E s ist ein anstrengender Marsch, genau wie es der Polizist gesagt hat. Sie ist keine zweihundert Meter gelaufen, vom Fährhafen aus vorbei am Old Killcare Store, die Schotterstraße hinauf, die erst leicht und kurz darauf schroff ansteigt. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie bleibt stehen und betrachtet den Zettel in ihrer Hand. Die Skizze des Beamten verschwindet für einen Moment hinter Wolken, einer diffusen Ansammlung kleiner Punkte und Schleier vor ihren Augen. Der Wind vom Meer lässt die Banksien und Teebäume am Straßenrand leise winken, doch für Gili tanzen sie, hüpfen von einer Stelle zur nächsten.
Ich werde es nicht schaffen.
Auf der anderen Straßenseite kommt ihr ein älterer Mann entgegen. Sie hustet. Der Alte sieht zu ihr herüber und fasst sich an die Brusttasche seines Cordjacketts. Kaum hat er seine Brille aufgesetzt, leuchten seine Augen auf. Im selben Moment rattert ein schwarzer Ford Pick-up nur wenige Zentimeter an Gili vorbei und kommt ins Schlingern. Der Fahrer hupt, als wolle er seinem Ärger eine Nachricht hinterherschicken, während über seinem Wagen ein Schwarm Vögel unter Kreischen aus einem Baum aufsteigt.
»He, Misses.«
Der Wind und die Vögel nehmen seine Worte mit.
»Miss.«
Langsam hebt sie den Kopf, sieht benommen, wie der alte Mann zu ihr herübereilt.
»Sind Sie in Ordnung? Sie müssen achtgeben. Die Halbstarken nutzen die Straße hier als Rennstrecke. Wohnt kaum jemand hier, wissen Sie?«
Er kneift die Augen zusammen.
»Ist das ein Marcelle Lély? Dann kommen Sie bestimmt aus der Stadt. So was trägt hier niemand. Meine Frau wollte früher immer so einen schicken Deckel haben, aber …« Er starrt Gili an, dann deutet er mit einem Nicken auf die dunkelrot verklebte Stelle an ihrer Schläfe. »Geht es Ihnen gut?«
Ohne ihn anzusehen, nimmt sie den Hut ab und streicht sich durch ihre windwüsten Haare.
»Sagen Sie …« Sie sammelt Kraft, um den Satz zu Ende zu bringen, und deutet mit der Huthand auf den Zettel des Polizisten. »Können Sie mir zeigen, wo das Haus von Oskar Speck ist?«
Der Mann blickt missmutig auf das Stück Papier. Für einen Moment sind nur die in der Entfernung rauschenden Wellen zu hören.
»Was wollen Sie denn von dem Nazi?« Seine Miene ist ver steinert. Dann erhellen sich seine Züge, er klopft mit der Rückseite seiner Hand auf die Notiz.
»War ein Scherz, Ma’am. Speck ist in Ordnung. Ein echtes Unikum. Ziemlicher Eigenbrötler. Kennen Sie ihn von früher? Kann äußerst charmant sein, wenn er sich doch mal mit Menschen unterhalten muss. Trudy ist ganz verzweifelt deswegen, sie … Verzeihung, Trudy ist eine meiner Töchter. Hab insgesamt drei. Katy und Tyler haben schon Kinder, die zur Schule gehen, aber Trudy … Jedenfalls: Sie hat alles bei Speck probiert, ohne Erfolg. Und neulich erzählt uns der Hund doch, er sei verheiratet. Einfach so, wie aus dem Nichts. Es gäbe eine Miss Speck in Sydney, wo er arbeitet. Sie würde nur selten den Weg hier heraus schaffen. Na, Sie können sich vorstellen, wie Trudy reagiert hat. Sie …« Er bemerkt, wie sich die Frau ihm gegenüber langsam abwendet. »Oh, entschuldigen Sie, ich komme ins Plaudern, passiert manchmal. Cheryl, meine Frau, wirft mir das seit Jahren vor. ›Sam Robbins‹, sagt sie – wenn sie streng mit mir ist, muss es immer der volle Name sein –, ›Sam Robbins, du sprichst mit einem Fremden an der Kasse in unserem Laden mehr als mit mir in einem ganzen Monat.‹ Nach den Gründen fragt sie nie. Aber …« Er muss sich linkisch nach vorne beugen, um ihr Gesicht zu sehen. Dann deutet er mit dem Daumen den Berg hinauf. »Es ist noch ein gutes Stück entfernt, ganz oben, kurz bevor Wards Hill und Scenic aufeinandertreffen. Etwas abseits der Straße. Zeigen Sie mal!«
Er nimmt Gilis Zettel, holt einen Kugelschreiber heraus, versucht der Skizze etwas hinzuzufügen und schüttelt dann fluchend den Stift.
