SPRACHFEHLER

H allo?«

Wehmut überkommt Oskar, als er, mit zwei Einkaufstüten bepackt, die Tür aufschließt.

Wer soll dir schon antworten, Dummkopf? Benimmst dich wie einer, der zu seiner vielköpfigen Familie heimkehrt. Wirst schon langsam weich in der Birne.

Er lässt den Schlüsselbund klirrend auf den Beistelltisch fallen, streichelt den an ihm emporspringenden, dünenbraunen anatolischen Hirtenhund und stellt die Papiertüten neben die Garderobe.

»Na, Salt«, widmet er sich dem Kangal, »ist Minnie schon gegangen?«

In der Küche holt er sich ein Bier, stützt sich auf die Spüle und sieht aus dem Fenster. Über Putty Beach kreisen eine Handvoll Möwen. Sie schweben in der Luft, als würden sie dort schlafen. Sein Blick wandert von Broken Bay über das Meer bis zum Gipfel des gegenüberliegenden Bergvorsprungs, hinter dem Maitland Bombora und die dazugehörige Bucht liegen. Weiter draußen wippen die Masten von zwei Segelbooten wie Metronome im Wasser. Es ist vollkommen still.

Oskar nimmt einen Schluck aus der Flasche und löffelt Salt etwas Futter in den Napf. Dann schaut er kurz in alle Räume und gibt einen leisen Pfiff von sich.

»Hat Miss Minnie wieder ganze Arbeit geleistet, was?«

Wieso beschäftige ich eine Putzfrau, wenn nichts dreckig ist?

Langsam öffnet er die Schiebetür zu einer der Terrassen und bleibt in ihrem Rahmen stehen. Er liebt die Ruhe hier auf seinem Hügel. Und er liebt den Rundumblick. Wenn er auf einer der Terrassen steht, kann er hinter dem Haus den Beginn eines Kontinents sehen und vor ihm den Ozean, der kein Ende kennt und, wenngleich auch unbeteiligt, so doch jeden Tag mit ihm zu sprechen scheint. Es gibt ihm ein sonderbar warmes Gefühl der Geborgenheit, dieses Leben in gebührender Entfernung zu der Handvoll Menschen, die sich etwas weiter weg am Fuße und Saum seines Berges angesiedelt haben. Er mag die Einsamkeit von Hardy’s Bay und Killcare, die Ausläufer von Box Head auf der einen und den Nationalpark und Putty Beach auf der anderen Seite.

Salt läuft wedelnd um ihn herum und stößt kleine, heisere Bekundungen der Zuneigung aus. Oskar streichelt seinen Hund, stöhnt zur eigenen Entspannung laut auf und reibt sich mit einer Handfläche den Hals.

Zeit, den Tag und die Witterung mit etwas Wasser abzuspülen.

»Nachher setzen wir uns auf die Terrasse, verabschieden die Sonne, und ich werfe ein Paar Bälle, o.k.?«

Salt springt an ihm hoch, versteht.

»Heute Abend kommen die Japaner, da müssen wir einen guten Eindruck machen, Salt. Wenn wir Glück haben, verkaufen wir ihnen gleich mehrere Steine.«

Und dann, erst dann, gönne ich mir zum Ausklang zwei John Collins.

Auf dem Weg zum Bad schnappt sich Oskar ein Handtuch von einem penibel zusammengefalteten Stapel, als ein lauter, schriller Ton erklingt. Salt fängt an zu bellen.

»Schon gut, Salt. Ein Anruf. Ist nur das Telefon. Müssen wir uns noch dran gewöhnen. Wollen wir wetten? Zehn zu eins, dass sich jemand verwählt hat.« Als Oskar abnimmt, meldet sich am anderen Ende ein Mann, der sagt, er sei vom New South Wales Canoe Club. Nachdem er sich vergewissert hat, den richtigen Mann an der Strippe zu haben, erklärt der Anrufer, er wolle seine Zeit nicht unnötig beanspruchen und lediglich fragen, ob Oskar etwas dagegen habe, Ehrenmitglied des Clubs zu werden.

