D as Sonnenlicht warf seine Spätnachmittagsstrahlen schräg durch Sugar Cane Siwalettis Wohnzimmer und auf Oskar, der kerzengerade auf dessen Sofa saß und an seinem Verband zupfte. Der Hamburger bedeutete Gili mit einer Geste, sie möge sich neben ihn setzen, doch sie schüttelte nur kurz den Kopf und schlenderte stattdessen zu einem Bücherregal, zog eine Taschenbuchausgabe von Jack Londons The Turtles of Tasman heraus.
»Du kannst gerne hier bleibe, solange du magst.« Sugar, der mit dem Rücken zu seinem Instrument auf einem Klavierhocker lümmelte, unterstrich seinen freundlichen Tonfall mit einem woh ligen, runden holländischen Akzent. »Auf deine Bett hast du ja schon Platz genomme.« Es klang wie »chenomme«, mit hartem ch. »Und keine Bange: Das Zimmer ist zwar das Zentrum von meine Häuschen, aber dich wird hier niemand störe. Ich wohne allein hier und bin viel unterwegs, niet waar?«
»Das ist sehr nett von dir. Ich werde dir natürlich was dafür zahlen, sobald …«
Sugar wies den Vorschlag mit einer empörten Miene ab.
»Fühl dich wie zu Hause, Oskar.«
»Wie zu Hause. Besser nicht.«
Auch Gili verglich stumm das sich ihr bietende Bild mit ihrem trostlosen Zimmer im Deutschen Klub, wo ihr Blick auf eine fensterlose Wand des Oranje Hotel fiel.
Dann sagte sie stolz: »Sugar hat heute einen Auftritt im Hellendoorn. Er ist ein landesweit bekannter Musiker.« Sie stellte London zurück ins Regal. »Das bist du doch, oder?«
Der dunkelhäutige Bandleader knetete seine ölverschmierten Hände.
»Sagen wir lieber, ich wäre gerne Musiker. Richtest du die Frage an meine Vater, würde er sagen, ich sei Verkäufer bei K.K. Knies. Dem Klavierhersteller, die haben einen Laden hier in der Stadt. Meine Schwester meint, ich sei ein Clown. Ein Clown, der schwindsüchtige holländische Jugendliche versucht die Tonleiter beizubringen. Und meine Mutter würde ihre Arme verschränken.« Mit gespieltem Ernst ahmte er sie nach. »›Der Junge ist eine verwirrte, heranwachsende Mischling mit tausend aufgeschreckte Libellen im Kopf.‹ Sie redet immer so … geschwolle, sagt man bei euch, glaube ich.«
Das Zimmer war unordentlich, doch in Gilis Augen verbreitete das ganze Haus eine Aura der Freiheit und des Hedonismus, von der sie fasziniert war. Auf dem Teppichboden lagen verstreut Notenblätter, zwei Jacken und einige Teller. Vor dem Klavier standen zwei leere Weinflaschen, und unter einem Stuhl war Werkzeug ausgebreitet. Nur die Wände schmückten ordentlich eingerahmte Drucke, alte Gemälde und Fotos, von denen, so vermutete Gili, Sugars Familie herablächelte. Abhängig davon, wo man sich gerade befand, schwebte der Geruch von Zimt, Wachs oder Motoröl durch das Haus.
Sie sah aus dem Fenster und deutete auf ein Motorrad, das zwischen ein paar Pinien, Teak- und Eukalyptusbäumen abgestellt war.
»Was ist damit?«
»Das ist meine Ariel Square Four. Gerade repariert. Aber ich kann sie nicht mal ausprobieren. Ich habe zurzeit jede Tag Proben für eine Silvesterveranstaltung im Simpang Club. Ist nicht mehr so lange bis dahin. Und wichtig. Geld, verstehst du?«
Gili wandte sich an Oskar.
»Sagtest du nicht, du bist in Indien mal Motorrad gefahren?«
»Ja, aber das ist schon Jahre her.«
»Also abgemacht, Oskar, ab heute wohnst du hier. Darauf müssen wir anstoßen.« Sugar eilte in seine Küche und kam mit drei Gläsern und einer Flasche zurück. »Strohrum. Brennt wie ein Gewürz.«
Der Pianist zog eine Packung Streichhölzer aus der Hosentasche und zündete den Alkohol an. Alle drei nahmen sich ein Schnapsglas, hielten es kurz in die Höhe, dann legten sie ihre Hände auf die Flammen, knallten ihr Glas auf den Couchtisch und kippten den Fusel hinunter.
Auf der Terrasse am Eingang des Hellendoorn zog Oskar Gili am Arm.
