E r kam sich albern vor mit dem Verband um seinen Kopf. Immer wieder sah er sich verstohlen um, ob die Menschen, so wenige sich um diese Uhrzeit auch auf den Straßen tummelten, ihn beobachteten.
Surabaya war ihm noch gut von seinem ersten Aufenthalt in Erinnerung, als er die Stadt auf dem Weg zu seinem australischen Ziel für einige Wochen zu seinem Zuhause auserkoren hatte.
Bedächtig schlich Oskar durch die Straßen, genoss für einen Augenblick die wärmende Sonne, seine Hände in den Taschen der kurzen Khakihose. Er folgte dem Kali Mas, dem Goldenen Fluss, einem Nebenarm des Brantas, der, so hatte es ihm ein Einheimischer erzählt, bei Kepung entsprang und bis hierher, in die Innenstadt von Surabaya, führte, wo er wenige Hundert Meter weiter im Hafen in die Meerenge von Madura mündete.
Er schlenderte durch den Stadtteil Darmo mit seinen zunächst schlichten, später vornehmen Häusern, penibel gepflegten Gärten und eindrucksvollen Granitbalustraden. Betrachtete die geschwun gene Glasmalerei auf einer hohen, schmalen Eingangstür, die mattgrünen Schachtelhalme der Kasuarinen, die sich kraftlos vor der Straße verbeugten und ihn an nasse Haarschöpfe erinnerten. In ihnen nisteten kleine Feenseeschwalben, flogen mit ihren eng sitzenden, weißen Mänteln über seinen Kopf und erfüllten die Luft mit süßlichem Pfeifen.
Sein lädiertes Ohr spielte ihm Streiche. Ab und zu drehte er sich erschrocken nach einer polternden Tram, einem quietschenden Fahrrad oder einem Auto um, deren Geräusche sich auf den breiten Straßen mit dem Hufeklappern der Pferde oder dem Rascheln der Rikschas vermischten. Surabaya kam ihm wie eine verblasste Postkarte vor, in der man leben, sich treiben lassen konnte.
Er hatte das Hospital so früh wie möglich verlassen, seine wenigen verbliebenen Sachen geschultert und war ohne besonderes Ziel losgezogen. Jetzt atmete er die Düfte der Stadt ein, die Maisblattzigaretten, den herben Geruch der Champakablüten und die süßen Gewürze der Priems aus Betel, Sirih, Tabak und gelöschtem Kalk. Er spürte, wie sein Körper die Wärme aufsaugte, wie er die Freiheit genoss. Doch unter dieser Wonne kroch eine merkwürdige, ihm unbekannte Aufregung durch seinen Magen, gefolgt von dem zermürbenden Gedanken an die vernichtete Sonnenschein .
Jedes Mal, wenn er an seine Flucht von Lakor dachte, wanderte ein dumpfer Schmerz unter seiner Augenbraue entlang. Die ganze Fahrt nach Sermata über – fast ein Jahr war das her – hatte er ein monströses Dröhnen in seinem Kopf gespürt. Dort konnte man ihm nicht helfen. Also musste er am darauffolgenden Tag weiterfahren nach Babar, zu einer Insel, die noch einmal achtzig Kilometer entfernt lag. Achtzig Kilometer, die er wie in Trance paddelte. Doch selbst auf Babar hatte es keinen Arzt für ihn gegeben. Immerhin nahm ihn eine Fähre mit nach Saumlaki, zum Missionshospital der Tanimbarinseln. Wochen später verlegte man ihn in das Militärkrankenhaus auf Ambon, wo ihm die Ärzte eröffneten, dass sein Trommelfell geplatzt war, er müsse sofort operiert werden, sich anschließend ausgiebig erholen. Und weitere sieben Monate später brachte man ihn nach Surabaya, da eine zweite Operation unumgänglich war. Boot und Ausrüstung waren derweil in Saumlaki geblieben. In die Psychiatrie wurde später nur sein Gepäck geschickt. Das Boot, so erklärte man ihm, sei von den holländischen Behörden sicherheitshalber zerstört worden.
