Z weihundertsiebenundsiebzig.
Bis zum Gemeinschaftshaus. Ebenso bis zum Beet des Blauen. Mehr als letzten Donnerstag. Vor einigen Wochen hatte Oskar damit angefangen, seine Schritte zu zählen, sie an den Markierungen des Lagers abzumessen, an den immer gleichen Wegen zur Kantine und Cafeteria, zur Latrine und zu den Beeten, oder wie jetzt zu Klaphake.
Ich brauche mehr Schritte als in der vergangenen Woche, in der ich mehr brauchte als in der davor. Nur eines von vielen Zeichen, wie sehr meine Kraft nachlässt.
»Ich hoffe, ich störe nicht?«
»Nein, nein, kommen Sie herein, Speck. Ich musste nur gerade etwas zu Ende bringen.« Klaphake verstaut ein Blatt Papier in einer Schublade und widmet sich sofort wieder seinen Aufgaben.
Oskar hält sich an einem der Regale fest, nestelt an einer rostigen Zange herum. Die stickige Luft, das stille Chaos in der Hütte, der jaulende Drehstuhl, der jede von Klaphakes Bewegungen kommentiert, all das ist wie immer. Erst als Oskar sich setzt und räuspert, wird Klaphake auf seinen nervösen Arbeitskollegen aufmerksam. Er streckt sich, stöhnt, und für einen Moment herrscht eine unangenehme Stille, während das schräg durch das Fenster fallende Sonnenlicht der Kammer eine diesige Atmosphäre verleiht.
Draußen vor der Tür ziehen drei Häftlinge vorbei. »… dann kannst du sicher auch darauf blasen, Mädchen«, gefolgt von polterndem Gelächter.
»Ich …« In den letzten vierzehn Stunden hat Oskar diesen Moment Dutzende Male durchgespielt, doch jetzt, da er gekommen ist, hat er Anlaufschwierigkeiten. »Ich muss Sie um etwas bitten.«
»Was Ernstes?«, fragt Klaphake und verschränkt die Hände vor seinem Bauch.
Nicken.
»Sie wollen fliehen und ich soll Ihnen dabei helfen.«
Oskar sieht ihn erschrocken an.
»Du lieber Himmel, sieht man mir das an?«
»Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie schon früher mit so einer Idee aufwarten würden.«
Oskar schluckt und nickt erneut.
»Sind Sie mir böse?«
»Nein, weswegen? Weil Sie türmen wollen und mir hier keine Gesellschaft mehr leisten? Das ist in der Tat schade, aber ehrlich gesagt, Sie stöhnen bei der Arbeit. Wichtiger ist: Sind Sie vorbereitet?«
»Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und bin alles durchgegangen.«
»Ihr Plan ist erst wenige Stunden alt?«
Entrüstung liegt in Klaphakes Stimme.
»Ja … Nein. Im Grunde habe ich seit meinem ersten Tag hier überlegt, wie ich ausbrechen kann. Aber jetzt muss ich. Und gestern kam der perfekte Plan ganz von allein zu mir. Ich musste nur alle losen Enden zusammenknüpfen. Doch ich benötige Ihre Hilfe, sonst geht es nicht.«
Klaphake sieht ihn lange unverwandt an. Dann beugt er sich vor.
»Sie brauchen mich für die Appelle.«
»Kann ich von Ihnen verlangen, mich an ein, besser an zwei Morgen und Abenden krankzumelden?«
»Können Sie. Wann soll das Ganze stattfinden?«
»In zwei Tagen! An Silvester .«
Klaphakes Augenbrauen heben sich wie ein Theatervorhang.
»Ich hatte gehofft, Ihre Gegenwart noch etwas länger genießen zu dürfen. Aber es ist, wie es ist. Das Datum ist hervorragend. Alle werden abgelenkt sein. Wie ich hörte, ist eine große Feier im Gemeindehaus geplant. Ich nehme an, es wird nur einen Versuch geben?«
Oskar bejaht und sieht Klaphake ernst an.
Das Licht in der Kammer ist trüb geworden, ein unter der Türritze hindurchpfeifender Wind ist Vorbote dunkler Wolken.