»Verdammt, wenn Sie mich fragen, füllen die diese neumodischen Dinger immer nur bis zur Hälfte.«
Ein Buschhuhn zischt durch das Unterholz und verschwindet im engmaschigen Gestrüpp aus Ästen und Blättern. Gili erschrickt, und der Mann sieht für einen winzigen Augenblick ihre grün leuchtenden Augen, die unter normalen Umständen die Männer um den Verstand bringen müssen.
»Es ist Ihnen wichtig, was? Hören Sie, Speck ist manchmal tagelang nicht zu Hause. Kein Licht in den Zimmern. Wahrscheinlich bei seiner Frau in Sydney. Oder sonst wo. Wer weiß. Wie geht noch dieses Sprichwort? ›Jeder Mensch hat eine dunkle Seite, wie ein Mond …‹ Verdammt, wie war das noch gleich? Es war so schön formuliert.«
»Twain«, flüstert sie.
»Bitte?«
»Das Zitat, es ist von Mark Twain.«
Der Mann kneift ein Auge zu, hat nur die Hälfte ihres genuschelten Satzes verstanden. Zweifelnd betrachtet er ihren gesenkten Kopf.
»Sie sollten das von einem Arzt ansehen lassen. Aber hier werden Sie keinen finden. Ach, Twain sagten Sie, richtig, von dem ist das. So, jetzt warten Sie mal, warten Sie.«
Der Alte drückt ihr den Stift und den Zettel in die Hand und entfernt sich die Straße hinab. »Bleiben Sie einfach hier stehen. Ich hole einen funktionierenden Kugelschreiber, etwas Wasser, Verbandszeug und einen Snack aus meinem Laden. Dann sehen wir weiter. Zur Not«, ruft er über seine Schulter hinweg, »übernachten Sie bei uns. Cheryl macht einen fantastischen Apfelkuchen. Und morgen bringe ich Sie nach Sydney, und wir suchen nach seinem Geschäft. Von Speck, meine ich. Specks Laden. Ich kann mich an die Adresse nicht erinnern, meine Vergesslichkeit. Noch so etwas, was mir meine Frau vorwirft. Aber wenn ich die Straße finde, finde ich auch sein Geschäft. War erst einmal da, aber … Also gut, ich bin gleich wieder bei Ihnen.«
Das Herz des Alten schlägt schneller mit jedem Schritt. Er stellt den Kragen des Jacketts in eine aufrechte Position. Es wird frisch. Nächste Woche soll es Regen geben. Die steil abfallende Straße macht ihm zu schaffen. Auf dem Geröll muss er vorsichtig gehen, um nicht zu fallen. Der Himmel, der sich vor ihm über Hardy’s Bay spannt, wird den eben noch heißen Tag schon bald in eine träge, dicke Brombeernacht verwandeln. Endlich etwas Wind, er tut ihm gut, belebt seine Lunge. Kurz bevor er seinen Laden erreicht, dreht er sich noch einmal um und sieht die menschenleere Straße hinauf.