»Mit dem Verband kann ich da unmöglich rein.«
»Das schaffst du schon, Großer.«
Durch den Gastraum des zum Club gehörenden Restaurants liefen sie hinter Sugar her, und Oskar erkannte Gunther Makeprenz, der vornübergebeugt an einem der Tische saß und mit höchster Konzentration einem Mann zuhörte, der allein aufgrund seiner Aufmachung unter den fast ausnahmslos in weiße Anzüge gekleideten Gästen auffiel. Er trug ein dosenförmiges Käppi, eine randlose Brille sowie eine leuchtend rote Jacke ohne Kragen, und während er sprach, wippte unter seinem Kinn ein länglicher, dünner Bart. Gili zog Oskar weiter, hinter eine große Flügeltür in einen langen, durch goldene Bögen dreigeteilten Saal mit strahlendem Parkett und wilden Wandmalereien, die die Pflanzenwelt der Insel zeigten. An der Stirnseite der Halle spielte eine vielköpfige Band.
Im Publikum war niemand, der nicht verkleidet war. Alle hatten ihr Gesicht geschwärzt, übertrieben geschminkt oder mit einer Maske verhangen. Die beiden Deutschen schlängelten sich durch Piraten, Affen, mit Rüschen verzierte Prinzessinnen und unter schneiendem Konfetti bis zu einem freien Tisch durch, während Sugar von der Bühne hinter einem Klavier sitzend einen brand neuen amerikanischen Swing-Song namens Don’t be that way ankündigte. Nach wenigen Takten hüpften falsche Spanier, un echte Schotten und zwei als Tiroler verkleidete Männer an Oskar und Gili vorbei, die Kabarettclowns Pierrot und Pierret schlugen gemeinsam mit einer Horde Matrosen eine Schneise zwischen sie. Jemand legte ihnen hawaiianische Leis aus Orchideen um den Hals und forderte die beiden merkwürdigen Europäer, die sich als Sekretärin und Kriegsversehrter kostümiert hatten, auf, mit ihnen durch den Saal zu tanzen. Gili mussten sie nicht lange bitten, doch Oskar verzog sich an einen Tisch, versuchte, seine Protokollantin im Auge zu behalten und gleichzeitig mühsam im Takt zu wippen.
Es war bereits nach Mitternacht, als eine neue Combo die Bühne betrat und mit Ukulelen und Marimbas sanfte Klänge anschlug, und Oskar wunderte sich, wie schwärmerisch und wohlwollend die Menge darauf reagierte. Er beobachtete Gili, die vor Begeisterung glühte und ihn zu sich winkte. Gerade als er aufstehen wollte, ließ sich Makeprenz mit schweren Lidern und übertriebener Erschöpfung auf den Stuhl neben ihm fallen.
»Wusstest du, dass Surabaya ›tapfer in der Gefahr‹ bedeutet? Die Araber haben vor vierhundert Jahren den Islam mit Feuer und Schwert auf der Insel eingeführt. Und was haben sie damit erreicht, was machen die Herrschaften heute? Nichts als javanische Rokokofürsten, Schattenfürsten sind das, alles Scheinmoslems.«
»Bitte?«
»Ich habe da drüben einen Mann kennengelernt, mein lieber Scholli. Der hat Ahnung! Nein, wirklich. Siti heißt der. Toller Kerl. Ganz anders als unsereins. Ich bräuchte mal ein gutes, deutsches Bier. Um in Laune zu kommen, muss man hier ganz schön erfinderisch sein. Ich habe mir gestern eine richtig wuchtige Bowle aus Mangos und Kokosnüssen gebraut, da läuft’s dir heiß die Hacken hoch. Ein Sack Kokosnüsse kostet hier umgerechnet nur zwei Pfennige.«
Die Band stimmte ein langsames Lied an. Gili kam zu ihnen herüber.
»Ich leg jetzt ein wenig Erdbeer auf die Wangen und dann würde ich gerne noch mal tanzen.«
»Vergiss mal die Erdbeeren«, sagte Makeprenz, nahm einen Schluck Tuak, stellte den Palmwein auf dem Tisch ab und hielt ihr mit einem »Gnä’ Frau« einen angewinkelten Arm hin.
Oskar beobachtete die beiden, wie sie sich vergnügt im Takt wiegten, als Sugar an ihren Tisch zurückkehrte, sich mit einem kleinen Kamm seine Haare zurechtstriegelte und ein Glas befüllte.
»Hat es dir gefalle?«
Der Hamburger reagierte nicht, verfolgte das Geschehen auf der Tanzfläche.
»Oje. Verstehe. Wie schlimm ist es?«
Erst jetzt bemerkte er Sugar.
