen Sie, was ein Jammer ist? Meine Idee, dass ein Gorilla eine Frau verschleppt, wurde mir vor zwei Jahren geklaut. Ein Mann aus Florida – wie hieß er noch? – hat daraus in Amerika einen immensen Kassenschlager gemacht.«
Zwei Bandikuts verfolgten sich piepsend und raschelnd im Busch neben ihnen.
»Herr Speck, wie geht es Ihnen heute?«, nutzte Senta Hagenbeck die seltene Redepause ihres Gatten und legte dabei fürsorglich ihre Hand auf Oskars.
»Ganz gut, danke.« Oskar versuchte, sein Gesicht einem der Sonnenstrahlen auszusetzen, die durch die Bäume stachen, damit Hagenbecks Frau seine gelbe Hautfarbe nicht sah. »Sehr gut sogar.«
»Wenn ich übersetzen darf«, mischte sich Eduard Stein ein. Er spitzte die Lippen unter seinem Kinnbart, und seine neurodermitisch geränderten Augen blinkten wie Warnsignale. »Oskar kann wieder Nahrung zu sich nehmen, und es ist nicht davon auszugehen, dass er euer schönes Anwesen mit seinem Tod belastet. Aber als geheilt, Senta, kann man den Mann nun wirklich nicht be trachten. Die Malaria ist dabei, sich langsam zurückzuziehen. Gut für mich. Dann kann ich noch ein paar Partien Pahada Kolya mit ihm spielen. John findet derlei Späße ja leider kindisch.«
»Merian C. Cooper«, platzte es plötzlich aus Hagenbeck heraus, »Cooper, ich bin mir ganz sicher. So hieß der Glückspilz, der aus meinem Gorilla diese alberne King-Kong-Figur gemacht hat.«
»Hagenbeck, reiß dich zusammen, wir sind längst woanders«, wies ihn seine Gattin zurecht und wandte sich wieder Oskar zu. »Im Ceylon Observer ist übrigens ein ausführlicher Artikel über Sie erschienen, und jemand sagte mir, dass auch in diesem indischen Blättchen, The Statesman , etwas stehen würde. Daraus sollten Sie Kapital schlagen. Ihre Fahrt ist ein absolut einmaliger Rekord!«
»Ich glaube, du kannst beruhigt sein, Senta.« Stein holte eine kleine Dose aus seiner Hosentasche und rieb sich etwas Salbe unter ein Auge. »Sobald Herr Speck zurück in Deutschland ist, wird sich die Presse auf ihn stürzen.«
»Ich bin mir sicher, mein werter Halbbruder kann Ihnen behilflich sein«, erklärte John Hagenbeck.
»Das ist sehr nett«, sagte Oskar und wusste nicht, wen von den dreien er in diesem Moment ansehen sollte. »Aber ich werde nicht nach Deutschland zurückkehren.«
»Entschuldigen Sie, so hat mein Mann das natürlich nicht ge meint. Sie können hierbleiben, solange Sie wollen«, versicherte ihm Senta Hagenbeck.
Oskar bekam einen langen, hässlichen Hustenanfall.
»Danke, aber ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen. Für ein oder zwei Wochen nehme ich das Angebot gerne an, aber dann fahre ich weiter.«
Hagenbeck seufzte.
»Und ich hatte gehofft, es sei ein Witz, als Sie mir gestern davon erzählt haben. Ich hätte Sie nie in die Bibliothek lassen dürfen.«
Oskar hielt einen Arm in die Höhe, damit der Blaue Tiger, der darauf gelandet war, weiterfliegen konnte, doch der Schmetterling tat ihm den Gefallen nicht.
»Könntet ihr uns bitte aufklären?«
Senta Hagenbeck hatte ihren Tonfall mit einer Prise Bestimmtheit gewürzt.
»Der junge Mann hat sich vor ein paar Tagen in unserer Biblio thek die Zeit vertrieben und hat dort den Globus entdeckt, du weißt schon, den handbemalten hölzernen aus Frankreich. Als ich dazustieß, tasteten seine Finger gerade auf den hellen Stellen vor Indonesien herum …«
»Sie wollen mit der Sonnenschein nach Indonesien?«
Eduard Stein konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken.
»Nein«, sagte Oskar ernst, »nach Australien.«
Stein kicherte und bedeckte dabei seine Lippen mit einer Hand, bevor er sich fing und über seine Fingerspitzen hinweg besorgt fragte: »Aber doch nicht etwa wirklich mit Ihrem kleinen Faltboot?«
»Womit sonst?«
»Herrlich! Darauf trinken wir«, sagte Senta Hagenbeck und hob ihre Teetasse, »aber natürlich werden wir Ihnen das ausreden.«
Der Schmetterling flatterte von Oskars Arm, und der Hamburger spürte in der rechten Tasche seiner Khakihose Seppels Telegramm.
