D as trübe Licht der australischen Wintermonate ist längst verschwunden. Der November zieht sich zurück, die Sonne steht bedrohlich über der Steppe, als Lagerleiter Backler an einem Diens tag ohne Vorankündigung einen Morgenappell an alle Gefangenen richtet. Seine über die Lautsprecher übertragene Botschaft fällt denkbar kurz aus. Der Italiener Francesco Fantin, so berichtet er, sei am Vortag bei einem Streit erschlagen worden. Zeugen hätten bestätigt, dass er Tabak aus der Vorratskammer entwendet habe und dabei erwischt worden sei, wie er diesen mit deutschen Häftlingen gegen Essen tauschen wollte. Oskar beobachtet Hauke Schönborn und Heribert Truchses, die teilnahmslos den Himmel über dem Lager studieren.
Gegen den Willen der internierten Nationalsozialisten wird Fran cesco Fantin einen Tag später auf einem winzigen improvisierten Friedhof am nördlichen Ende des Lagers begraben. Die Trauergemeinschaft besteht aus Wolf Klaphake und Oskar. Bertram hatte wild kopfschüttelnd abgelehnt und sich schluchzend unter seiner Decke vergraben, als sie ihn aus seinem Zimmer abholen wollten.
Keiner der beiden Männer ist in der Stimmung, eine lange Rede zu halten, also murmelt Klaphake ein »Friede seiner Asche«, und zusammen brechen sie in der Gluthitze wieder zu den Baracken auf.
Der Rückweg durch das Lager verläuft schweigend, keiner von ihnen sagt ein Wort, und Klaphake verweigert zunächst sogar Oskars Hilfe, der ihn stützen will, da ihm der Gang des Wissenschaftlers heute noch schwerfälliger erscheint als sonst. Schließlich ergreift der hinkende Riese doch noch Oskars Arm, wendet sein Gesicht aber von ihm ab.
Als sie am Beet der Embritz-Brüder vorbeikommen, fragt sich Oskar, ob Francesco Fantin tatsächlich eine Schwester hat, ob sie wohl wirklich blind ist und wie sie auf die Nachricht seines Ablebens reagieren, ob sie überhaupt davon erfahren wird. Von weiter unten im Lager hören sie das unbestimmte Kläffen von Langenbachs Stimme aus den Lautsprechern dröhnen, und lautstarker Jubel bricht aus. Irgendwo ruft jemand: »Essen fassen!«
»Die Sonne ist relentless«, knurrt Klaphake.
»Haben Sie verstanden, was Langenbach verkündet hat?«
»Wie bitte? Nein. Es interessiert mich auch nicht.«
»Aber eben haben sie besonders euphorisch gejubelt, das könnte bedeuten, dass der Krieg bald vorbei ist. Und dann sind wir freie Männer.«
Klaphake fährt mit einer seiner Pranken durch seinen bereits bis zur Brust reichenden Bart. Er schielt zu Oskar herüber, sein Gesichtsausdruck ist der eines mitleidigen Clowns.
»Ich weiß nicht, welche Ihrer Hoffnungen geringere Aussichten auf Erfolg hat. Ich habe gestern gehört, wie Langenbach jemandem in der Kantine erzählt hat, die deutsche Armee habe schwere Verluste im Luftkrieg über England erlitten. Es war die Rede von zwei Dutzend Bombern und mehreren Jägern. Es scheint sich eine Pattsituation anzubahnen. Gleichzeitig sieht es so aus, als ob sich der Krieg jetzt auch in Afrika ausbreitet.«
»Sie dürfen die Hoffnung …«
»… an der Garderobe abgeben, ich weiß.«
»Was ist mit Ihren Erfindungen? Haben Sie Ihr Gesuch eingereicht?«
Klaphake lacht abschätzig, und es klingt, als würde in seiner Mundhöhle eine Nähmaschine arbeiten.
»Wenn Sie mich nicht andauernd angetrieben hätten … Ich hätte es beinah nicht abgegeben. Wollen Sie wissen, was ich als Antwort erhalten habe? Sowohl das Inventions Board als auch der Australian Intelligence Service, sagte man mir, sind überzeugt, ich würde in Freiheit mein Wissen früher oder später dem Feind, Deutschland, meinem Heimatland, zugutekommen lassen. Ich habe es gestern sogar bis ins Offiziersbüro geschafft, habe ihm erklärt, mein einziges Ziel sei es, mit meiner Frau zusammenzukommen, egal, ob hier oder woanders. Er hat freundlich gelächelt und mich fortgeschickt. Mitleid ist wohl das einzige Sentiment, das ich noch erwarten darf.«
Der Blaue kommt ihnen mit seiner Posttasche entgegen, nuschelt ein »Sieg Heil« und geht vorbei.
»Ich hoffe, Bertram kriegt sich wieder ein«, sagt Oskar, um Klaphake auf andere Gedanken zu bringen.
»Das wird schon.«
»Er hat Francesco richtiggehend geliebt.«
»Ja, das hat er.«
»Wir werden nicht erfahren, wer es war, oder?«
»Herr Speck, eher erfahre ich in diesem Lager, wer Jack the Ripper war.«
Oskar tastet beim Gehen mit seinem Blick den Himmel ab.
»Übrigens: Wenn Sie mal wieder von jemandem hören, der für handwerkliches Geschick etwas berappen würde, ich stehe zur Verfügung. Schönborn hat mich in den letzten Wochen verschiedentlich darauf hingewiesen, dass ich ihm noch reichlich Geld für die zurückgeforderten Eintrittskarten schulde. Es hat gar keinen Zweck, ihn darauf aufmerksam zu machen, dass er es war, der mich zu dem Vortrag überredet hat. Ich könnte mich schon wieder aufregen.«
»Lassen Sie’s. Geben Sie ihm, was er will, damit fahren Sie besser. Es ist überhaupt ein Wunder, dass nicht längst noch mehr Männer hier durchgedreht sind. Die Leute sind angespannt wie Taue bei den schottischen Highland Games.«
Als sie vor Klaphakes Kammer stehen, verabschiedet sich der Wissenschaftler von Oskar, um sich zu Bertrams Zimmer aufzumachen. Er drückt ihm den Schlüssel in die Hand. Oskar sieht dem hinkenden Riesen eine Weile hinterher, bevor er sich der Hütte zuwendet, um vor dem Abendessen eines seiner Konstrukte einem kurzen Test zu unterziehen. Er ist gerade dabei, die Tür aufzuschließen, als er eine Bewegung in seinem Rücken spürt. Der Blaue lässt seine Posttasche in den Staub fallen und hält Oskar zwei Umschläge entgegen.
»Hätte ich fast vergessen«, sagt er außer Atem. »Da sind zwei Briefe für dich angekommen, Speck. Hier. Musst du mir aber quittieren.«