Im Norden der Stadt, unweit des Hafens, wo die Straßen lang und breit wurden, tauchte vor ihm das Café Taman auf, eine Bar, die er bei seinem ersten Aufenthalt entdeckt und liebgewonnen hatte. Der Nachmittag flirrte so hell, als würde in der Luft feinster gold gelber Staub schweben. Dennoch setzte er sich wenige Meter vom strahlenden Blau entfernt in den spärlich besuchten Gastraum des Cafés, der, länglich und eng, zur Hälfte von einem Holztresen okkupiert war. Hinter einigen winzigen Metalltischen der Jahrhundertwende schimmerte eine löchrige Steinwand in unzähligen Siena- und Sandtönen. Oskar mochte die Schlichtheit des Ortes, so unfertig und gleichgültig, sich nie wirklich um Kundschaft oder das Leben da draußen kümmernd.
Er saß, trank Kaffee und las zum vierten Mal einen Artikel auf der letzten Seite einer englischen Zeitung. Es ging um die Erfindung eines Franzosen namens Michel André, die dort mitsamt ihrem Schöpfer abgebildet war. Oskar schüttelte den Kopf. Monsieur André versank auf einem Foto bis zur Hüfte in einer Seifen kiste und diese wiederum in einem See. Präsentiert wurde das weltweit erste Unterwasserauto. Das letzte Bild der Serie zeigte ein aus dem Tümpel ragendes, periskopisches dünnes Rohr, aus dem nahezu durchsichtiger Dampf entwich und das ein zittriges V auf dem Wasser hinter sich herzog.
»Nein, danke! Höchstens was Kaltes, Erfrischendes.«
Sie sagte dies, ohne eine Miene zu verziehen, ohne ihn auch nur anzusehen, und pflanzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber.
Gili Baum räusperte sich, um ein Kratzen aus ihrer Stimme zu entfernen, das sich nicht beseitigen ließ, begann in ihrer Hand tasche zu wühlen, in der sie den dahinschmelzenden Rest ihres Erbes mit sich herumtrug, und reichte Oskar einen zerknitterten Geldschein.
Er starrte sie an. Etwas in ihm implodierte, und für einen Moment nahm er an, Gili, der Kellner, die anderen Gäste und vermutlich selbst Bewohner auf dem asiatischen Festland könnten die Erschütterung hören und spüren. Er zwang sich zu sprechen.
»Ich würde dich gerne einladen, für die ganze Mühe, aber …«
»Mach dir keine Sorgen. Noch habe ich etwas Geld. Und du übrigens bald auch wieder, sobald der Verlag bezahlt.« Sie sah sich um. »Guten Geschmack hast du. Ich bin noch nicht so lange in Surabaya, kannte ich nicht, das Taman.«
Sie wedelte nachdrücklich mit der Geldscheinhand, und Oskar gehorchte.
Ohne sie aus den Augen zu verlieren, ging er zum Tresen, be stellte und beobachtete, wie sie in einer einzigen Bewegung ein klei nes Päckchen aus ihrer Tasche holte, eine Zigarette herausschüttelte und diese in ihren Mund steckte. Umständlich entzündete sie ein Streichholz, hielt es an die Zigarette, löschte mit einer kleinen Drehung des Handgelenks die Flamme und warf den verkohlten Stummel in einen Aschenbecher, während der erste Qualm aus ihrem Mund kroch. Er roch den Nelkenduft.
»Oh, Zitronenlimonade«, sagte sie respektvoll, als er mit zwei Gläsern zum Tisch zurückkehrte, ganz so, als habe ihr ein Kind ein Geschenk überreicht. Dann betrachtete sie ihre wieder erloschene Zigarette, wandte sich dem Kellner zu und signalisierte ihm, dass sie neue Streichhölzer benötigte. Bevor sie ihre Tasche auf den Boden stellte, zog Gili eine große Papiertüte heraus, deren Inhalt sie auf dem Metalltisch ausstreute. Sie nahm sich eines der gebogenen und zu Dreiecken geschnittenen Kokosnussstücke und forderte Oskar auf, sich zu bedienen. Stumm lehnte er ab, versuchte, sie wenigstens hin und wieder nicht anzustarren.
Als wäre es aus Eisen, verzog sie bei dem ersten Bissen auf ein hartes Stück Kokosnuss ihr Gesicht.
