Tatura, australische Wüste, 16. Januar 1940
Liebes Ypsilon,
hast du all meine Briefe aus Papua erhalten? Einen wenigstens? Ich fürchte nein. Leider konnte ich meine Post erst abschicken, als ich in Fak-Fak angekommen war. Falls dich also nichts erreicht hat, in aller Kürze: Ich habe auf den Inseln viel gefilmt, die Menschen waren sehr nett; lediglich die Holländer haben in Artikeln schlimme Lügen über mich verbreitet. Sie waren wohl gekränkt, dass ich sie so hinters Licht geführt habe – dabei gebühren eigentlich dir diese Lorbeeren. Einmal erzählte mir jemand, sie hätten sogar in die Welt gesetzt, dass ich in einem Sturm ertrunken sei. Was für ein Blödsinn!
Gili, ich bin in Australien angekommen – und noch am Strand verhaftet worden. Im Gefängnis auf Thursday Island durfte ich dir in den ersten drei Monaten nicht schreiben. Nun hat man mich in ein Internierungslager mitten in die Wüste verfrachtet, aber ich hoffe, bald wieder frei zu sein, und dann werde ich dich suchen und finden. Versprochen!
Ich will dir kurz meine ersten Wochen hier schildern.
Ich bin mit über eintausend anderen Deutschen in Haft. Erinnerst du dich, was du über Frauen und Männer gesagt hast? Das Schicksal scheint mir deine Theorie in Bezug auf die Männer auf besonders perfide Art beweisen zu wollen. Es gibt keine einzige Frau im Lager und, soweit ich das überblicken kann, kaum einen Kerl, mit dem man ein paar nette Worte wechseln kann. Aus allen Teilen der Welt hat man die Leute hierhergebracht. Dennoch ist viel Platz im Camp, es ist so weitläufig, dass ich längst noch nicht jede Ecke erkundet habe. Aber will ich das? Alles sieht gleich aus. Eigentlich gibt es hier nur die Wellblechbaracken, in denen wir wohnen. Und wo man geht und steht, surren einem Fliegen um den Kopf, entsetzlich.
Mich haben sie in Haus 54 gesteckt, das aussieht wie ein improvisiertes Lazarett. In jedem unserer Wohnkästen stehen um die zwanzig Feldbetten, die mit den Fußenden aufeinander zeigen, in der Mitte nur einen schmalen Gang übrig lassen. Ansonsten stapelt sich hier auf selbst gezimmerten Regalen der traurige Krempel der Inhaftierten: angestoßene Koffer, ausgebeulte Jacken, Rasierer und Pinsel, Seifenstücke und krumm geschrubbte Zahnbürsten, Päckchen mit Briefen. Immerhin eine Schallplatte hab ich entdeckt. Die Hülle war zerknickt und gerissen, aber die Worte »Odeon« und »Tango« konnte ich erkennen. Auch ein gerahmtes Foto ist mir aufgefallen. Mit lachenden Menschen, die aus einem sommerlichen Garten winken. Weiter entfernt als der Mond.
Das Lager an sich ist schnell beschrieben: Stacheldraht, hohe Zäune, Männer in Uniform auf Wachtürmen, Dutzende Reihen von Hütten, verteilt auf ein kilometerlanges Stück karges Land. Kiesel, Staub, Beete, Nichts. Nur weil es im fruchtbaren Goulburn Valley liegt, können wir hier Obst und Gemüse anbauen.
Von den Wachhabenden werden wir gut behandelt. Die Australier haben jedem Gefangenen eine Nummer gegeben, und je nach Benehmen und Status wird man von den anderen mit Nummer oder Namen angesprochen.
Es ist verpönt, länger für sich allein zu bleiben. Gruppen, wohin man schaut. Na, das ist was für mich, wie du dir vor stellen kannst.
