O skar hat die Kammer von innen abgeschlossen. Das Licht nicht angeknipst, obwohl es bereits langsam dunkel wird. Er sitzt auf Klaphakes kreischendem Stuhl, das letzte diesige Sonnenlicht fällt durch das Fenster. Seine Finger zittern. Er versucht sich zu beruhigen. Legt seine Hände auf die Umschläge, atmet langsamer.
Nicht draufschauen. Sieh nicht drauf.
Er reißt den ersten auf, zieht vorsichtig ein dickes Papier heraus und beginnt zu lesen.
15.X.1940, Bombay
Sehr geehrter Herr Speck,
Sie werden sich womöglich nicht in der Art an mich erinnern, wie ich mich an Sie erinnere.
Mein Name ist Eduard Stein. Wir sind uns vor Jahren bei verschiedenen Gelegenheiten im Hause John Hagenbecks begegnet. Die Welt war eine andere damals. Und Sie werden seitdem mehr Menschen getroffen haben als ich in meinem gesamten Leben.
Es hat mir einige Mühe bereitet herauszufinden, wo Sie sich aufhalten. Das Letzte, was mir in Bezug auf Ihre Person mitgeteilt wurde, erfuhr ich von dem guten Hagenbeck, der mir schrieb, Sie hätten nicht an den Olympischen Sommerspielen teilgenommen. Ein Jammer. Aber – und ich hoffe, ich beleidige Sie damit nicht – als er mir dies sagte, war ich gleichfalls erleichtert. Gott allein weiß, wo Sie heute wären, hätte Sie Ihr Weg zurück nach Berlin geführt. Wer weiß, in welcher und in wessen Mission Sie jetzt in der Welt unterwegs wären.
Als ich erfuhr, dass man Sie inhaftiert hat, bin ich erschrocken. Doch als ich hörte, wo Sie in Gefangenschaft sitzen, musste ich schmunzeln. Sie haben es also geschafft. Sie sind bis nach Australien gerudert, wie Sie es sich vorgenommen haben. Nur fürchte ich, wird das Echo auf Ihr Abenteuer, das Sie sich so sehnlichst gewünscht haben, tonlos im Tal dieser undankbaren Welt verklungen sein. Verzweifeln Sie nicht, lieber Herr Speck, die Welt wird dereinst von Ihrer Leistung erfahren! Auf welchem Wege und wann auch immer.
Wissen Sie, Herr Speck, ich habe Sie seinerzeit um Ihr freies Leben wirklich beneidet. Wenn man täglich unter Zwang steht wie unsereins, verliert man leicht die Sehnsucht nach den Schönheiten dieser Welt aus den Augen. Diese finden sich, glaube ich, über den gesamten Planeten verstreut, und nur wenigen wird es zuteil, so viel zu sehen wie Sie. Ich wünschte, die Vorsehung würde Sie weiter damit bevorzugen.
Der eigentliche Grund meines Schreibens ist aber ein trauriger. John Hagenbeck wurde vor einigen Monaten in ein britisches Gefangenenlager gebracht und ist dort bereits nach kurzer Zeit schwer erkrankt. Der arme Mann konnte den Engländern im letzten Krieg noch entkommen, doch nun haben sie ihn erledigt. Vorigen Monat ist er mit vierundsiebzig Jahren in der Haft verstorben.
In seinem letzten Brief sah John sein Ende herannahen und bat mich, Ihnen zu schreiben, Ihnen explizit für Ihre Verbundenheit und Freundschaft zu danken und Sie, egal wo, aufzuspüren und zu ermutigen, unabhängig davon, womit Sie gerade beschäftigt seien. Ein Spruch aus einem Buch, welches Sie damals mit sich führten, schrieb er, sei ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Der Amerikaner Mark Twain sei dessen Urheber: Es scheint, als gäbe es nichts, was heute nicht passieren könnte.
Ihnen möchte ich jedoch gleichfalls Johns eigene Devise in Erinnerung rufen. Er sagte mir einst, er würde sie unter jedem Brief an Sie vermerken. Nur immer mutig voran!
Dem schließe ich mich an, Ihr
Eduard Stein
P.S.: Wussten Sie, dass dieser Österreicher, Hradetzky, in Berlin zwei Goldmedaillen gewonnen hat? Ich dachte, das könnte Sie interessieren.
Auf dem zweiten Umschlag wimmelt es nur so von kleinen, mit Tinte gezeichneten Sternchen, während Name und Adresse des Absenders offenbar einem Regenguss zum Opfer gefallen sind und Oskar außer einem einsamen G und einem krummen A nichts erkennen kann.
G ili B A um ?