»Schlimm.«
»Sehr schlimm?«
»Schlimmer.«
»Wie lange kennt ihr euch?«
»Etwas über eine Woche. Und eigentlich kennen wir uns gar nicht.«
»Schlimm.«
»Nein, es ist wirklich schlimmer: Sie wird in ein paar Wochen nach Hongkong verschwinden.«
»Da musst du eine Lösung finde, niet waar?«
Oskar versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht.
»Wenn ich sie ansehe, bin ich wie gelähmt. Ich würde sie sofort heiraten, hier und jetzt. Aber ich weiß nicht einmal, was diese Frau denkt. Wenn du eine Idee hast, bitte.«
»Erst mal müssen wir das Wasser in die richtige Richtung fließen lassen, bevor wir die Brücke bauen.«
Ruckartig stand Sugar auf, drängelte sich zu einer als Greta Garbo verkleideten Frau durch, die allein mit ihrem am Kabel abgeschnittenen Menschen im Hotel -Telefonhörer in der Nähe der Bühne stand, zog sie mit sich und hängte sie bei Makeprenz unter. Dann kehrte er mit Gili zurück zu ihrem Tisch.
»Kommt, ich will euch etwas zeigen.«
Sugar schaltete die Lichter seines Ford Eifel aus und führte Gili und Oskar einen der Stege entlang. Myriaden von Motten umschwärmten die schummrigen Laternen von Surabayas Hafen. Der abendliche Lärm um Tunjungan, die geschäftige Hauptverkehrsader der Stadt, war nur noch ein entferntes Summen in ihrem Rücken. Draußen auf dem Meer tuckerte ein Fährboot über die ruhige See, grüne und rote Lichter schimmerten durch die Rauchschwaden der Dampfmaschine. Weit dahinter lag schwer ein riesiger Dampfer im Wasser.
Über dem Meer ist die Nacht tiefer , dachte Oskar, als sie am Ende des Steges angekommen waren, wo nur noch das Licht einer Öllampe in der Kabine eines kleinen, am Steg vertäuten Lastkahns flackerte. Weit weg, da draußen.
»Das«, Sugar breitete feierlich seine Arme aus, »ist der Western Fairway. An jeder Seite des Hafens befindet sich eine Zitadelle zur Verteidigung, Fort Menari und Fort Piring. Seht ihr die? Ich komme oft nach Auftritte hierher.«
Der Stolz über die Errungenschaften des indonesischen Militärs war dem Musiker deutlich anzuhören. Er erklärte, er sei froh über die Generationen an sorgfältiger Kolonialisierung. Sie hätten der Stadt Prosperität, Frieden und eine unumstößliche Sicherheit gebracht.
Hinter ihnen kletterte ein Kuli aus einem am Bug bunt bemalten Pinisi, auf seinen Schultern zwei schwere Körbe balancierend, die gleichzeitig nach Stockfisch und Kokosnuss dufteten.
Sugar setzte sich auf den Rand des Steges, und Gili und Oskar taten es ihm gleich. Sie beobachteten ein paar Schwalben, die über das dunkle Wasser streiften. Der Musiker hatte eine aus dem Hellendoorn entwendete Bierflasche und eine Packung Nelkenzigaretten mitgebracht und bot Gili eine an, gab ihr Feuer. Dann nahm er einen Schluck und reichte das Bier weiter.
»Es ist jede Abend das Gleiche hier«, erklärte er. »Meine glühende Zigarette, ein paar merkwürdige dunkle Gestalte, die Vögel, die Schiffe. Wie sagt man bei euch? Das wächst an mein Herz. Aber an manche Tagen würde ich gerne auf so einem Dampfer an der Reling stehe, die Insel hinter mir lasse und mich auf Amerika freuen.«
Mit einem empörten Gesichtsausdruck gab Gili Sugar einen Schubs.
»Fang nicht schon wieder an. Du bist ein Musiker. Ein Bandleader sogar! Und natürlich wirst du nach Amerika fahren. Genau an so einer Reling stehen und aufs Land schauen. Und deine Familie wird genau hier sein, wo wir jetzt sitzen, und sie werden dir mit verweinten Augen und Taschentüchern in der Hand hinterherwinken.«
Sugar blickte verschämt zu Boden.
