RANDWICK

D er leise Knall eines Auspuffs.

Jetzt.

Als der Lärm des Motors laut genug ist, schiebt Oskar behutsam die auf ihm verteilten Gegenstände beiseite, befreit sich aus der Decke und hebt, Millimeter für Millimeter, den Deckel an, der ihm zunächst zentnerschwer vorkommt. Sein Arm vibriert im Takt der Straße. Mit zugekniffenen Augen späht er durch das gleißende Tageslicht in wirbelnden Staub, ins Nichts, in die Freiheit.

Vorsichtig lässt er sich auf die Ladefläche gleiten, vergewissert sich, dass in die Wand der Fahrerkabine kein Fenster eingelassen ist, bleibt wie ein toter Käfer auf seinem Rücken liegen und versinkt im Anblick des Himmels, den er noch nie als so schön empfunden hat. Die Adern an seinen Schläfen pulsieren, etwas schlägt an die Innenseiten seines Schädels, sein ganzer Körper klebt, wird fürsorglich von einem Fahrtwind gestreichelt, der sich, wenngleich dick und warm, anfühlt, als wäre er ein riesiger Fächer aus Federn. Am liebsten würde Oskar für immer hier liegen bleiben, das Firmament über sich entlangziehen lassen und nur dieses Blau an sehen, das dem des Meeres in seiner Unendlichkeit, seiner Unergründlichkeit so ähnlich ist.

Das Lagertor hatten sie vor etwa einer halben Stunde passiert. Niemand hatte ihre Kisten kontrolliert, und auch die Nägel konnte Oskar, wie geplant, mühelos nach außen drücken. Er war erleichtert, dass sein Plan aufging. In seiner Kiste schwitzend und keuchend, hatte er zudem inständig gehofft, dass es auch Frederick gelungen war, die Metallstifte zu entfernen, und er und Konstantin Stab genügend Luft bekamen. Der Gedanke an den vermutlich ebenfalls gekrümmt, aber tot in der Sickergrube liegenden Klaphake versetzt ihm einen Stich ins Herz.

Vorsichtig krabbelt Oskar zu Embritz’ Kiste, lugt hinein und sieht die Decke, auf ihr lose, rostige Schrauben, ein verbogenes Stemmeisen, zerbrochene Bretter und einiges mehr. Kein Frederick. Er blickt sich um – niemand, nichts außer der restlichen Ladung. Oskar ist verwirrt. Hatte sich der Berliner schon vor ihm befreit? War lautlos abgesprungen? Er dreht sich zu der dritten Kiste um.

Wenn ich Stab hierlasse, wird er ersticken. Doch je eher sie ihn lebendig finden, desto schneller führt er sie zu mir.

Er öffnet die Truhe des Gefesselten, der immer noch ohnmäch tig und gekrümmt unter der Decke und einer Armada an Müll liegt. Konstantys Haar ist verklebt wie das eines fiebrigen Pen nälers. Eines Pennälers, dessen Kopf mit Blut verkrustet ist. Den Blick auf das Führerhaus gerichtet, zieht Oskar Konstanty vorsichtig auf die Ladefläche. Langsam schiebt er den Bewusstlosen zum Ende des Wagens. Das Buschwerk am Straßenrand ist üppig und dicht, dahinter erstrecken sich Bäume. Er löst die Haken an beiden Seiten der Pritschenbordwand und lässt die Bracke vorsichtig nach unten gleiten. Dann zieht er Konstanty mit einer Hand an dessen Hüfte, hält mit der anderen Hand seine Tasche fest und stößt sich mit den Füßen an einem ausrangierten Amboss ab, sodass ihre Köpfe über die Brüstung des Lasters hängen. Sand, Kiesel und Schotter fliegen knapp einen Meter unter ihren Gesichtern vorbei. Es ist immer noch windig, und Oskar ist froh, dass der Staub des Weges vom langsam abklingenden Sturm und dem Laster ordentlich aufgewirbelt wird.

Ein Ruck und es ist geschafft. Lass dich einfach fallen.

Plötzlich packt eine Hand Oskars Fuß. Er dreht sich um und blickt in das grinsende Gesicht von Frederick Embritz. Der Berliner ruckelt auf Knien neben ihn und Konstanty und legt eine Hand an Oskars Ohr.

