INSEKT

S tatt Schönborn führt an diesem Morgen Konstanty von Stäblein, routiniert und mit heiterer Ruhe, um zwanzig nach sechs den Morgenappell für das Haus 54 durch. Oskar schafft es nur unter größter Anstrengung, in der aufkommenden Hitze gerade stehen zu bleiben. Zwei Tage zuvor noch, auf dem Rückweg von der Kammer und Ellwanger, hatte er sich vorgenommen, die Nacht vor der Flucht früh, tief und möglichst lange zu schlafen.

Als die Männer nach dem Appell ihren Beschäftigungen nachgehen, legt jemand von hinten eine Hand auf Oskars Schulter: »Die haben für nachher schon wieder einen Sturm angesagt. Ein Glück, würde der jetzt schon toben, wäre ich mit meiner Fistelstimme gar nicht zu den Männern durchgedrungen. Ich war gestern nicht zu ruppig zu Schönborn, oder?«

»Konstantin, Morgen. Ich … ehrlich gesagt …«

»Nein, es war einfach genug. Ich finde, Hauke trägt selbst ein gerüttelt Maß Verantwortung für seine Situation. Oder wie meine Oma zu sagen pflegte: Schuld eigene. Ab und zu muss man auch mal den Advocatus diaboli spielen.«

Schon hat ein anderer Häftling Konstantys Aufmerksamkeit erregt, und der gibt Oskar einen Klaps auf die Schulter und eilt davon.

Ich muss raus aus diesem Wahnsinn, aus diesem Irrenhaus.

Mit einem wehmütigen Gefühl im Bauch steht Oskar wenige Minuten später vor Klaphakes Schuppen.

Ein letztes Mal.

Er vergewissert sich, dass er unbeobachtet ist, klopft an und wartet, bis der Wissenschaftler ihm öffnet.

Einen Moment lang stehen sie sich gegenüber, keiner von beiden weiß etwas zu sagen.

Klaphake legt sein Kinn auf die Brust und mustert Oskar über den Rand seiner Brillengläser, die, wie immer, mit einem matt klebrigen Fettfilm bedeckt sind. Dann bittet er ihn stumm hinein.

»Habe gehört«, sagt Klaphake und schlurft hinter Oskar her, »es gab gestern Abend einen Tumult bei Ihnen in der Baracke. Man munkelt, der kleine Stab habe sich Schönborn vorgenommen, sei nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen.«

»So kann man es formulieren. Es würde zu lange dauern, Ihnen das zu erklären. Fest steht, die Männer sind abgelenkt, es kann alles wie geplant stattfinden. Mehr müssen Sie nicht wissen.«

Klaphake gibt einen zufriedenen Laut von sich.

»Kaffee?«

Stumm lehnt Oskar ab, nimmt auf seinem angestammten Hocker Platz und legt seine Hände zwischen die Knie.

»Ich wollte mich von Ihnen verabschieden. Wir werden später keine Gelegenheit mehr dazu haben.«

Klaphake schweigt und blickt ihn lange unverwandt an. Als er zu sprechen beginnt, klingt seine Stimme müde.

»Als Sie vorgestern zu mir kamen, hier hereintraten, hatte ich gerade einen Brief an meine Frau beendet. Ich habe vom guten Essen hier geschwärmt, von den wundervollen Gesprächen mit allen Insassen und wie oft ich über den geistreichen Humor der anderen Häftlinge lachen muss. ›Trude‹, habe ich geschrieben, ›ich habe eintausend neue Freunde fürs Leben gefunden.‹«

Ein bitteres Lächeln legt sich auf Oskars Gesicht.

»Meine Frau hat einen fabelhaften Sinn für Humor, es wird sie amüsieren – und hoffentlich ein wenig trösten. Allerdings, was Ihre Person betrifft, habe ich keinesfalls übertrieben. Und ich würde Sie, wenn Sie es erlauben, gerne als Freund über diese Zeit hinaus ansehen. Ganz gleich, was heute, morgen oder danach mit uns beiden geschieht.«

Verlegen mustert der Hamburger den Boden, der ihm schmutziger vorkommt als an den meisten Tagen der letzten zwölf Monate.