»Für die nächsten Tage ist ein Sturm angekündigt.«
»Von mir aus könnte ein Erdbeben angekündigt sein, ich muss trotzdem hier weg.«
»Verstehe.«
»Leider gibt es da noch etwas.«
»Raus damit.«
»Ich brauche für meinen Plan einen kräftigen Mann. Es müssen unauffällig einige schwere Dinge aus dem Schuppen geschleppt werden, Sie wissen schon, das kaputte Häuschen bei der Sickergrube. Dort stehen derzeit drei große Kisten, und aus einer davon müssen die Gegenstände entfernt und entsorgt werden. Die Grube ist dafür perfekt geeignet, genauso wie die alte Öltonne, die gleich daneben steht. Es ist wichtig, dass alles möglichst unsichtbar verschwindet. Ich selber werde leider nichts beseitigen können, ich habe Putzdienst und darf unter keinen Umständen auffallen. Schönborn hat mich ohnehin schon auf dem Kieker. Das Geld vom Vortrag …«
Klaphake klopft seine Fingernägel aneinander.
»Das könnte ein Problem werden. Ich bin dafür, weiß Gott, nicht geeignet. Meine Wirbelsäule quietscht, wenn ich einen Eimer Farbe auch nur ansehe. Tut mir leid, da werde ich Ihnen nicht helfen können.«
»Natürlich«, flüstert Oskar und vergräbt sein Gesicht in den Händen. Durch seine Finger sieht er, wie auch Klaphake seinen Schädel massiert.
Plötzlich schreckt der Wissenschaftler hoch.
»Bertram! Er wird uns helfen. Ich gebe ihm andauernd derartige Aufträge, um ihn bei Laune zu halten. Er wird den Unterschied gar nicht bemerken.«
»Es muss jemand sein, der nichts ausplaudert.«
»Zeigen Sie mir einen Gefangenen, der sich gerne mit Bertram unterhält, und ich zeige Ihnen einen Lügner. Außerdem: Bertram hat Mühe zu verstehen, wann es Essen gibt, wie sollte er etwas so Diffiziles wie einen Fluchtplan begreifen? Ich werde ihm sagen, es wäre ein Gefallen für Sie. Wenn ich recht darüber nachdenke, eignet sich der Mann sogar perfekt. Niemand wird ihn ansprechen, wenn er etwas durch die Gegend karrt. Womit wir aber zu der interessantesten Frage kommen: Wie bitte, verflucht, wollen Sie fliehen?«
Oskar lächelt entschuldigend.
»Es gibt leider noch einen dritten Gefallen, den Sie mir erweisen müssten.«
Damit man sie so kurz vor der Ausführung des Plans nicht zusammen außerhalb des Schuppens sieht, wankt Klaphake gute einhundert Meter vor Oskar durch die um sie herum aufwirbelnden Staubwolken des Lagers. Das Humpeln des Wissenschaftlers erinnert ihn an jenen Tag vor knapp einem Jahr, als Klaphake mit Bertram die Anhöhe zu den Beeten der Embritz-Brüder heraufgestolpert kam. Jetzt tanzt sein langes Haar um seinen Kopf, seine schwarze Jacke und die ausgebeulte Hose flattern wie Fahnen und lassen ihn von hinten aussehen wie ein Ungeheuer, das den tosenden Wind selbst heraufbeschworen hat. Oskar spürt Sentimentalität in sich aufsteigen.
Ein weißhaariger Arachnologe aus Haus 17 eilt an ihnen vorbei, die Augen wie immer auf den Boden geheftet in der Hoffnung, endlich eine Rotrückenspinne zu finden. Ansonsten kreuzen kaum Mithäftlinge ihren Weg, die wenigsten wagen sich bei dem an Wucht gewinnenden Sturm vor die Tür. Der Wind fegt ihnen den stinkenden Atem der nahen Destillerie ins Gesicht.
Als sie in der Kammer stehen, sieht Klaphake sich um.
»Und?«
»Gestern war ich zufällig hier«, sagt Oskar, »und als ich diese drei Kisten gesehen habe, wurde mir schlagartig klar: Wenn ich an den Wachen nicht vorbeikomme, wenn ich also nicht gewaltsam türmen kann, dann muss ich mit ihnen fliehen.«
»Ich fürchte«, Klaphake wischt sich Haare aus dem Gesicht, »ich kann Ihnen nicht ganz folgen. Soll ich Sie als australischen Wachmann verkleiden?«
Oskar winkt ab.