»Ich bin froh, dass sie dich rausgelassen haben aus dem Kasten. Ich finde die Psychiatrie gruselig.«
Mit einem Mal hielt sie inne und nahm das Dreieck aus ihrem Mund, sah ihn besorgt an.
Oskars Magen war ein Schwarm Vögel. Er sah, wie sie etwas sagte.
»Hast du immer noch Kummer, oder was ist los?«
Er schüttelte benommen den Kopf, fühlte sich gleichzeitig krank und so gesund wie noch nie, konnte die Plötzlichkeit seiner Erkenntnis kaum begreifen. Was auch immer er für Lieselotte einst empfunden hatte, es war lediglich die Ahnung eines Gerüchts, das auf einer Verwechslung beruhte. Und Gili Baum das, was die Welt aus der Fassung geraten ließ.
»Doch zu früh entlassen worden, was?«
»Bitte? Nein, alles in Ordnung. Ich bin nur … Die Hitze …«, sagte er und faltete verlegen eine Ecke der Papiertüte.
»Nun ja, besser als zu Hause.«
Sie biss laut knackend ab und er nickte. Sprach.
»In Hamburg hat mich mein Vater jedes Jahr gefragt, woran man erkennt, dass in Deutschland Sommer wird.« Er wartete kurz. »Sein Arsenal an Witzen war ziemlich überschaubar. Jedes Jahr derselbe Spruch. Und jedes Jahr die gleiche Antwort: ›Der Regen wird warm.‹«
Gili sah sich nach dem Kellner um.
»Wo bleibt der denn?«
»›Der Regen wird warm.‹«
Sie betrachtete die kalte Zigarette.
»Hab ich verstanden.«
Ein paar Augenblicke saßen sich beide schweigend gegenüber, von draußen hörte man die Räder einer Straßenbahn.
Gili lutschte an einem Stück Kokosnuss und ließ ihren Blick auf Oskar ruhen, bis dieser nervös zur Seite schaute.
»Der Mordanschlag wird der Höhepunkt des Artikels. Wahrscheinlich wollen die dann gleich noch eine Abenteuerserie.«
»Mir ist alles recht. Ich brauche Geld. Ich hänge hier ziemlich in der Luft. Du kannst die Geschichte übrigens auch gerne reißerisch aufziehen. Und was Karols Mutter angeht: Ich werde ihr einen Brief schreiben. Ich muss nur noch die richtigen Worte finden.«
»Hast du noch ein paar Details auf Lager?«
Oskar überlegte, versuchte, klar zu denken, und berichtete ihr von der verhängnisvollen Nacht des Überfalls, betonte dabei immer wieder, dass es sich genauso gut um ein Missverständnis gehandelt haben könnte und wie sinnlos er die Machtdemonstration der westlichen Welt an diesen friedlichen Orten fand. Dann leerte er sein Glas und sah sie unverwandt an.
»Eigentlich habe ich gar keine Lust mehr, über meine Reise zu sprechen. Kannst du mir nicht zur Abwechslung mal etwas von dir erzählen?«
Sie nickte kaum merklich. Knackend verschwand ein weiteres Stück Kokosnuss hinter ihren Zähnen.
»Komm, lass uns ein bisschen herumlaufen.«
Träge und schlammig schob sich der Kali Mas neben ihnen voran. Sie kamen an merkwürdig geformten Bündeln von Treibgut vorbei, die im Schilf des Ufers schwammen. Stumm führte Oskar sie zum Taman Wisata Park. Sie gingen an Blumenrohrbeeten entlang und sahen dem irisierenden Gespinst einer Sprinkleranlage zu. Elstern zogen in der Nähe über sonnenbeflecktem Gras und unter riesigen Platanen ihre Bahnen.
»Was machst du hier eigentlich, in Surabaya?«
Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie die Frage brüskieren.