Das Kuvert ist, genau wie das erste, geöffnet. Jede Postsendung, die der Blaue zur Weitergabe von den Australiern ausgehändigt bekommt, wird vorher kontrolliert. Die Schrift auf den Briefseiten ist zittrig, das Papier dünn und rissig.
oskar
* tapa pati-geni! *
* wenn du das hier liest werde ich bereits tot sein * der gute alte makeprenz wird tot sein * aber ein neuer wird leben * subuh wird leben *** dieser brief ist ein letzter gruss * ich schreibe dir auch um reinen tisch zu machen oskar! *
* tapa ngadam! *
* du glaubst nicht was alles geschehen ist seit du hier aufgebrochen bist *
* die letzten anderthalb jahre waren für mich ein schöner murks das sag ich dir * nachdem ich von der plantagenarbeit mit siti zurückkam hatte ich ärger im klub * über monate haben sie versucht mich abzusetzen jemand anders zum präsidenten zu küren * ständig habe ich mich mit den idioten gestritten * und auch unsere liebe gili war nirgendwo zu finden ** oh wali **
ich muss dir etwas gestehen * ich hatte mich in gili verliebt * habe sogar mit ihr geknutscht nachdem du weggefahren bist * und um sie ganz für mich zu gewinnen habe ich später in der presse die information gestreut du seist im meer ertrunken * oh wali vergib mir **** oskar verzeih **** doch es hat alles nichts genutzt * irgendwann hat sie kurzen prozess mit mir gemacht kam vorbei mit einem neuen ehemann * steinalt war der kerl ich habe nicht schlecht gestaunt * auch du kannst sie also aus deinem testament streichen oskar * die feine dame greift stets nach dem dicksten fisch * glaub mir auch ich war rasend vor zorn ***** oh wali *
** und doch hatte ich noch ein fünkchen hoffnung dass ich noch einmal mit der süßen lieben gili würde reden sie zur vernunft bringen können **
* damals betrank ich mich immer öfter * wali * dukun vergebt mir * und in so mancher woche hätte ich mich am liebsten mit einem der kris dolche des sabudayan museums erstochen *
der sommer 39 war der absolute tiefpunkt * sie haben mich aus dem klub geschmissen * siti war noch bei der chinarinde ich auf einmal ohne ort ohne heimat ohne arbeit ohne gili und ohne einen einzigen freund ** und dann kam es über mich * ich nahm gilis artikel über dich und schickte ihn im suff und wut an die australischen behörden warnte vor dir als feindlichem subjekt * oskar * wali * ich war nicht ich selbst *****
* auch surabaya ist seit dem krieg nicht mehr wiederzuerkennen * im radio wurde die ankunft von amerikanischen bombern angekündigt * alle fühlten sich sicher und gewappnet * doch dann sind die japaner in java eingefallen wie die termiten * breitbeinige grimmige gelbe stehen jetzt vor dem hellendorn und dem simpang club * alle hier haben an die macht der holländer geglaubt dann an die der briten und der amis * jetzt kriechen sie vor den asiaten auf dem boden *
*** nachdem die kämpfe begonnen hatten ließ ich mich immer öfter volllaufen und hörte den musikern im hellendorn zu * eines tages sprach mich dort ein mann an * er musste sich zweimal vorstellen bis ich in ihm den hausmeister des deutschen klubs erkannte * er hatte sich einen Bart wachsen lassen um nicht aufzufallen * er spendierte mir getränke und eine weile plauderte er auf mich ein und ich wollte schon gehen als er beiläufig erwähnte dass fräulein baum ja wohl nicht mehr zurückkomme * auch ihre letzten dinge seien tags zuvor nun abgeholt worden *
* ich habe mehrmals nachgefragt * doch in dem gesicht des hausmeisters lag nichts als ehrlichkeit * ihre sachen sollten allerdings nicht an eine andere adresse in surabaya überhaupt gar nirgendwo in java sondern nach sydney verschifft werden * ich wollte natürlich mehr wissen als ein sirenenalarm losheulte * die vorhänge wurden zugezogen alle verkrochen sich unter die tische * die männer auf der bühne begannen auf einmal holländische lieder zu spielen zu denen ein teil des publikums hollands flagge pries * sie ließen den volkshelden piet heyn und seinen sieg über die spanische silberflotte hochleben * und ich lag starr auf dem boden alles drehte sich * ich erinnere mich wie freundlich mich zwei seltsame männer aufhoben * sie waren in helle tücher gewickelt und nickten andauernd * ich delirierte * dann wurde ich ohnmächtig * als ich wieder zu mir kam lag ich in den armen eines anderen mannes der dasselbe gewand trug wie die zwei männer im hellendoorn * alles war nass *** etwas plätscherte * wir befanden uns unter einem wasserfall und ich war mitten in einer tapa kungkum meditation * es war als wäre ich wiedergeboren worden oskar *
oh wali *** wie sich herausstellte hatte siti mich mit den seinen gerettet *
*** der dukun sagt alles geschieht wie es geschieht * mein zorn ist vergangenheit oskar * und siti predigt ich solle die wahrheit aussprechen und hinter mir lassen * wie gut das tut oskar *
* über den konsul hier auf java habe ich inzwischen erfahren wo du gelandet bist * und so gelten meine letzten zeilen als gunther makeprenz dir * danach werde ich subuh sein * ich werde schweigen * und büßen * tapa ngadam * ich habe bereits in vielen tapa ngalong buße getan * stunden von einem baum gehangen * tränen blut und schweiß fielen unter mir auf den boden *
* ich hoffe dass dich dieser brief erreicht und nicht irgendwo in der torres strait versinkt *** wali wali ***
dein subuh
Als Oskar die Blätter beiseitelegt, sind die Kammer und das Lager jenseits der Werkzeughütte in ein dunkles Grau getaucht.
Er schaltet eine Feldlampe an, die Klaphake auf seinem Tisch platziert hat, und liest den Brief ein zweites Mal. Ein drittes. Schließlich nur noch eine Stelle.
Dann schaltet er die Lampe wieder aus und bleibt reglos sitzen, bis die Dunkelheit allumfassend ist.