E r versucht sich zu konzentrieren. Zu erinnern. Er hat schon oft vor einer Gruppe von Menschen gesprochen. Vor Wildfremden im Madras Port Staff Club. Vor den Aga-Khan-Pfadfindern in Belutschistan oder jenen in Madras und Kalkutta. Vor Geschäftsleuten in Bombay und Singapur, vor Scheichen, Strandjungen, Gangstern, Politikern, vor Deutschen Klubs voller Nationalsozialisten, vor Kommunisten und Revolutionären, vor Hindus, Katholiken und Moslems. Doch das hier ist anders.
Gerade erst ist auf der Bühne des Gemeindehauses durch einen Wettbewerb ermittelt worden, wer am längsten mit ausgestrecktem Arm einen Stuhl und später einen Tisch an einem der vier Beine halten kann. Der Sieger, ein Hüne namens Waldemar Kalbach, hat bei seinem Abgang Oskar einmal kurz angehoben, um sich dann kichernd unter das Publikum zu mischen. Die Luft auf dem Podium ist noch erfüllt von Aggression und Anspannung.
Oskar spürt Hitze in sich aufwallen. Muss ausgerechnet jetzt, im »Haus der Braunen«, wie Klaphake den sozialen Mittelpunkt des Lagers nennt, die Malaria neuen Schwung holen? Er kneift die Pobacken zusammen – sein labiler Verdauungstrakt hatte bereits in den letzten Tagen zu Spott unter den Mithäftlingen geführt –, und schließt die Augen, um nicht in die sechshundert neugierigen Gesichter der Gefangenen zu starren. Die »gemütliche Zusammen kunft«, die Schönborn ihm skizziert hatte. Es riecht nach Schweiß und Zigarettenrauch.
Um sich zu konzentrieren, betrachtet Oskar die gut ein Dutzend Hängelampen, die die Halle in erbarmungslos grelles Licht tauchen. Draußen ist es nahezu dunkel. Durch die offen stehende Eingangstür sieht Oskar, wie ein letzter greller Lichtstrahl am Horizont schmilzt.
Konstanty hat sich in der ersten Reihe ganz rechts platziert und wedelt sich mit einem der in den letzten Tagen überall in Tatura ver breiteten Flugblätter Luft zu. Wenige Plätze neben ihm, direkt vor Oskars Pult, hocken die Embritz-Brüder. Selbst Klaphake hat sich aus seiner Werkstattisolation gewagt und lehnt weiter hinten missmutig an einer Wand.
»Ich«, räuspert sich Oskar, während Francesco Fantin noch ein paar Kaffeebecher durch die Reihen reicht, »ich konnte mich leider nicht so gut vorbereiten wie auf frühere Vorträge.«
Sein Satz geht im allgemeinen Gemurmel unter.
»Wie ihr ja vielleicht schon mitbekommen habt, bin ich mit …«
»Lauter«, brüllt jemand aus den hinteren Reihen.
Oskar räuspert sich erneut.
»Jedenfalls bin ich mit einem Faltboot von Ulm aus hierhergekommen.«
Tuscheln und Gelächter sind zu hören. Kalbach ruft: »Und ich mit ’nem fliegenden Teppich, hahaha«, ein anderer: »Wie war der Wellengang in der Wüste?«
»Nach Australien, meine ich. Über sieben Jahre hat das gedauert. So ein Faltboot wiegt ohne Proviant und Kleidung schon knapp dreißig Kilo. Es ist fünf Meter achtundvierzig lang, einundachtzig Zentimeter breit und hat ein Freibord, also eine Seitenhöhe, von sechsundzwanzig Zentimetern. Mein Segel hatte eine Fläche von einem Quadratmeter achtundvierzig.«
Oskar sieht Konstanty an, der sich stirnrunzelnd die Nase reibt und lächelt, als sein Blick den des Redners trifft.
»Das Boot trägt bis zu dreihundertzwanzig Kilo, es hat sieben Querspanten und ist aus Eschenholz.«
Unmut macht sich breit, ein Papierflieger segelt über die Köpfe hinweg.
»Alle Metallteile«, fährt Oskar so ruhig wie möglich fort, »sind rostfrei und aus Messing, die Nieten aus Kupfer, Steven- und Heckbeschläge sind hochglanzverchromt. Die Außengummierung ... also die Außengummierung ist …«
Er muss schlucken, und seine letzten Worte gehen in Buhrufen unter. Der Inhaftierte Heribert Bohlen ruft aus dem Rückraum: »Hört sich eher an, als hättest du sieben Jahre in einer Schraubenfabrik gearbeitet!«
Lachen steigt flatternd von den Sitzreihen auf.