»Das, was mir passiert. Anders kenne ich es gar nicht.«
»Alle Deutschen, die ich bislang außerhalb der Heimat ge troffen habe, haben immer mit aller Kraft versucht, ihr deutsches Leben im Ausland fortzusetzen. Alte Gewohnheiten aufrechtzuerhalten und so. Meist wollen sie sogar die Einheimischen von der Richtigkeit ihres Lebensstils überzeugen. Ordnung, Logik, Regeln, Gehorsam und so. Wie daheim.«
»Mein Leben« – sie schien müde, als sie das sagte – »folgt der Logik eines fallenden Blattes. Aber das macht nichts. Heute bin ich hier und gehe mit dir spazieren. Nächste Woche schreibe ich eine lange Artikelserie, die wir nach Deutschland verkaufen. In einem Monat bin ich womöglich in Hongkong. Können wir über etwas anderes reden?«
Als sie den Lotusteich hinter sich gelassen hatten, fuhr ein Be cak dicht an ihnen vorbei, und der Fahrer hatte großen Spaß daran, die drei heulenden Töne seines Klaxons erschallen zu lassen. Oskar wartete, bis er außer Sichtweite war.
»Bist du eine richtige Autorin? Eine Journalistin?«
»Ich versuche es.«
»Und jetzt hat Makeprenz dich gezwungen, meine komische Reise zu Papier zu bringen. Tut mir leid.«
Sie schenkte ihm einen kurzen, überraschten Blick und schüttelte den Kopf.
»Muss es nicht. Mir gefällt deine Geschichte. Sie hat so was schön Rätselhaftes. Du müsstest doch eigentlich längst die größte Sensation seit der Erfindung von Penicillin sein. Es müsste Bücher und Filme über dich geben.«
Sie hatten den Park verlassen, und Gili beobachtete Oskar aus den Augenwinkeln, als sie in die Handelsstraße Kembang Djepoen einbogen.
»Ich hab mal einen burmesischen Produzenten getroffen, der einen Film über mich drehen wollte. Aber erst hat er mir eröffnet, der Streifen müsste auch von den Flussgebieten des Landes handeln, und am Ende ließ er mir ausrichten, die Menschen dort hätten für Kinokultur nichts übrig.«
»Was ist mit deinen Mineralienfunden?«
»Der geheime Blick, was?«
»M-mh«, sie kaute bejahend auf einem Stück Kokosnuss.
Oskar blieb auf der Red Bridge stehen und deutete auf die engen Gassen und Sträßchen um sie herum, auf eine Menschentraube vor dem Lokal Stam & Weyns und in Richtung Tinplein.
»Das hier ist übrigens Chinatown.«
»Ist manchmal gar nicht so einfach, etwas aus dir herauszukriegen.«
»Gili, ich hab keinen geheimen Blick. Sosehr ich mir das auch wünschen würde. Ein Mitarbeiter der Tin Mines of Burma hat mir vor Monaten gesagt, meine Funde aus Mergui, vermeintliche Weißgold-Proben, hätten keinen kommerziellen Wert, wären nichts anderes als Blei. Doktor Hamza bin Haji Taib, ein Fachmann, den ich in Singapur getroffen habe, hat mich scherzhaft gefragt, was ich mit dem verbogenen und wertlosen Eisen und Zinn in meinem Boot wolle. Nicht mal die Indios, die mich überfallen haben, haben geglaubt, dass meine Steine für eine Kette oder Handschmuck taugen würden. Mein Boot ist weg, ich habe kein Geld, besitze nichts, und niemanden interessiert es, ob ich einen Rekord breche oder ein Stück Balsaholz.«
»Außer der Berliner Illustrirten. Und wenn die Artikelserie erst mal erschienen ist, wird sich das Blatt wenden, glaub mir.«
Er nickte und schaute auf einen kleinen, von Seepocken gesäumten Pier, auf dem eine Eingeborene in einem ausgebleichten Sarong hockte und Wäsche auf einen Stein schlug.
»Ja, vielleicht. Vielleicht, wenn ich tatsächlich bis nach Australien weiterfahren würde. Ich habe mal nachgerechnet. Fünfzigtausend Kilometer wären es dann insgesamt. Ulm bis Australien. Womöglich würde es dann jemanden interessieren. Aber ohne Boot, ganz ehrlich …«
»Du willst doch nicht etwa aufgeben?«
»Zunächst brauche ich mal einen Platz zum Schlafen.«
»Und genau darum kümmern wir uns jetzt.«
Gili pfiff mit zwei Fingern ein Becak herbei.