»Sind Sie sicher, dass Sie mich meinen?«, fragt Oskar und wirft das Handtuch über eine Schulter.

»Absolut, Sir. Es ist mir etwas peinlich, das zu sagen, aber wir sind nicht selber auf diese Idee gekommen. Selbstverständlich erscheint es uns inzwischen auch als das Natürlichste der Welt, Ihnen die Würdigung zuteilwerden zu lassen. Aber der Mann, der Sie vorgeschlagen hat, ist gar kein Mitglied hier im Club.«

»Verzeihung?«

»Ja, nun, es verhält sich so: Vor einigen Wochen hat uns ein Herr angerufen, der sagte, er sei auf der Suche nach Ihnen. Er habe bereits alle Kajak-Clubs der Ostküste abgeklappert in der Hoffnung, Sie zu finden. Sie müssen schon entschuldigen, aber ich war selbst am Apparat und etwas überfordert, habe ihn kaum verstanden. Zudem hatte ich Ihren Namen noch nie zuvor gehört. Auch sonst kannte Sie niemand im Club. Bis auf Carl. Carl Toovey.«

»Ich kenne Carl, wir unternehmen häufig Ausflüge zusammen.«

Oskar erinnert sich. Carl hatte ihn vor Monaten, an einem der seltenen Tage, die er in Gesellschaft verbrachte, gefragt, ob er nicht einem solchen Club beitreten wolle. Carl hatte gerade den Einhundert-Meilen-Marathon auf dem Hawkesbury River gewonnen und angenommen, Oskar bei seinem Ehrgeiz packen zu können. Doch der hatte nur knapp geantwortet, er sei für so etwas nicht der Richtige und auch nicht für gesellige Zusammenkünfte mit vielen Menschen.

»Carl sagte uns bereits, Sie würden sich in Vereinen nicht sonderlich zu Hause fühlen, und wir respektieren das. Aber für eine Ehrenmitgliedschaft müssen Sie nicht regelmäßig vor Ort sein. Tja, und sehen Sie, an dieser Stelle müssen Sie uns helfen, denn nachdem mir der Anrufer erzählt hat, welch erstaunliche Leistung Sie vollbracht haben, hat er mir etwas mitgeteilt … wie soll ich sagen … etwas Kryptisches, das keinen Sinn ergibt.«

Eine Pause entsteht, Oskar hört, wie sich der Mann am Kinn kratzt.

»Ich hoffe, ich habe das richtig verstanden, sein Englisch war, nun ja, es hörte sich an, als sei er entweder jemand, ich würde sagen, aus dem europäischen Raum oder ein Mann, der seinen Mund nicht gescheit auseinanderbekommt. Aber nicht schüchtern oder so, vielleicht ein Sprachfehler.«

Oskar merkt, wie sich sein Puls beschleunigt. Er hat sich nie die Mühe gemacht herauszufinden, was aus Konstantin Stab gewor den ist. Ob er je das Krankenhaus verlassen hat. Ob er wieder ein normales Leben führen konnte. Insgeheim hoffte er stets, sein kleiner Landsmann würde in einem Pflegeheim unterkommen und dort niemandem zur Last fallen. Doch was, wenn er gar keiner Pflege bedurfte?

»Das, was ich verstanden habe«, fährt der Mann am Telefon fort, »war, dass er, wie er sich ausdrückte, wohl noch eine Rechnung mit Ihnen offen habe.«

»Aha«, sagt Oskar tonlos. Er legt das Handtuch beiseite, greift sich Salt, tätschelt ihn.

»Nun, ich möchte mich da nicht einmischen, wirklich. Es mutete an wie ein Scherz, den ich nicht verstehe. Der Mann sagte, er warte jetzt seit über neun Jahren jeden zweiten Samstag an der Rennstrecke von Randwick auf Sie. Können Sie damit etwas anfangen?«

In der Leitung ist nichts außer einem Rauschen zu hören.

»Sind Sie noch dran?«

»Ja«, sagt Oskar leise und hört, wie heiser seine Stimme klingt.