»Wollteste wohl stiften gehn, ohne mir Adieu zu sagen, wa?«

»Wo warst du?«

»Hab mich aus meiner Kiste geschlichen und unter der Plane da versteckt. Da hab sogar ick drunter gepasst. Bisschen mulmig war mir aber schon, wär fast an einem deiner Nägel hängen geblieben, den ick nich richtig lösen konnte.«

»Los, spring«, befiehlt ihm Oskar.

»Nix da, du zuerst, Meister. Watt machste mit dem?«

Er deutet mit dem Kinn auf Konstanty.

»Den nehm ich mit. Von der Straße aus muss er dann alleine zurechtkommen.«

»Na, du bist mir ’n Kunde. Also jut. Ick kieke jetzt vorsichtig, ob auf der Gegenfahrbahn ein Auto zu sehen ist, dann geb ick dir ’n Zeichen, und hopp.«

Oskar hebt seinen Daumen.

»Danke, gute Idee. Viel Glück, Frederick.«

»Eens noch.«

»Was?«

»Randwick Pferderennbahn. Kennste die?«

»Frederick!«

»Lass uns da treffen. Dit is in Sydney.« Ratternd wird er seine Idee los. »Ick kenn da Leute. Ick hab mir dit gerade in meiner Kiste überlegt. In vier, fünf Wochen, verstehste? Immer Samstag versuchen wir uns da zu finden. Wenn einer nich da is, kommt er am nächsten Samstag wieder.« Frederick kämpft gegen den Lärm der Schotterstraße an. »Randwick Pferderennbahn, watt sachste?«

»Mensch, Frederick!«

»Da red ick mir ’n Zahn locker und du kiekst bloß dämlich aus der Wäsche.«

»Ja, Randwick, meinetwegen. Schluss jetzt.«

»Ick seh dir wieder!«

Nicken.

Embritz packt ihn an der Schulter.

»Was denn jetzt noch?«, faucht Oskar.

Über dem Krach und dem Rütteln des fahrenden Wagens sieht Embritz ihn ernst an.

»Mach keen Zimt. Die Welt braucht dir noch.«

Dann schleicht er geduckt über die Ladefläche und späht für den Bruchteil einer Sekunde über die Fahrerkabine. Als er sich umdreht und mit einer Handbewegung die Freigabe signalisiert, schiebt sich Oskar mit Konstanty und seiner Tasche noch ein Stück weiter vor, holt tief Luft und lässt sich dann rollend, den Bewusstlosen und sein Gepäck haltend, vom Laster fallen.

Alles dreht sich. Oskar spürt einen brennenden Schmerz in seiner linken Hand und im selben Moment einen von spitzen Kieseln gewürzten Schlag gegen sein Auge, gefolgt von aufflammenden Feuern an Knöchel, Schulter und Becken und einem lauten, wider lichen Knacken.

Der Aufprall ist um einiges heftiger, als er gehofft hatte.

Schwer atmend, braucht Oskar einen Moment, bis er sich wieder bewegen kann. Füße, Arme, sein Becken, sein Kopf – alles tut entsetzlich weh. Seine Verwundungen so gut es geht ignorie rend, rappelt er sich auf, kneift das beschädigte Auge zu und zieht eilig, hustend und humpelnd, seine Tasche und Konstanty hinter sich her.

Noch ist genug Staub in der Luft, um darin zu verschwinden.

Er erreicht ein Gebüsch am Straßenrand, lehnt vollkommen erschöpft den Bewusstlosen an einen Baum und bleibt dann selbst daneben liegen.

Einmal noch hievt er seinen stechenden Brustkorb hoch und versucht, dem Laster und Frederick hinterherzusehen, doch außer einem leiser werdenden Motorengeräusch ist nichts auszumachen.