»Vor einigen Wochen«, fährt Klaphake fort, »habe ich erfahren, dass Trude schwer erkrankt ist und Melbourne, wie es scheint, nicht mehr verlassen wird. Ich habe es Ihnen ja schon gesagt: Ich werde meine Frau nicht mehr wiedersehen. Nicht lebend und auch nicht tot.«

Oskar bemerkt, wie Klaphake nervös mit seinen Fingern auf die Armlehne tippt. Der Wissenschaftler hat Mühe, seine Sätze zu Ende zu bringen.

»Den australischen Behörden bin ich mit meinen Vorschlägen, Erfindungen und Maschinen längst suspekt geworden. Vor zwei Wochen hat man mir jeden weiteren Briefkontakt untersagt. Als kleine perfide Überraschung hat mich die Lagerleitung nur Tage später zum Assistenten des Blauen gemacht. Fortan darf ich also mit ihm anderer Leute Briefe im Lager verteilen. Und mein Klumpfuß … Aber darüber wollte ich gar nicht mit Ihnen sprechen.« Er wirft Oskar einen eiligen Blick zu. »Bitte, machen Sie nicht so ein Gesicht. Derlei Bestrafungen, all diese spitzfindigen, billigen Kindereien ziehen an mir vorbei wie Nebel. Mich bekommt diese Bande nicht klein. Die Australier nicht und die Unsrigen gleich gar nicht. Jetzt, wo ich weiß, dass Sie bald ein freier Mann sein werden. Womöglich widersetze ich mich dem Befehl einfach. Denn wissen Sie, junger Freund, wenn die Tage, die einem bleiben, in so deutlicher Unterzahl denen gegenüberstehen, die man bereits auf der Erde verbracht hat, lahmt der Gehorsam manchmal etwas.« Klaphake kichert, dann bleibt sein Mund kurz offen stehen, und Os kar sieht, wie ein Spuckefaden im Windzug seines Atems vibriert. »Schon bei unserer ersten Begegnung, oben bei den Embritz-Beeten, dachte ich mir, dass Sie vermutlich mehr können, als nur eine Pergola aus Schrott zu bauen. Es ist erstaunlich, wie schnell man sich ein Urteil über Menschen erlaubt, nicht wahr? Ich möchte gar nicht wissen, was Sie von mir gedacht haben in jenem Moment.«

»Nun, ich …«

Klaphake hebt seine Hand.

»Wir haben keine Zeit. Ich habe Ihnen das nie so deutlich gesagt, aber ich glaube Ihnen die Geschichte Ihrer Reise. Wieso sollten Sie so etwas erfinden und eine Blamage riskieren, wie Sie sie im Gemeinschaftshaus erlebt haben? Sie waren bescheiden genug, nie damit anzugeben, haben aber, zu meinem Bedauern, nach Ihrem Vortrag nur wenig von den interessanten Dingen erzählt, die hinter Ihnen liegen müssen. Sie werden Ihre Gründe dafür ha ben. Ich wünschte, wir hätten uns an einem anderen Ort und unter anderen Umständen kennengelernt, und ich könnte Ihren Ausfüh rungen über Ihre Abenteuer lauschen, während ich Trude bei einer Tasse Tee in Mah-Jongg schlage.«

Mit geübtem Griff befördert Klaphake den Bügel seiner Brille in den Mundwinkel. Er kaut darauf herum, dann zeigt er damit auf Oskar.

»Ich werde Sie wie besprochen unterstützen, das Werkzeug dra pieren, die Kiste schließen, alles kein Problem.« Eine Pause entsteht, mit zittriger Hand setzt er die Brille wieder auf. »Im Gegenzug würde ich Sie gerne um einen einzigen Gefallen bitten. I know, it’s keine Kleinigkeit, aber es ist das Einzige, was mir noch wichtig ist. Und es ist mir sehr wichtig. Extremely sogar.«

Der Wissenschaftler schiebt stumm einen länglichen Umschlag an den Rand seines Schreibtisches.

»Bringen Sie meiner Frau diesen Brief von mir. Bitte.«

Das Dokument liegt zwischen ihnen wie ein seltenes Insekt.