Oskar versucht sich zu sammeln, seine Zunge klebt trocken am Gaumen. Wäre wenigstens einer der Pfadfinder von Aga Khan hier, die damals an seinen Lippen gehangen hatten. Er spürt Fieber und Feuchtigkeit auf seiner Stirn, widersteht jedoch dem Impuls, sie sich abzuwischen. Frederick Embritz gibt ihm ein Zeichen, und Oskar beugt sich zu ihm vor.
»Ick glaube, du musst deine Geschichte ’n bisschen aufpeppen, sonst wird dit nüscht.«
»Wie viel Proviant hattest du dabei?«, ruft aus der Mitte der Gefangene Truchses, ein Mann mit wellig am Kopf klebendem Haar, der beim Sprechen ständig sein linkes Auge ein wenig zukneift.
»Wie viel Proviant, lieber Oskar?«, wiederholt Hauke Schön born, dem der Tumult ganz offensichtlich nicht behagt. »Sehr gute Frage.«
Oskar sieht ihn einen Moment lang an und holt tief Luft.
»Am Anfang, also losgefahren bin ich mit Nahrung und Wasser für zehn Tage.«
Dieses Mal deutet Oskar das erstaunte Gelächter als Zustimmung. Er berichtet von seinem prismatischen Kompass und getrocknetem Fleisch, und erneut setzt Unruhe ein.
Wolf Klaphake verdeckt, immer noch an der Wand lehnend, mit einer Hand seine Augen.
Oskars Hinweis auf die Zeit, in der er an der Westküste Indiens wochenlang nur von Austern lebte, geht im allgemeinen Tumult unter. Stühlerücken, »Ich will mein Geld zurück«-Rufe, Papierbällchen fliegen durch das Gebrüll der Männer.
Als sich die ersten Gefangenen erheben, um den Saal zu verlassen, sieht Oskar an der Tür drei Wachmänner, die gestenreich mit einem Dolmetscher diskutieren, und er ruft mit einer Stimme aus geschliffenem Stahl: »Joseph Goebbels hat mir Schokolade geschickt!«
Sein Kinn zittert.
Von einem auf den anderen Moment verstummt die Meute. Die Männer verharren in ihren Positionen, erstarren auf ihren Sitzen oder im Stehen, Köpfe drehen sich nach ihm um.
Und dann packt Oskar alles in einen ruhigen, langen Atemzug: Zypern, Fílippos, die Maharadschas und Hagenbeck, den Angriff auf Lakor. Weit entfernt hört er das Tuscheln des Dolmetschers.
»Ich bin einfach immer weitergefahren«, geht Oskar zum Schlusswort über, und tatsächlich klingt es wie das Ende eines Plädoyers.
Er spricht deutlich und konzentriert und doch so, als würde er mit sich selbst reden.
»Ich bin mit weniger Geld und Verpflegung losgefahren, als man für ein Picknick nach Winterhude mitnimmt. Ich hatte weder Schwimmwesten noch sonst eine lebensrettende Ausrüstung dabei. Meine Pläne waren weder Teil eines ausgeklügelten Systems, noch dienten sie einem höheren Ziel. Ich habe tausend Dinge gelernt, Leichen gesehen und Kugeln um meinen Kopf fliegen hören. Freunde gewonnen und wieder verloren. Bin fast verhungert und verdurstet. War Gott und Gülle. Tot und wieder am Leben. Bettler und König. Mit nur einem einzigen Gedanken im Kopf: Oskar, du wirst ankommen. Du wirst ankommen. Mit der Haut einer Wasserleiche, mit strähnigen, verfilzten Haaren, Pusteln, Stichen, blauen Flecken, Kopfschmerzen, Fieber, einsam und erschöpft, mit zerschundenen Gelenken, flackernden Erinnerungen, endlosen Wellen und Stürmen entkommen, Haien, Krokodilen und Würfelquallen, müde und am Ende. Genau so wirst du ankommen, habe ich mir gesagt. Aber ankommen wirst du.«
Vorsichtig hebt er seinen Kopf. Der Saal ist mucksmäuschenstill.
»Und ich bin angekommen. Ich habe fünfzigtausend Kilometer in einem Faltboot zurückgelegt, in dem schon meine kleine Schwes ter mit ihren Puppen gespielt hat. Hat jemand Fragen?«
Sechshundert betretene Gesichter starren ihn an. Während Oskar langsam ausatmet, geht ihm ein Spruch von Karol durch den Kopf: Gerade noch mal an der Klippe mit Rückwärtssalto vom Pferd gesprungen, Spargel.
Hans und Frederick Embritz sind die Ersten, die zögerlich applaudieren. Andere folgen ihrem Beispiel. Francesco Fantin steht neben Bertram Hayden, beide strahlen über das ganze Gesicht und klappern ihre Tassen aneinander, bis sie von Truchses unterbrochen werden, der aufsteht und mit einer Hand die anderen zur Stille gemahnt. Das aufkommende Wohlwollen verebbt.