»Noch ein oder zwei Vorträge, dann habe ich genug Geld für eine Weiterfahrt. Mein Bruder hat mir mitgeteilt, dass der deutsche Devisenkommissar jede weitere Geldsendung ins Ausland verboten hat. Er wird mir daher nichts schicken können.«
Die in Seppels wenigen Worten angeklungene Erleichterung und das lapidare »Viel Glück«, das ihm sein Bruder sandte, verschwieg Oskar.
Senta Hagenbeck schlug den Männern vor, einen kleinen Spaziergang zu unternehmen, und die Gruppe lief auf dem rotsandigen Weg entlang, der durch den zu Hagenbecks Anwesen gehörenden Kokospalmenhain führte, vorbei an üppig sprießenden Frangipaniblüten. Es roch nach Regen.
»Das hätten Sie doch auch früher sagen können. Natürlich werden wir Sie unterstützen, ich bitte Sie.«
»Selbstverständlich«, grummelte ihr Mann und blickte, einen Gedanken abschätzend, gen Himmel. »Und dennoch: Ich halte es für töricht, ja geradezu aberwitzig, sollten Sie weiterrudern. Ich bin ein Freund der Abenteurer, aber während eines Sturms an der Westküste Australiens sind vor Kurzem zweihundert Perlenfischer ertrunken. Nur ein Beispiel.«
»Sie haben vergessen«, entgegnete Oskar, der bereits wieder Müdigkeit in sich aufkommen spürte, »wie viel Zeit ich hier bei Ihnen zum Lesen habe. Ihr ganzes Repertoire an Zeitungen. Auf Formosa wurden neulich mehrere Tausend Menschen bei einem Erdbeben getötet. Wo, frage ich Sie, ist es also gefährlicher, zu Land oder zu Wasser?«
Hagenbeck hatte einen Daumen im Hosenbund eingehakt und paffte nachdenklich an einer Zigarre.
»Vor drei Tagen ist der Kreuzer Emden hier eingelaufen. Der Kapitän hat mir erzählt, man sei im asiatischen Raum derzeit sehr antideutsch eingestellt, ist Ihnen das bewusst? Ich habe das Segel gesehen, das man Ihnen in Bandar Abbas geschenkt hat. Das große Hakenkreuz darauf wird Ihnen nicht gerade dienlich sein.«
»Bei Wind schon.« Er fuhr sich mit der Hand über die Haare. »Ich weiß ja, was Sie meinen. Und natürlich zieht es mich nicht zu den hart gekochten Eiern und Krebsen zurück, die ich andauernd in mich hineinstopfen musste, bevor ich auf Ceylon gelandet bin. Und den Joghurt aus Büffelmilch, den Ihr Koch zubereitet, könnte ich auch noch eine Weile vertragen. Aber ich werde fahren.«
»Und wieso Australien?«, fragte Senta Hagenbeck und spähte nach einem in den Bäumen krakeelenden Malkoha.
Oskar musste einen Augenblick nachdenken, bevor er ihr antwortete.
»Das sage ich Ihnen, wenn ich angekommen bin.«
Hagenbeck blickte besorgt drein, und seine Stimme passte sich seinem Gesichtsausdruck an.
»Bisher haben Sie Glück gehabt, das wissen Sie. Aber vor Ihnen liegen vielgestaltige Gefahren, die Sie, mit Verlaub, nicht einschätzen können. Von Cuddalore bis Madras hat der Commissioner von Orissa das Sagen, ein charakterlich schwieriger Zeitgenosse, an dessen Küste Sie entlangrudern müssen. In den Sundarbans bekommen Sie es mit Tigern und giftigen Schlangen zu tun, im brackigen Wasser in Landnähe lauern Ihnen die ungeheuerlichsten Krokodile auf. Die Malaria wird Sie einholen, Überfälle sind keine Seltenheit, und von den Gefahren des Monsuns muss ich Ihnen ja nicht erst berichten. In dem Meer, in dem Sie dort paddeln, sind Sie nicht mehr als ein Spielball der Natur.«
Eduard Stein duckte sich unter einer Moskitowolke hindurch.