»Und wir schlagen dann neidisch die Zeitung auf«, ergänzte Oskar. »›Sugar Cane Siwaletti – Star des Boardway, an drei Nächten hintereinander ausverkauft.‹«
»An fünf Nächten«, jubelte Gili heiser, »und es heißt Broadway, Mensch.«
»Nein, nein, nein! Aufhören. Das wird niemals geschehe.« Sugar schüttelte verlegen den Kopf. »Wie soll jemand, der seine Kindheit auf einer Zuckerrohrplantage in Bondowoso verbracht hat, am Broadway landen, he?«
Er erzählte ihnen von seinen Eltern, einem javanischen Vater und einer niederländischen Mutter, die ihn auf eine gute holländische Schule geschickt hatten, wo er mehrere Sprachen, darunter Deutsch und Englisch, lernte. Berichtete von ihrem Betrieb, der jahrelang wuchs und gedieh und seine Eltern zu reichen Leuten machte, bevor es im Zuge der Wirtschaftskrise bergab ging. Sugar beklagte, wie skeptisch die Eltern seine Vorliebe für amerikanischen Jazz beäugt hatten.
»Ich hätte ihnen gerne mal erklärt, dass ich jedes Mal Gänse haut bekomme, wenn ich Sonny Greer oder Kenny Clarke im Radio spielen höre. Wie warm mir ums Herz wird, wenn Sidney Catlett – Big Sid Catlett! – über das Fell einer Snaredrum streichelt oder Cab Calloway wie Samt zum Ploppen von eine Kontrabass singt. Aber das wäre aussichtlos gewesen.«
Ein einziges Mal, beim Abendessen, erzählte Sugar, habe er ihnen geschildert, was es ihm bedeute, wenn der Pianist Duke Ellington mit geschmeidigen Fingern ein paar seiner Sorgen zum Klingen brachte. All seinen Mut habe es ihn gekostet, seinen Eltern an jenem Abend zu beichten, dass er, Henk Siwaletti, von allen Sugar Cane genannt, plane, genau dieses Kunsthandwerk ebenso perfekt zu beherrschen und sein gesamtes Leben dem Ziel, einmal in Amerika in einem echten Jazzclub zu spielen, unterzuordnen gedenke.
Er legte seine Lippen an die Öffnung der Bierflasche und blies einen tiefen Ton darauf.
»Und dann hat mich meine Schwester daran erinnert, dass ich als Clown arbeite, niet waar? Und das stimmt, leider. Ich arbeite als Clown, um etwas dazuzuverdiene. Ich bin eine traurige Clown, mehr niet.«
»Was ist daran verkehrt?«, fragte Gili und erntete einen verstörten Blick.
»Ich glaube niet, dass der große Duke Ellington jemals als Clown gearbeitet hat.«
»Vielleicht nicht, aber bestimmt als Barmann, Zeitungsverkäufer oder Vertreter. Niemand schlüpft in die Rolle seines Lebens wie in ein Paar Hausschuhe. Du brauchst Ausdauer.«
»Ich kenne die begabtesten Gitarriste, und alle haben Ausdauer. Aber die sind inzwischen geschickter darin, in einer Hotellobby den Koffer von eine Reisende zu stehlen als den neueste Swing-Hit zu spiele. Die meisten geben irgendwann auf.«
»Das mit dem Aufgeben lässt du mal schön bleiben. Und du, Herzchen?« Gili stupste Oskar an. »Du willst doch sicher auch noch mal deine Finger in Richtung der Sterne strecken. Makeprenz hat mir erzählt, dass jetzt auch andere Zeitungen von dem Überfall und deiner Reise berichten: Die Deutsche Wacht , das Hamburger Fremdenblatt , sogar das Journal de Genève , hat er gesagt. Wirklich, ihr seid mir ein paar Heinis. Es muss mal jemand ein bisschen Schwung in euch bringen. Wieso machen wir nicht morgen zusammen einen Ausflug mit deiner Ariel?«
»Da passen nur zwei Persone drauf. Außerdem muss ich proben, Gili.«
Stumm schauten sie dem Ozeandampfer hinterher.
Oskar beobachtete Gili, wie sie inhalierte, Rauch ausstieß und ihr Haar schüttelnd von einem Insekt befreite. Nie hatte ein Mensch schöner und bewundernswerter geraucht und sein Haar geschüttelt.
»Was war das für Musik«, fragte er schließlich, »die vorhin von der anderen Combo gespielt wurde? Sie klang so fremd. Gar nicht javanisch.«
»Oh, das«, sagte Sugar. »Derzeit gibt es kaum eine Vergnü gungsveranstaltung in Surabaya, die ohne Lieder aus Hawaii auskommt. Die Menschen hier träume von Honolulu.«
Leise gluckste das Wasser unter ihnen.
»Honolulu. Tatsächlich«, wiederholte Oskar. Er sah zu, wie Gili an ihrer Zigarette zog und nachdenklich aufs Meer blickte.
Es ist ganz egal, wie schön der Ort ist, an dem man lebt , dachte er. Sehnsucht ist eine Währung, mit der jeder sein Dasein bezahlt.