»Das ist ja wirklich wunderbar. Hört euch Q61, den Dünnpfiff- König, an. Jetzt wissen wir, dass dein bester Freund ein Globus ist.«
»Jack London habe ich auch gelesen«, gibt der schwäbische Häftling Ellwanger kleinlaut von sich und amüsiert sich über seine Aussage.
»Angeber«, murrt Heribert Bohlen.
»Aber eine Frage hätte ich da noch«, ergänzt Truchses. »Gibt es auch nur einen einzigen Beweis für diese märchenhafte Fahrt im Ruderboot?«
»Kanu«, korrigiert ihn Schönborn und versucht, Herr der Lage zu bleiben. »Herr Truchses hat zu lange unter Tage malocht, Oskar. Wenn er Boot sagt, meint er Kanu.«
»Eigentlich ist es ein Faltboot und kein Kanu«, antwortet Oskar, »ein Kanu ist etwas ande…«
»Es reicht.« Truchses schiebt mit den Beinen seinen Stuhl demonstrativ weit zurück. »Meinst du, wir sind doof oder so was? Fünfzigtausend und eine Nacht. Von Ulm bis nach Australien in einem Kinderboot. Kannst du mir mal verraten, wie das gehen soll? Und dann sollen wir ernsthaft glauben, dass Joseph Goebbels dir Schokolade geschickt hat? Wieso nicht gleich Adolf Hitler?«
»Welcher Idiot würde dir überhaupt irgendwas schicken?«, pflichtet Wettkampfgewinner Kalbach ihm bei.
Erneut setzt entrüstetes Gemurmel ein. Oskar sieht, wie Francesco Fantin versucht, Truchses zu beruhigen, doch der Deutsche schubst ihn beiseite, spuckt ihm hinterher. Weitere Häftlinge erheben sich zum Gehen, der Inhaftierte Ellwanger verharrt mit verwirrtem Gesichtsausdruck, mustert Oskar, als wäre er ein mathematisches Rätsel. Doch es ist Schönborns leere, enttäuschte Mimik, die für Oskar unter allen Gesichtern heraussticht. Während die Embritz-Brüder betreten aufstehen und auch die übrigen Gefangenen sich wieder in Bewegung setzen, ertönt ein gellender Pfiff.
»Ich!« Jeder im Saal hört den Insassen Konstantin Stab, obwohl seine Stimme in diesem Moment aus Pergament zu sein scheint. »Ich war das. Ich bin der Idiot, der Joseph Goebbels seinerzeit Schokolade geschickt hat, und Joseph war derjenige, der sie an Oskar weitergeleitet hat. Ich habe damals beim Reichssportbund gearbeitet, unter Hans von Tschammer und Osten. Unseren Reichssportminister dürftet ihr ja kennen. Und warum haben wir Oskar Schokolade geschickt? Warum haben wir uns überhaupt für ihn interessiert? Weil Oskar euch die Wahrheit erzählt. Dieser Mann hat eine einmalige Leistung vollbracht.« Er sieht Oskar an. »Ich habe ihn später aus den Augen verloren und das immer bedauert. Umso schöner, dass wir uns hier, wenn auch unter nicht so schönen Umständen, getroffen haben. Oskar ist ein deutscher Held, Truchses. Bevor du hier das Wort ergreifst, solltest du seine Fahrt mit den Bäumen vergleichen, die du bislang in deinem Leben ausgerissen hast.« Dann zieht er einen Zettel aus seiner Gesäßtasche und schüttelt ihn auf. »Und wenn ihr mir immer noch nicht glaubt, könnt ihr gerne nach vorne kommen und euch dieses Emp fehlungsschreiben des Führers ansehen, das er mir höchstpersönlich ausgestellt hat. Ja, der Führer.« Er sieht Schönborn an. »Vielleicht hat noch jemand ein von Hitler unterzeichnetes Dokument dabei, und wir halten sie mal nebeneinander. Truchses? Bohlen? Kalbach? Keiner?« Er wartet. Dann haucht er: »Schade. Der Vortrag ist vorbei.«
Mit einer knappen Geste entlässt er die Zuhörer.
Schweigend schlurfen die Männer aus dem Gemeindehaus, und Oskar reicht Konstanty seine Hand.
»Mensch, danke. Die hätten mich sonst vermutlich gelyncht. Ich wusste gar nicht, dass du …«
»Und ich nicht, dass du … Und so weit, viel weiter als … Wie dem auch sei. Gern geschehen.« Er sieht in den Saal, der sich langsam leert, und fügt wispernd an: »Vielleicht kannst du dich ja irgendwann mal revanchieren.«