PUSTEBLUME

S ie biegen um eine Straßenecke, und als er wieder Gas gibt, verfinstert sich Oskars Miene; bedächtig klopft er mit einem gebogenen Finger auf das Hartplastik der Anzeige.

»Mist.«

Carl blickt seinen Freund mitleidig an.

»Was ist los?«

»Der Tank. Das Benzin ist fast alle.«

Der Fahrtwind spielt mit Carls Haaren, sie fliegen in sein Blickfeld, bedecken seine braun gebrannte Stirn sowie die Augen, die jetzt vorsichtig Oskar begutachten.

»Wird schon reichen«, murmelt der und wird dann lauter, damit Carl ihn hören kann. »Sieh mich nicht so an. Ist nicht das erste Mal, es wird, wie immer, genau hinkommen.«

Carl Toovey beginnt zu pfeifen, als sie die Blackwall Road und die neuen, in der Sonne leuchtenden Ladengeschäfte passieren. Kieselsteine prasseln an die Unterseite des Wagens. Nach einer Weile dreht sich Oskars Beifahrer zu ihm um.

»Hab gehört, dass sich in Ettalong neuerdings die Strandschönheiten aus Sydney versammeln. Ist ein echter Geheimtipp.«

»Der Geheimtipp ist die Brandung. Das ist das, was uns interessiert.«

Carl sieht aus dem offenen Fenster, seine Stimme klingt betont gelassen.

»Da hast du recht. Mit so einem zauseligen Bart wirst du den Damen ohnehin nicht auffallen. Zumindest nicht in der Art, dass sie uns ansprechen werden.«

Oskar fährt sich mit der Hand über sein unrasiertes Gesicht und fühlt mit einem Finger nach der altbekannten kahlen Stelle an seiner Wange. Dann greift er hinter sich auf die Rückbank, fischt eine Schirmmütze und eine Sonnenbrille hervor und setzt beides auf.

»Die sollen sich um ihren Kram kümmern.«

»Natürlich«, sagt Carl, der sich festhalten muss, als Oskar den Wagen zu schnell in die Memorial Avenue lenkt. Und dann, dem Fahrtwind zugewandt: »Wer braucht schon Frauen?«

Die langen Schatten einer Reihe Winterlinden fließen über das Auto, Sonnenlicht flackert zwischen ihnen auf.

»Können wir von etwas anderem reden?«

»Ja, klar«, sagt Carl in einem Tonfall, der wenig überzeugend klingt, und kaum zehn Sekunden später: »Was ist mit deiner Haus hälterin?«

»Was soll mit ihr sein?«

»Sie sieht nett aus, wie heißt sie noch gleich, Malory oder Millie?«

»Minnie. Ja, sehr nett. Zuverlässig, hübsch auch.«

»Aber?«

»Aber was?«

»Willst du mal mit ihr ausgehen?«

»Mit ihr ausgehen? Ich finde kaum etwas, über das ich mit ihr reden kann und das nicht mit Haushalt oder Reinigungsmitteln zu tun hat. Außerdem: Ich glaube, sie hat einen Freund. Jim oder John. Jack? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es auch ihr Bruder. Außerdem ist sie sehr vergesslich und lässt immer ihre Handtasche bei mir liegen. Gestern schon wieder. Ich lebe quasi mit ihrer Handtasche zusammen.«

»Oh, schlimme Sache.« Carl rollt übertrieben mit den Augen. »Mit so einer würde ich auch nichts anfangen. Hast du schon mal überlegt, ob sie das absichtlich macht?«

Oskar zuckt mit den Achseln.

»Ernsthaft: Vielleicht solltest du einfach deine Auswahlkriterien überdenken. Sei nicht so wählerisch. Du willst keine über vierzig, gut, schon gar keine deutsche Frau in dem Alter, die sind zu …« Carl sucht nach dem Wort.