»Jedenfalls sagte uns der Mann … Moment, ich habe mir hier aufgeschrieben, wie er heißt … warten Sie, er hieß …«

»Embritz, Frederick Embritz.«

»Genau! Mister Embritz sagte, wir müssten Sie zum Ehrenmitglied machen, sonst würde er ein paar unangenehme Typen aus Berlin vorbeischicken. Immerhin diesen Scherz habe ich verstanden. Glücklicherweise stand Carl in der Nähe, als Mister Embritz anrief, denn er tat dies offensichtlich von einem Münztelefon aus, und sein Geld ging zur Neige. Als ich erwähnte, dass eines unserer Mitglieder Oskar Speck kennen würde, johlte er laut in den Hörer und sagte, er würde übernächsten Samstag um zehn Uhr früh am verabredeten Ort sein und ob wir Ihnen das ausrichten könnten.«

Die Trabrennbahn in Randwick geizt nicht mit Prunk, als Oskar, nervös seinen Filzhut in den Händen knetend, vor ihrem Eingang steht. Fahnen knattern im Wind, Menschen drängen sich zwischen den schmiedeeisernen Toren, den Ställen und der hoch emporragenden Tribüne, und immer wieder ertönen blechern klingende Anweisungen und Kommentare zu den Rennen des Tages aus den Lautsprechern, die Oskar an Langenbach erinnern, den er, so fällt ihm jetzt auf, in Tatura nie gesehen, stets nur gehört hatte.

Der alte, zerbeulte Hut ist Oskar peinlich. Aber er möchte auf Nummer sicher gehen, für den Fall, dass Frederick ihn nicht erkennt, sich die letzten Jahre allzu nachdrücklich in sein Antlitz geschlichen haben und ihn tatsächlich zu dem mittelalten, unauffälligen Mann haben werden lassen, der ihn seit längerer Zeit jeden Morgen im Badezimmerspiegel so skeptisch ansieht.

Oskar beobachtet jede einzelne Person, die ihn passiert, und drei- oder viermal pro Minute schaut er auf seine Uhr. Er mustert die Männer, die in passendem Alter sind, und prüft Blicke, Haare und Gang. Plötzlich taucht ein heulender Junge mit einem Luftballon neben ihm auf, der seine Mutter sucht. Oskar beugt sich zu ihm herab, will gerade eine Frage stellen, als jemand den Kleinen von der anderen Seite am Arm packt.

»Der Onkel hat ’n Jesicht zum Eierabschrecken, wa?«

Beide Männer richten sich auf, während das Kind verstört von einem zum anderen blickt und seinen Luftballon dabei versehentlich loslässt.

Keiner der beiden Erwachsenen sagt etwas.

Schließlich geben sie sich, die Lippen fest, die Gesichter ernst und gefasst, die Hände. Dann packt Embritz Oskars Unterarm und der tut es ihm gleich. Sekunden später liegen sie sich in den Armen und wollen einander kaum mehr loslassen, klopfen sich steif auf die Rücken. Der Junge starrt die neben ihm Stehenden an, wie sich ihr Griff nicht lockert und die Augen feucht werden.

In wenigen Metern Entfernung erkennt Oskar hinter Embritz eine weitere Gestalt, die ihm bekannt vorkommt. Ein Mann, dessen Haut goldbraun schimmert und der für einen Augenblick so aussieht, als würde ihm die Rennstrecke gehören.

»Hans«, sagt Oskar und lässt dessen Bruder mit einem Klaps auf die Wange stehen. »Hans Embritz, verdammt.«

Frederick Embritz’ Flucht war besser ausgegangen als seine eigene. In einem Gartenlokal vor den Toren der Rennbahn berichtet der Berliner davon, wie er am dritten Sonntag des März 1941 tatsächlich an genau jener Stelle stand, an der sie sich kaum zehn Minuten zuvor getroffen hatten.

»Damals hatt ick noch Haare aufm Kopp«, sagt Frederick und schielt verlegen in Richtung seines glänzenden, kahlen Schädels.

