K onstantys Spaziergänge führten ihn in immer neue Viertel Londons. So wie heute lief er inzwischen oft umher. Selten achtete er noch darauf, wo er sich genau befand. Er wusste, er vernachlässigte die Arbeit, doch es war ihm egal. Was konnte schon passieren? Was konnte noch Schlimmeres passieren, als dass nichts passierte? Absoluter Stillstand. Die Welt drehte sich, Konstanty konnte förmlich spüren, wie andere an anderen Orten die großen Themen verhandelten, und er saß weiterhin in London und trauerte seinen zerronnenen Möglichkeiten nach.
So weit wie Speck inzwischen gekommen ist, würde seine Rückkehr eine Sensation sein. Da müsste die Beinhorn schon mit der bloßen Bewegung ihrer Arme fliegen, um mitzuhalten.
Bald würde es einen zweiten, einen dritten Egon Lex geben, mächtiger und durchsetzungsfähiger, und der würde Oskar Speck entdecken und ihn an seiner statt zurückholen.
Von den größeren Straßen zweigten immer wieder kleinere Gassen ab, zur Themse hin. Es war Sonntag, und sie waren menschenleer. Und doch fühlte Konstanty sich beobachtet. Er hörte Kinder schreien und blieb stehen. Am Ende einer der Sackgassen sah er den riesigen Schornstein eines Dampfers in den Himmel ragen, der dick und dunkel am Greenland Pier lag. Es war ein außergewöhnlich warmer Spätsommertag, und eine Reihe Grundschulkinder spielte auf dem Asphalt Cricket. Sie rannten auf dem Kopfsteinpflaster umher. Ein Junge hatte sich in Erwartung des Balles hinter einer aufrecht platzierten leeren Obstkiste aufgebaut, direkt davor ein Mädchen, die ein Gemüsebrett oder etwas Ähnliches an einem Griff umklammerte und damit versuchte, den Ball zu treffen.
»Los, komm mit.«
Jemand zupfte Konstanty am Ärmel, lief die Hauptstraße hinab, und bevor er realisiert hatte, dass es Diana war, war sie auch schon einige Schritte voraus.
»Was machst du hier?«
Er hatte aufgeholt.
»Das könnte ich dich fragen. Ich bin dir gefolgt. Eigentlich bin ich ganz froh. Hier wird mich niemand kennen, und es wird niemanden interessieren.«
»Was wird niemanden interessieren? Wovon sprichst du?«
Jetzt war er es, der Diana am Arm packte, und er erschrak, als er ihr Gesicht sah. Die großen hellen Augen blickten müde aus tiefen Höhlen. Schattige Ränder, kaum Make-up, ihr Teint farblos. Unter ihrem Hut waren die Haare ungekämmt.
Sie ging weiter und massierte dabei nervös ihre rechte Augenbraue.
»Unity hat versucht, sich umzubringen. Oder jemand anders. Im Englischen Garten, mit ihrem Perlmutt-Revolver. Ist alles etwas unklar. Sie hat überlebt, ist in ein Krankenhaus gebracht worden, aber … Es wird sich einiges verändern … Hier!«
Sie hielt ihm einen Briefumschlag entgegen.
»Was ist da drin?«
»Ein Empfehlungsschreiben. Von Hitler unterzeichnet. Direkt aus dem Braunen Haus. Sieh ruhig nach. Ich habe mich dafür wirklich ins Zeug gelegt. Leider hat ein Mitarbeiter deinen Namen falsch verstanden. Du heißt jetzt Konstantin Stab. Mehr kann ich nicht tun.«
»Britischer Humor«, erwiderte Konstanty. »Weltberühmt. Wieso nur?«
»Hör auf damit.«
Sie waren stehen geblieben. An dieser Stelle der breiten Straße fuhr zum Hafen hin nur selten ein Auto.
»Sieh es dir später an. Das sollte dir Respekt verschaffen, egal, wo du landest. Hitler sagt, der Krieg sei in greifbarer Nähe.«
»Wo ich lande?«
Konstanty hasste, wie schwach er klang.
»Oswald und ich werden in den nächsten Tagen verhaftet. Da gibt es keinen Ausweg mehr. Und dich werden sie auch einsperren, wenn du nicht tust, was ich dir jetzt sage.«
Ein schnaufender britischer Lastwagen fuhr an ihnen vorbei.
»Nach Deutschland kommst du nicht mehr. Aber hier im Gefängnis wirst du auch nicht lange bleiben.« Ihr leerer Blick fiel auf die Themse. »Die meisten verschiffen sie nach Kanada.«
»Diana, bitte, ich …«
»Psch. Ich muss wieder gehen. Ich habe mich informiert. Oswald sagt, sie bereiten große Dampfer wie die Dunera vor, um Flüchtlinge, Gefängnisinsassen, Juden, Deutsche aller Art zu verschiffen. Eingepfercht, im Unterdeck.«
»Ich bin kein Flüchtling.«
»Ich will mir gar nicht vorstellen, wie du in dem überfüllten Bauch eines solchen Schiffes mit tausend anderen Gefangenen so eine lange Fahrt überleben sollst. Aber es gibt noch eine andere Lösung.«
»Ich höre.«
»Die Fairbridge Society bringt regelmäßig Kinder außer Landes, die woanders in neuen Familien untergebracht werden. Ebenfalls per Schiff. Oswald war so nett, dafür zu sorgen, dass du als Aufsichtsperson bei einem solchen Transport mitkommen kannst.«
»Mit Kindern.«
»Ich werde jetzt nicht lange mit dir darüber debattieren. Ich weiß nicht, wohin sie dich bringen und was dann geschieht. Aber es ist besser als alles andere. Wenn du willst, holt dich heute um sieben Uhr jemand an deiner Wohnung ab. Ach ja, ich hab noch etwas für dich.«
Nervös kramte sie in ihrer Manteltasche und zog die Pfeife und ein kleines Samtsäckchen hervor.
»Hier. Wie sie funktioniert, habe ich dir ja gezeigt. In dem Beutel sind Patronen. Versuch nur nicht, damit zu fliehen. Mit den paar Schüssen wirst du nicht weit kommen.« Erneut sah sie die Straße hinab, dieses Mal in die Richtung der nur noch dumpf zu hörenden Kinder. »Im schlimmsten Fall wird sie deine Erlösung sein.«
Sie war schon einige Meter entfernt, als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, rückwärts weiterlief.
»Es gibt noch eine schlechte Nachricht.«
Konstanty hob beide Hände, und Diana musste wegen eines heftigen Windzugs lauter sprechen.
»Ich habe in der Picture Post einen Artikel über deinen Oskar gelesen. Du kannst die Sache ruhen lassen, Konsty. Er ist ertrunken. In einem Sturm. In der Arafurasee. Komischer Name, isn’t it?«