»Ellwanger, unser kleiner Schwabe, arbeitet derzeit jeden Tag hier und spielt nebenher ein wenig Klavier. Gestern hat er mir erzählt, dass viermal im Jahr Schrott aus Tatura abgeholt und mit einem Laster nach Wangaratta transportiert wird.« Er hebt den Deckel einer Kiste an und wühlt mit den Händen in ihrem Inhalt, dass es scheppert. »Niemandem wird etwas auffallen, wenn anstelle dieses Unrats ein Mensch in einer der Truhen liegt und wenn dieser Mensch mitten auf der Fahrt vom Laster springt.« Oskar räuspert sich. »Ich habe mich gestern Abend davorgelegt und es ausprobiert. Wenn ich die Beine anziehe, passe ich mit einer kleinen Tasche hinein.«
In der Ferne kräht leise Langenbachs Stimme.
Klaphakes Blick gleitet nachdenklich über die Kisten, dann knurrt er: »Und eine davon soll Bertram für Sie leerräumen?«
»Korrekt.«
»Sie werden auf der Fahrt ersticken.«
»Werde ich nicht. Sehen Sie die großen Nägel, an denen der Rahmen befestigt ist? Ich habe die Spitzen an der Innenseite heute Vormittag abgefeilt. Einmal auf dem Laster und in voller Fahrt, werde ich sie von innen herausstoßen und so Luftlöcher schaffen.«
Klaphake krault seinen Bart, während Oskar weiterspricht.
»Einziger Nachteil ist, dass ich mich bereits mindestens eine halbe Stunde vor Abfahrt in die ungemütliche Position werde begeben müssen. Ellwanger hat gesagt, die Fahrer, die die Kisten abtransportieren, kommen um elf. Ich werde mich um zehn Uhr dreißig hineinlegen und eine Decke über mich ziehen. Sie müssten dabei sein, um etwas von dem kleineren Müll auf mir zu verstreuen und den Deckel zu schließen. Dann haben Sie ausreichend Zeit zu verschwinden.«
Der Wissenschaftler nimmt seine Brille ab, betrachtet sie, pustet ein Haar von einem der Gläser und putzt sie anschließend.
»Was ist? Was sagen Sie?«
»Ihr Plan«, er setzt die Brille behutsam wieder auf, »ist nicht besonders gut …« Ohne es zu wollen, lässt Oskar seine Schultern sinken. »… aber ein besserer fällt auch mir nicht ein, also sehen wir mal, wie weit Sie damit kommen.«
»Mit einer solchen Einstellung vermutlich bis zur Tür.«
»Nun seien Sie nicht beleidigt, nur weil ich meine Bedenken äußere und überlege, wie man aus einem gewagten einen brauchbaren Plan machen könnte. Ich habe nicht gesagt, es ist unmöglich. Und ich werde Ihnen helfen. Aber es gibt einige Unwägbarkeiten. Zunächst muss ich Bertram erklären, warum er den Müll in die Sickergrube werfen soll. Er führt penibel einen Kalender über seine Aufgaben, weil er sich an die meisten nicht lange erinnert. Aber das sollte ich hinbekommen. Ahnt Ellwanger etwas?«
»Ich habe ihm erzählt, ich würde für meine Frau gerne ein Lied einstudieren, um es ihr nach dem Ende der Gefangenschaft als Geschenk vorzuspielen. Dafür bräuchte ich Zeit zum Üben, habe ich ihm gesagt. Er hatte nichts dagegen, mir den Schuppen für einige Tage zu überlassen. Zumal ich angedeutet habe, dass ich bei Schönborn ein gutes Wort für ihn einlegen würde. Ich schäme mich etwas für die dreiste Lüge.«
Klaphake macht eine Wischbewegung durch die Luft, die Nichtigkeit dieses Gedankens verdeutlichend.
»Sie werden draußen auffallen.«
»Ich nehme saubere Ersatzkleidung mit. Außerdem habe ich noch eine Lesebrille von Francesco.«
»In unserer Kammer«, sagt Klaphake, weiterhin nachdenklich, »liegt ein Filzhut herum. Den können Sie gerne haben.«
Als Oskar ein amüsiertes Kopfschütteln des Wissenschaftlers wahrnimmt, der weiterhin die Kiste betrachtet und damit eindeutig den Plan – oder vielleicht auch nur die Chuzpe – honoriert, ist er sich zu einhundert Prozent sicher, dass seine Flucht keine achtundvierzig Stunden später reibungslos verlaufen wird.
Bis die Sache mit Schönborn passiert.