»Trutschig.«

»Zu trutschig. Meinetwegen. Und die Australierinnen um die dreißig oder drunter waren dir nicht …«

»Die sind nur auf mein Geld aus.«

»Du hast gar kein Geld. Zumindest kein wesentliches, soweit ich weiß.«

»Trotzdem.«

»Du benimmst dich wie ein achtzigjähriger Griesgram.«

»Das ist nur knapp vierzig Jahre an der Wahrheit vorbei.«

»Du wirst doch irgendwann mal in deinem Leben jemanden getroffen haben, in den du verliebt warst. Selbst für jemanden wie dich gibt es Frauen. Es muss doch …«

»Können wir jetzt bitte von etwas anderem sprechen?«

Der Motor gibt ein lautes Surren von sich.

»Ich dachte, das ist ein BMW

»Das ist der erste BMW , der in Australien verkauft wurde«, gibt Oskar trotzig zurück und will, dass man ihm seinen Stolz anhört.

»War das Geräusch im Preis inbegriffen? Wieso gibst du eigentlich immer alles Geld aus, das du in die Finger bekommst?«

»Damit man es mir nicht wegnehmen kann. Du klingst wie meine Mutter selig.«

Das Surren wird leiser. Eine Weile fahren sie schweigend weiter. Kurz bevor das Meer in ihr Blickfeld gerät, entschließt sich Oskar, laut zu denken.

»Eine Pastorentochter könnte passen.«

»Eine Schaufensterpuppe könnte passen.«

Auf dem Parkplatz eines kleinen Krämerladens bringt Oskar den Wagen zum Stehen, dreht den Zündschlüssel um und lässt mit einem Stoßseufzer die Schultern sinken.

»Ich bin merkwürdig, oder?«

Er blickt starr auf das Geschäft vor ihnen.

»Ich möchte nur wissen, wo meine Courage abgeblieben ist. Natürlich hast du recht, Carl. Ich bin nicht reich und werde es nie sein. Ich war so lange darauf aus, reich zu werden, und als ich mir endlich ein kleines Vermögen erarbeitet hatte, habe ich es ausgegeben. Wohlstand macht feige und ängstlich, findest du nicht? Man riskiert nur dann etwas, wenn man nichts zu verlieren hat. Und was Frauen angeht … Der Teufel weiß, was mit mir los ist. Ich glaube, es soll nicht sein, sollte es noch nie.«

Als er Carl ansieht, bemerkt er dessen sorgenvolles Gesicht.

»Hey, du hast recht. Wer braucht schon Frauen, wenn er Ausflüge mit Carl Toovey machen kann? So, und jetzt holen wir uns Sandwiches und Wasser, o.k.?«

Sie laufen durch ein kurzes Waldstück auf flache Dünen zu, auf denen ein Holzbau mit mehreren kleinen Geschäften thront. Als sie am Ende des Waldpfades ankommen, stößt Carl in Anbetracht der Wellen von Ettalong und Umina Beach einen erstaunten Pfiff aus. Auf dem letzten Stück des schmalen Weges vor ihnen und über die gesamte, von Bäumen eingerahmte Bucht hinweg herrscht reger Betrieb. Zahlreiche Menschen haben sich auf die Strände zu beiden Seiten verteilt, lachen auf ihren Handtüchern, spielen Federball mit ihren Kindern oder stürzen sich in die weiße Gischt.

»Woah«, ruft Carl, »hier ist ja die Hölle los. Jetzt sieh dir das an. Meinst du, wir schaffen es über diese Wellen hinaus?«

»Das sind doch keine Wellen.«

Oskar lächelt wissend, und Carl ahnt, er hat einen Volltreffer gelandet. Womöglich kann er seinem älteren Freund beiläufig eine jener Geschichten entlocken, mit denen er sonst so geizt.