Ruhiger, als Oskar ihn in Erinnerung hat, erzählt er von weiteren Samstagen in Randwick, verregneten Rennen, denen er keine Beachtung schenkte, sondern lediglich seine Blicke durch die Zuschauerreihen schweifen ließ, während alle anderen Augenpaare auf die trappelnden Pferde gerichtet waren. Es schüttelt ihn kurz, als er auflacht und berichtet, er habe sich in einem Kostümladen drei verschiedene Bärte besorgt, um sich zu tarnen, habe damit aber eher genau das Gegenteil erreicht.

Zu jener Zeit sei er untergetaucht und habe nach zwei Jahren den Rat eines befreundeten Australiers befolgt und einen Antrag auf Haftverschonung gestellt, dem man tatsächlich nachkam. Wenig später ließ man auch Hans aus dem Internierungslager frei, da Frederick für beide eine Anstellung als Hausmeister einer Schule ergattert hatte.

»Nachm Krieg ham wa uns langsam hochgearbeitet. Wir waren zu erschöpft, um nach Deutschland zurückzukehren. Außerdem …«

Er blickt seinen Bruder immer noch genauso verlegen an wie damals.

»Man schrieb uns, Hanses Frau und meene Freundin hätten sich inzwischen andere Typen besorgt.« Er nimmt einen Schluck von seinem Bier. »Ick bin jetzt an der University of Western Australia in Perth inna Verwaltung, und Hans arbeitet als Lehrer.«

»Hast du dich verletzt, als du von dem Laster …?«

»’ne Trümmerfraktur. Nüscht Schlimmes, aber ernst genug, dass ick nur langsam vorangekommen bin. Später hat mir dit geholfen. Die dachten bestimmt, die Pfeife kann eh nüscht mehr ausrichten.«

Hans zieht die Tischdecke gerade.

»Haste von den anderen noch mal watt gehört? Von Ellwanger oder dem ollen Schönborn?«

Oskar schüttelt den Kopf.

Die Embritz-Brüder berichten ihm von einigen lustigen und weniger lustigen Possen ihres Werdegangs.

»Wie lange bleibt ihr in Sydney?«, fragt Oskar und streicht über den Hut in seinem Schoß. »Ich habe oben in Killcare auf einem Hügel ein Haus gebaut, nichts Pompöses, aber es reicht, um angenehm zu leben. Wenn ihr Zeit habt, kommt vorbei. Ich habe genug Platz, ihr könnt dort übernachten. Auch länger.« Metallisch dringt die Stimme des Ansagers von Randwick zu ihnen durch, der die Ergebnisse eines Rennens verkündet, und Oskar fragt sich, ob er zu aufdringlich war.

»Dit würden wa gern, Oskar, aber wir fliegen heute Abend zurück und werden nächsten Monat das Land verlassen. Wir ziehen wieder nach Deutschland.«

»Ach …«

Altbekannte Gefühle von Schmerz, Einsamkeit und Schuld durchströmen Oskar, und er bemüht sich, ihnen mit seiner Mimik kein Ventil zu bieten.

»Natürlich«, ergänzt Hans nachdenklich, »haben wir Australien viel zu verdanken. Aber Berlin bleibt Berlin, wa?«

»Unsere Schwester schreibt, es soll sich viel getan haben in der Stadt. Es gibt Arbeit. Aufbau. Und irgendwie haben wa doch langsam Heimweh. Mal wieder übern Ku’damm laufen, wa? Egal, wie kaputt der inzwischen is.« Dann legt sich ein milder Ausdruck auf Fredericks Gesicht, als er nach Oskars Hand greift. »Aber dich wollten wa unbedingt noch ma wiedersehen, Marco Polo.«

»Unbedingt«, wiederholt Hans.

Keiner sagt, was alle wissen. Es wird das letzte Mal sein.

»Wenn wa uns beeilen«, sagt Frederick und beobachtet, wie ein Rennpferd wenige Meter entfernt in einen Anhänger verfrach tet wird, »kriegen wa in Berlin noch ’n anständiges Leben mit Familie und Ruhestand hin. Du kennst doch dit alte Volkslied«, sein Blick fliegt zu Oskar: » Schön is die Jugend, nu kommt nüscht mehr