Auch die Tage in Tatura sehen alle gleich aus, eineiige Zwillinge in einem Spiegelkabinett: Um sechs Uhr früh schrillt eine Alarmglocke, alle Männer müssen draußen auf dem Platz zum Morgenappell antreten. Jeden Morgen, jeden Abend und bei jedem Wetter (bislang immer brütend heiß). Dann überprüft ein deutscher Hutleader, das ist so eine Art Hausmeister, für jede Baracke die Anwesenheit der Insassen. In unserem Fall ein Kerl namens Schönborn, furchtbare Nervensäge. Eine halbe Stunde später gibt es in drei staubigen Hallen – den Kantinen des Lagers – ein spärliches Frühstück, und danach verteilen sich die Männer auf die anstehenden Arbeiten. Diese beschränken sich auf das immer gleiche Hantieren und Basteln in Werk stätten, auf das Ausschenken im Coffee Shop, sinnlose Tätigkeiten in einem der vier Büros der deutschen Lagerverwaltung oder das Anpflanzen von Gemüse, Obst oder Mohnblumen in ein paar Dutzend Beeten.
Nach dem Mittagessen setzen wir fort oder wiederholen, was wir am Vormittag getan haben. Um sechs gibt es Abendessen und anschließend einen zweiten Appell, bei dem erneut die korrekte Anzahl der Insassen geprüft wird. Um zehn Uhr abends wird in allen Baracken das Licht gelöscht. Und das ist die Zeit, in der ich dich am meisten vermisse. Außer natürlich am Vormittag und am Nachmittag. Und am frühen Abend.
Wer Interesse hat – ich habe es nicht –, kann sich abends im Gemeinschaftshaus den zahlreichen Nationalsozialisten anschließen, die dort laut und mit Schmiss deutsches Liedgut schmettern. Ein paar der Lieder erkenne ich wieder. Ich meine sogar, ein oder zwei vor Jahren in meinem Zelt auf der Mandoline gespielt zu haben. Aber jetzt, so, gefallen sie mir nicht mehr. Manchmal empören sie sich auch bei wilden Diskussionen über Polen, Engländer, Australier und alle anderen, die am Lauf der Dinge schuld sind. Dies, liebste Gili, ist in Freiheit wie in Gefangenschaft der große gemeinsame Nenner unserer Landsleute, vielleicht aber auch der gesamten Menschheit: Die Quelle allen Übels ist immer der andere, oder besser noch, die anderen. Woher kommt das nur? Ich bin mir sicher, du könntest es mir sagen.
Täglich übersetzt ein Häftling namens Langenbach englische Radiomeldungen, die dann krächzend aus den Lautsprechern des Gemeinschaftshauses dröhnen. Macht Deutschland im Krieg Fortschritte, johlen alle, wenn nicht, kann man im Lager den Wind denken hören.
Müsste ich schätzen, würde ich sagen, nahezu alle im Camp sind Nazis. Aber mit etwas Aufmerksamkeit erkennt man die menschlich Denkenden. Liest jemand Adalbert Stifter, hat er mit den Braunen vermutlich nichts am Hut. Auch ein gewunkener oder sonstwie übertriebener Hitlergruß verrät eine vaterlandskritische Gesinnung. Dementsprechend selten sieht man so etwas hier.
Ich halte mich aus allem heraus, und nach dreiundzwanzig Tagen bin ich nun einer von vielen. Anfangs schienen die Männer Abstand zu mir zu halten, der Hutleader sagte, es gäbe Gerüchte über mich. Doch inzwischen werde ich nur noch selten argwöhnisch beäugt.
Von den anderen Gefangenen weiß ich wenig. Schönborn ist jedenfalls ein besonders misslungenes Exemplar. Aber auch unter den übrigen kann ich mich gar nicht entscheiden, wen ich am wenigsten ausstehe.