»Heute sind sie etwas ruppiger«, sagt Oskar. »Aber du hast keine Wellen gesehen, wenn du nicht …«

Der Beginn der folgenden Anekdote geht in dem Lärm zweier Jugendlicher unter, die die Männer johlend überholen. Im selben Moment taucht vor ihnen ein Gatter aus Maschendraht auf, das den Wald vom Strand abgrenzt. Die Jugendlichen sprinten hindurch und lassen es scheppernd hinter sich zufallen. Direkt nach ihnen schiebt sich ein Kind mit beiden Armen voller Plastikspielzeug vor Oskar und Carl durch das Gatter. Von der anderen Seite stapft eine müde wirkende Frau mit einer Strandtasche und gesenktem Kopf auf das Tor zu, gefolgt von einem alten Ehepaar, das sich missgelaunt angiftet.

»Das hättest du ihm doch genauso sagen können«, blafft der Mann seine Frau an und bekräftigt seinen Vorwurf mit einer fordernden Geste.

Oskar schenkt ihm keine Beachtung, ist in der Episode seiner Reise gefangen. Durch den Wind und den Streit des Ehepaars kann Carl nicht alles verstehen, was er sagt. Es hört sich an, als würde Oskar ihm gerade in seinem britisch gefärbten Englisch etwas erklären wollen.

»… when you get hit …« Der Rest des Satzes geht im Gezanke der Alten unter.

Sowohl Carl als auch das Ehepaar und die Frau bleiben für eine Sekunde irritiert stehen. Kurzes Zögern, niemand weiß, wer den Vortritt hat, bis die Frau einen Entschluss fasst und erst Oskar und Carl und dann dem Paar das Tor aufhält. Die Ruderer bedanken sich, die Eheleute scheinen die Geste nicht einmal bemerkt zu haben und gehen, sich gegenseitig Vorhaltungen machend, weiter.

Der kleine Junge hat inzwischen den Saum des Strands erreicht, lässt sein Plastikensemble fallen und dreht sich nach seinen Eltern um, die ihm winkend und deutlich langsamer gefolgt sind.

Carl und Oskar marschieren stoisch auf eine weniger belebte Stelle zu, die sie in der Nähe des Ettalong Creek ausgemacht haben. Der Jüngere von beiden ist sichtlich beeindruckt von dem, was Oskar ihm berichtet. Der springt wahllos von Anekdote zu Anekdote, erzählt von einem alten Mann in einem Restaurant in Banyuwangi, von der Überfahrt nach Latakia mit dem Hirtenhund Fílippos und im nächsten Moment von seiner schwierigen Seepassage vor Neu-Guinea. Kurz vor dem Ufer lassen sie ihre Taschen fallen und beginnen unverzüglich mit dem Aufbau ihrer Boote.

Die Frau mit der Strandtasche ist mittlerweile auf dem nahe gelegenen, aus einem einzelnen Steig bestehenden Bahnhof ange kommen. »Woy-Woy« steht in dunkelroten Lettern auf einem Holzschild. Erst gestern hatte ihr ein Kellner erzählt, dass dies in der Sprache der Ureinwohner so viel heiße wie »jede Menge Wasser«. Sie muss trocken schlucken. Bei der Suche nach einem Geschäft versucht sie, sich so weit wie möglich von den zeternden Greisen zu entfernen, die ihr gefolgt sind und immer noch die Umstehenden mit ihren Tiraden unterhalten, als sie das Rattern von Rädern auf Gleisen hört.

Ich bin doch wirklich eine blöde Kuh! Ich hätte etwas zu trinken kaufen sollen. Wie soll ich es bis in die Stadt hinein und zum Hotel ohne einen einzigen Tropfen Wasser aushalten?

Der kleine Junge am Strand klopft sich wie Tarzan auf die Brust und rennt um sein am Boden liegendes Spielzeug herum, als wäre es eine wertvolle Beute, die er gerade erlegt hat. Seine Eltern schürzen belustigt die Lippen und breiten ihre Handtücher aus.

Carl versucht, während des Aufbaus der Faltboote keine Pause entstehen zu lassen, Oskar nicht abzulenken, um den seltenen Redefluss seines Freundes ja nicht zu stören. Die Geschichten, die er heute hört, kennt er noch nicht und findet sie ebenso interessant und unglaublich wie jene, die ihm Oskar in einem anderen unbeschwerten Moment letztes Jahr zu Weihnachten offenbart hat.