»Es ist mein letzter Wunsch. Ein letzter Kontakt mit Trude. Auch wenn er einseitig ist. Mehr erwarte ich nicht von diesem Leben.«

In Freiheit wachsen Menschen über sich hinaus, erinnert sich Oskar an Mark Twain , in Gefangenschaft werden sie klein und unbedeutend.

»Die Adresse habe ich außen vermerkt, eine Zeichnung, wo sich unser Haus befindet, gebe ich Ihnen mit. Ich weiß, es steht mir nicht zu. Aber ich würde mich freuen, wenn Ihr erster Weg in Freiheit zu ihr führt. Ich weiß nicht, wie lange sie noch hat.«

Stumm nimmt Oskar den Brief an sich. Als er die Adresse studiert, schließt er die Augen. Dann öffnet er sie wieder und lächelt Klaphake an.

»Versprochen.«

»Aber ich möchte Sie auf Ihrer Flucht auf keinen Fall in Gefahr bringen, in Melbourne wimmelt es zurzeit vermutlich von Polizisten und Soldaten …«

»Ihre Frau wird meine erste Anlaufstation sein. Sobald ich einigermaßen in Sicherheit bin.«

Vorsichtig steht Oskar auf.

»Eigentlich bin ich auch gekommen, um mich zu bedanken. Also bringe ich es besser schnell hinter mich: Vielen Dank, werter Klaphake, und alles Gute. Ich werde Ihnen von meiner Reise erzählen, bei einer Tasse Tee. Sie ahnen nicht, was alles passieren kann. Glauben wir beide daran. Es … Es war mir ein Vergnügen und eine Ehre.«

Oskar nimmt das Schreiben an sich, öffnet die Tür und tritt ins Freie. Sofort pfeift ihm heftiger Wind um die Nase.

»Speck!« Der Wissenschaftler eilt humpelnd und mit erhobenem Finger hinter ihm her, drückt ihm einen weiteren gefalteten Zettel in die Hand und schließt seine Finger darum.

»Was ist das?«

»Das sollten Sie nicht verlieren. Nachdem Sie Trude den Brief gebracht haben, gehen Sie zu der hier vermerkten Adresse. Es handelt sich um das Haus eines Freundes von mir, dem man vertrauen kann. Sein Name ist Ted Neasham. Er ist Australier und in der Lage, Sie außer Landes zu bringen. Sie erwähnten einst, Sie würden am liebsten nach Surabaya zurückkehren.«

»Momentan tendiere ich eher zu Sydney.«

»Neasham ist einer der Männer, die im Hafen von Melbourne die Strippen ziehen, es wird ihm keine große Mühe bereiten, Sie auf das richtige Schiff zu verfrachten, ganz egal, wohin Sie wollen. Auf der einen Seite steht seine Anschrift, auf der anderen habe ich ein paar Zeilen an ihn gerichtet. Womöglich kann er Ihnen sogar einen gefälschten Ausweis besorgen.«

»Wenn ich«, Oskar sieht sich um, senkt seine Stimme, »also, wenn ich es nicht schaffe, kriegen Sie mich morgen mit Messer und Gabel zum Frühstück. Wenn wir scheitern, übernehme ich die Verantwortung. Wenn es schiefgeht, ist dies meine Flucht, Sie sind zufällig im Schuppen, oder besser noch, Sie haben versucht, mich von einem Ausbruch abzuhalten. Haben Sie verstanden? Wiederholen Sie es. Wenn … Na los: Wenn…«

Klaphake lacht trocken in sich hinein, erst leise, dann lauter.

»Wenn. Mein lieber Herr Speck, das ist wirklich gut: Wenn!«

»Was meinen Sie?«

»Als Philipp der Zweite mit seinem Heer kurz vor Sparta stand, hat er, der Legende nach, folgende Botschaft in die Stadt gesandt: Wenn ich euch besiegt habe, werden eure Häuser brennen, eure Städte in Flammen stehen und eure Frauen zu Witwen werden.«

Oskar runzelt die Stirn.

»Und wissen Sie, was die Spartaner geantwortet haben?« Ein Lächeln erscheint auf Klaphakes Gesicht. » Wenn!«