»Erzähl ihm von dem Brief, John.«
»Sie wissen, wo die Olympiade nächstes Jahr stattfinden wird?«
»In Berlin, glaube ich.«
»Korrekt. Die größte, beste, schönste soll es werden, Sie kennen ja den Jargon. Deutschland will scheinbar alles bisher Dagewesene übertrumpfen. Das heißt auch: mehr Disziplinen. Basketball, Feldhandball, Polo und so weiter. Und für jede neue olympische Sportart suchen sie wie verrückt nach Deutschen, die den anderen Nationen überlegen sind. Überall auf der Welt sehen sie sich um! Die Nazis verlieren nämlich nicht so gerne und schon gar nicht auf eigenem Boden. Gestern ist ein Schreiben aus dem Büro des Pressewarts für den deutschen Sport im Ausland eingetroffen. Adressiert an Sie.«
Oskars Stirn lag in Falten.
»Denn dreimal dürfen Sie raten, welche Sportart ebenfalls zum ersten Mal als olympische Disziplin zugelassen ist. Ich sage es Ihnen: Rudern. Tausend Meter, zehntausend Meter, im Kanu und im Faltboot.«
»Natürlich!«, jubelte Senta Hagenbeck. »Wer, wenn nicht Sie, ist dafür prädestiniert, eine Goldmedaille für Deutschland zu holen? Hagenbeck, du Bandit, wieso hast du Herrn Speck den Brief nicht ausgehändigt?«
»Weil ich ihn gerne noch hierbehalten würde. So viele freund liche Deutsche treffen wir in diesen Breitengraden nicht. Aber wenn es ihn ohnehin weiterzieht … Geld lag dem Schreiben übrigens auch bei. Bargeld! Stellen Sie sich das mal vor. Ein erkleckliches Sümmchen für die Vorbereitung.«
»Gibt es nicht so etwas wie eine Qualifikation für die Spiele?«, fragte Oskar und stellte mit Erstaunen fest, wie sich Neugier in ihm ausbreitete.
Fang nicht an zu spinnen. Würde Romer das machen? Hätten Barr und Dumas das gemacht?
Ohne dass er es wollte, tauchten Bilder von einem Podest mit drei unterschiedlich hohen Stufen vor ihm auf, er selbst auf der obersten stehend, einen golden gefärbten Lorbeerkranz schräg über seiner Brust, rauschender Applaus um ihn herum.
Romer! … Barr! … Wen interessieren die heute noch? Verschollen der eine, vergessen der andere.
»Man kann den Braunen vorwerfen, was man will«, antwortete Stein, »aber gründlich sind sie. Auf diese Frage sind sie vorbereitet. Sie können auch unterwegs ein Qualifikationsrennen fahren. Nahezu überall! Es gibt keine Regel, die festlegt, wo man sich qualifizieren muss.«
»Und nicht zuletzt«, sagte Hagenbeck, »verdienen Sportler gutes Geld. Geld, von dem Sie und ich nur träumen können. Denken Sie an Max Schmeling. Das hat auch der Pressewart – wie hieß der jetzt wieder? – in dem Brief hervorgehoben. Ich meine, er hätte sogar eine Ehrung bei Hitler persönlich erwähnt. Ich muss nachschauen.«
Oskar kam Karol in den Sinn und wie der immer all seine Sorgen mit der An- oder Abwesenheit von Geld erklärt hatte. Und hatte er nicht auf fürchterliche Weise recht behalten?
»Das ist wirklich nett von Ihnen. Aber ich habe mir vorgenommen, nach Australien zu paddeln.«
»Aber …«
Eduard Stein suchte nach weiteren Argumenten.
Sie erreichten das große, hochherrschaftliche Haus des Tierhändlers und seiner Frau. Senta Hagenbeck baute sich vor Oskar auf, legte ihre Hände auf seine Schultern, sah ihm tief in die Augen und drehte sich dann zu den beiden anderen Männern um.
»Ich glaube, das kannst du vergessen, Hagenbeck.«
»Wirklich schade.« Ihr Mann klang resigniert. »Ihr Name würde in einem Atemzug mit Helden wie Schmeling genannt wer den. Mit Gregor Hradetzky oder Tennis-Baron Gottfried von Cramm. Ach was, mit Ihrer Geschichte im Rücken und einer Medaille wären Sie bedeutender als alle zusammen. Aber was verstehe ich schon von Ihren Gedanken?«
Die Gruppe suchte Schatten auf der überdachten Veranda. Alle atmeten erleichtert auf, als sie sich der sengenden Sonne entziehen konnten.
Senta Hagenbeck öffnete die knirschende Verandatür, und die Männer folgten ihr. Eduard Stein hielt Oskar die Tür auf, doch der war im Säulengang stehen geblieben.
»Sagten Sie bedeutender als Hradetzky?«