Im Abteil ist es stickig. Kurz nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hat, haben sich die Alten beruhigt und schweigen. Sie blicken beleidigt blinzelnd in unterschiedliche Richtungen.

Die Frau sitzt einen Wagen weiter, ihre Hand greift nach dem Fensterhebel. Sie kippt das schmale, obere Fenster nach innen und steht auf, um den Fahrtwind einzuatmen. Sie muss an die Begegnung vor wenigen Minuten denken und fragt sich, von wem der Mann am Gatter wohl geschlagen worden war, was passierte, »when you get hit«.

Wie viel man im Leben nie erfährt. Wie oft Momente an einem vorbeifliegen wie die Samen einer Pusteblume. Der Mann sah ein wenig verwahrlost aus.

Der Junge beschwert sich bei seinen Eltern. Er wolle ins Wasser, lässt er sie patzig wissen. Dieser Wunsch dulde, so wird den Erwachsenen mit jeder Silbe deutlich gemacht, keinerlei Aufschub.

Oskar runzelt die Stirn, scheint den Faden verloren zu haben, und Carl beeilt sich, ihn an die letzten Worte des vorangegangenen Satzes zu erinnern, sie ihm auf die Nadel seiner Erinnerung zu schieben, auf dass er seine Geschichte zu Ende stricken kann.

Dann wird der Frau schlecht. Ihr Blick fliegt hektisch durch das Abteil, bis sie ihn entdeckt: Einen kleinen roten Griff, mit dem man den Zug anhalten kann. Sie stürzt auf ihn zu, über die Beine eines Mannes mit aufgeschlagener Zeitung hinweg, greift danach, und schon hört sie das Schrillen der auf den Gleisen quietschenden Räder. Viel früher und abrupter, als sie es erwartet hat, steht der Wagen still, und sie schleudert gegen die Scharniere der Verbindungstür zum nächsten Abteil.

»Komm schon«, ruft der wild planschende Junge seinem zögerlich ins Meer steigenden Vater zu. »Huu-huu, komm her, ich bin ein Wal, ein Mörderwal, Killerwal, rrrr.«

Carl fummelt an einer Spante herum, die sich nicht wie gewohnt einfügen lässt. Oskar baut stoisch weiter an seinem eigenen Boot. Wo war er stehen geblieben?

Für einen Moment ist sie weggetreten, kommt nur langsam wieder zu sich. Um sie herum schreien die Menschen, sie sieht Hosenbeine, Schuhe, alles fließt ineinander. Sie liegt auf dem Boden, ihr Kopf dröhnt. Sie versucht sich zu orientieren und kriecht Richtung Tür. Ein Mann steht dort, überfordert mit der Situation und dem Bild der sich unter seinen Beinen hindurchschiebenden Frau mit der blutenden Stirn. Er will ihr helfen, drückt gegen die Tür, um sie zu öffnen. Ihr ungebremster Freiheitsdrang lässt beide hinaus in ein Bett aus Kies und Unkraut fallen. Der Mann bleibt verwirrt liegen, doch sie rappelt sich auf und beginnt mit den eckigen Schritten eines frisch geborenen Fohlens entgegen der Fahrtrichtung zurück zum Bahnsteig zu laufen, den sie in einigen Hundert Metern Entfernung zu erkennen glaubt.

»Ma’am«, hört sie eine Stimme hinter sich rufen. »Ma’am, warten Sie.«

Der Kerl am Gatter hat nicht von einem Überfall gesprochen. Ja, der Wind war laut. Das streitende Ehepaar war laut. Aber er hat nicht »when you get hit« gesagt. Es klang anders. Weicher. Er sagte »Wayang Kulit«. Er hat von unserer Puppe gesprochen.

Ungelenk taumelt sie weiter.

Doch der Stoß an die Wand des Abteils hat Gili Baum einiges an Kraft gekostet.