Einäugig wendet sich Oskar Konstanty zu, zuckt zusammen und muss unweigerlich eine Hand auf seine Lippen legen. Zum ersten Mal begutachtet er im grellen Licht des Tages das Ergebnis der beiden Katastrophen, die in der letzten Stunde über den kleinen, goldenen General von Tatura hereingebrochen sind. Während der blonde Jüngling in der ummauerten Wüste stets so aussah, als warte er auf seinen Chauffeur, hat Oskar Mühe, in seiner jetzigen Gestalt überhaupt einen Menschen zu erkennen. In Konstantys zerrissenem und verschmutzten Hemd stecken von dem Aufprall seltsam verformte, gefesselte Arme. Die Knochen in seinen Beinen eine eigene Landschaft. Doch es ist vor allem sein Gesicht, das Oskar den Magen umdreht. Kaum mehr als ein verschmierter, braun roter Brei, durch den diagonal ein blutiger Schnitt verläuft. Der Stofffetzen über seinem Mund ist verschwunden und mit ihm, so schätzt Oskar, als er vorsichtig die Oberlippe des Malträtierten anhebt, mindestens sechs oder sieben Zähne.

Angeekelt legt Oskar ein Ohr auf Konstantys Brust, hält eine Hand dicht vor seinen zerklüfteten Mund.

Er tastet die Kleidung des Bewusstlosen ab und findet in einer Hosentasche dessen silbernes Zigarettenetui, verbeult und mit eini gen Kratzern. Auf der Vorderseite zieren zwei Blitze den Deckel, in die Rückseite sind in das blanke Metall die Initialen KvS eingeprägt. Zitternd hält er die glatte Seite des Etuis an Konstantys Lippen, verharrt, bis sich ein winziger, matter Nebel auf dem Metall ausbreitet.

Bevor Oskar aufbricht, wickelt er die Fesseln von Konstantys Händen ab, stopft sie in seine Tasche und prüft sicherheitshalber noch einmal den Puls des wie leblos Daliegenden. Dann zieht er ihn noch etwas weiter von der Straße weg in die Nähe eines Feldweges, wo er ihn gegen einen Zaun lehnt. Oskar reißt beide Ärmel eines seiner mitgebrachten Hemden ab, knotet sie zusammen und bindet sich den Lappen zu einem schiefen Turban um seinen Kopf, diagonal über das verletzte Auge, die aufgeschürfte Haut des Jochbeins. Er wirft einen letzten einäugigen Blick auf den ehemaligen Mithäftling und stutzt. Ein paar Meter weiter an einem Pfahl lehnt ein Fahrrad. Er betastet es, prüft die Reifen, kurbelt an den Pedalen, dann steigt er auf, klemmt seine Tasche unter den Arm und fährt, sich nach rechts und links umblickend, unter Stöhnen los, ohne zu wissen, in welche Richtung.

Er ist schon eine Weile unterwegs – immer wieder musste er auch das gesunde Auge schließen, um etwas Erholung zu verspüren, und glitt dann schlingernd und blind auf Feldwegen und an Bö schungen entlang –, als Oskar eine Lichtung erreicht, auf der eine Gruppe Blaugummibäume wie aus der Zeit gefallene Straßenlaternen stehen. Hinter einer Reihe Silbereichen erkennt er ein senfbraunes Feld, an dessen Ende unüberschaubares, dichtes Gestrüpp beginnt. Er sieht auf seine Armbanduhr, zielt mit dem Stundenzeiger auf die Sonne und bestimmt die südliche Richtung, die er in der Mitte zwischen dem Zeiger und der Zwölf-Uhr-Markierung ausmacht. Irgendwo dort muss Melbourne und circa einhundertzehn Grad linker Hand Sydney liegen. Eine Grasnarbe, die in ein Waldstück mündet, scheint den Weg dorthin zu weisen.

Er reibt sich die Stirn.

Trude Klaphake oder Gili. Jetzt musst du dich entscheiden. Gili hat wieder geheiratet, sie hat dich längst vergessen. Und es war Klaphakes letzter Wunsch.

Er beginnt, Hautfetzen von seiner Lippe zu ziehen.

Oskar schiebt das Rad zögernd Richtung Gras, Richtung Wald und Sydney. Nach einigen Metern hält er an, dreht um und steigt auf den Drahtesel, tritt fluchend in die Pedale, fährt und fährt, bis es dunkel ist und er schließlich das Fahrrad und sich selbst ins Gras fallen lässt. Und zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlt Oskar Speck eine tiefe, alles verschlingende Einsamkeit, die er im gleichen unendlichen Maße verabscheut, wie er sie vermisst hat.