Immerhin die Embritz-Brüder aus Berlin sind zwei lustige Figuren. Sie waren es, die mir erklärt haben, wie das Lager funktioniert. Alles wird hier von strammen, parteitreuen Deutschen organisiert. Wie wir Insassen untereinander auskommen, ist komplett uns überlassen. Die australischen Wachmannschaften scheint es nicht zu kümmern. Von der Metzgerei bis zur Krankenstation funktioniert Tatura wie ein vergleichbares Gemeinwesen in der alten Heimat – nur eben unter den wachsamen Augen australischer Soldaten.
Mein Bettnachbar heißt Konstantin Stab, er sieht aus wie ein Primaner, weiß aber, wie man sich Respekt verschafft. Vielleicht weil er sich so geschliffen artikuliert. Du, liebste Gili, hättest deine Freude an dem Knaben.
Ach, einen hätte ich fast vergessen, ein weiterer, schwacher Lichtblick im germanischen Allerlei: Francesco Fantin, ein Neapolitaner, der einzig Fremdländische im Lager, arbeitet in der Kantine, schenkt dort Kaffee aus. Er ist hier, weil er Deutsch spricht, wenn auch mit deutlich hörbarem Akzent. Die Engländer haben ihn auf der Dunera mit ein paar Tausend anderen, zumeist deutschen Häftlingen nach Australien und dann hierher ins Camp verfrachtet. Er ist wahnsinnig komisch.
Es gibt Tage, an denen spreche ich kaum ein Wort.
Die Fähigkeit, Freundschaften zu schließen – wenn ich sie je hatte –, ist mir abhandengekommen. Außerdem erscheint es mir sinnlos, ausgerechnet im Internierungslager nach Freunden Ausschau zu halten.
Mein Gesundheitszustand ist nicht gut, liebes Ypsilon. Ich leide weiterhin unter Durchfall und Fieber. Der Camp-Arzt weigert sich, eine Blutprobe zu nehmen. Bekomme ein Gramm Chinin pro Tag. Seit Anfang Dezember habe ich Rheumaanfälle in den Schultern. Die Sanitäter haben mich mit einer Salbe ein gerieben, vermutlich Butter, bringt gar nichts. Leide auch unter Anfällen, eine merkwürdige Symbiose aus psychischer Unruhe und Schmerzen in Kopf und Rücken. Na, dir würden bestimmt ein paar schöne Worte einfallen, was für ein Waschlappen aus mir geworden ist.
Besitz habe ich keinen mehr. Ich bin also da, wo ich vor acht Jahren, am Anfang meiner Reise, begonnen habe, abzüglich des Bootes und der Freiheit.
Die Wayang Kulit haben sie mir abgenommen, dabei hätte ich sie derzeit lieber als alles andere. Ein erwachsener Mann, der gerne eine Puppe zum Einschlafen hätte. Sag es bitte niemandem weiter. Was ich ebenso wenig habe, ist Geld. Also werde ich eine Möglichkeit finden müssen, um für den Tag meiner Freilassung finanziell ausreichend bestückt zu sein. Ich habe bereits angefangen, anderen Insassen Gebrauchsgegenstände zu basteln und zu verkaufen. Doch ich brauche noch mehr, um eine Dampferfahrkarte kaufen zu können.
Wieso zittert jetzt meine Hand? Ich höre auf. Die ersten Häftlinge kommen von der Arbeit.
Ich hoffe es nicht, aber vielleicht werde ich diesen und alle folgenden Briefe an dich sammeln müssen, und wenn ich wieder frei bin, schicke ich sie dir in einem Bündel. Oder besser noch: Ich übergebe sie dir persönlich. Ich will kein zweites Mal einen Packen Post an einen Geist aufbewahren.
Eines wollte ich noch sagen, Gili: Ich habe die Krone des Baumes erreicht. Ich bin ganz oben angekommen. Und weißt du, was dort ist? Du wirst lachen. Ein neuer Baum. Ich war auf dem letzten Ast, und die Aussicht waren endlos viele neue Wurzeln.
Schlaf gut, wo auch immer du bist.
Dein Oskar