Zweites Kapitel
Der Aufbruch
Ludmilla trat ganz nah an den Wasserfall heran, der vor Uris Höhle in die Tiefe rauschte, und spürte die eiskalten Spritzer auf ihrem Gesicht. Sie hatte sich entschieden. Sie würde mit Lando und dem Unsichtbaren auf eigene Faust nach Godal suchen und versuchen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Ungeduldig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten wäre sie sofort losgelaufen, bevor sie Zweifel bekäme.
»Wo treffen wir Eneas? Oder ist er etwa schon hier?« Ludmilla sah sich um, als Lando direkt vor dem Höhleneingang stehen blieb. Skeptisch starrte sie auf den Weg, der in den dunklen Teil von Eldrid, nach Fenris, führte. Dieser Unsichtbare war ihr nicht geheuer. Er hatte eine aufbrausende Art und etwas an sich, was ihr Unbehagen bereitete. Was es genau war, konnte sie selbst nicht sagen.
Lando grinste, aber auch er schien angespannt. »Er kommt noch«, zischte er.
»Wart ihr hier verabredet? Wie kommuniziert ihr eigentlich? Wie die Spiegelwächter?«, plapperte Ludmilla weiter.
Er schenkte ihr einen kurzen Seitenblick, der an ihren langen, dunkelroten Haaren hängen blieb, die im Schein des Wasserfalls glänzten. Ihre Turnschuhe, die ursprünglich weiß gewesen waren, hatten eine grau-braune Farbe angenommen, und ihre Jeans hing ausgebeult an ihren schlaksigen Beinen hinunter. Sie fing Landos Blick auf und strich sich verlegen über ihr nicht mehr ganz so weißes T-Shirt.
»Er sollte sich nur beeilen. Nicht, dass Ada aufwacht oder Uri zurückkommt. Dann haben wir unsere Chance verpasst«, drängelte sie weiter. Wie lange würde er auf Eneas warten wollen? Sie wollte nicht mehr warten. Sie hatte das Warten satt. In Eldrid ging alles so langsam zu. Zumindest mit Uri. Die Wesen hier handelten bedacht. Sehr bedacht, und das benötigte Zeit. Zuviel Zeit. Zeit, die sie nicht hatten, denn die Ereignisse überschlugen sich. Genau in diesem Moment demonstrierte Zamir seine Macht. Die riesige Schattenwolke wuchs stündlich, und die Berggeister würden sich mit ihm verbünden, wenn die Ratsmitglieder nicht schnell genug waren. Godal trieb sein Unwesen und hatte eine Oberhexe, Amira, getötet.
Ludmilla erschauderte bei dem Gedanken an die Zeremonie, der sie hatte beiwohnen müssen. Ein abgehackter Kopf. Hunderte von Hexen, die sich heulend und trauernd in Uris Höhle versammelt hatten. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis Zamir mächtig genug war, seine Verbannung zu durchbrechen? Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn er sich frei bewegte und nicht mehr auf die Späher und seine Informanten angewiesen wäre. Das durfte nicht passieren. Vorher musste sie den Schattenkönig, Godal, einfangen, an sich binden und zu ihrer Großmutter Mina nach Hause bringen. Als Wiedergutmachung für die Taten ihrer Großmutter war sie bereit, ein großes Opfer zu erbringen. Für Mina und für Eldrid. Für diese magische Welt, die sie komplett in ihren Bann gezogen hatte.
Sie würde die Gefahr, ihren eigenen Schatten zu verlieren, in Kauf nehmen. Das war es ihr wert. Ganz davon abgesehen, dass sie ihren Schatten eh nicht leiden konnte. Er war ihr nicht geheuer. Wie er dalag. Schwarz und blass, mit seinen glühenden Augen. Er führte eine Art Eigenleben. Es schüttelte sie. Dabei hatte Lando ihr gerade erst erklärt, dass sie sich mit ihm auseinandersetzten musste. Sie solle lernen, ihn zu kontrollieren. Dann würde er seine Mächte mit ihr teilen. Ludmilla atmete bei dem Gedanken tief durch und warf einen kurzen Blick auf ihren Schatten. Als er ihr den Kopf zuwandte und seine roten Augen aufblitzen, zuckte sie zusammen und schaute schnell zu Lando, der nervös vor ihr hin und her lief. Während sie ihn beobachtete, fiel ihr auf, dass er genauso aussah wie vor ein paar Tagen in Bodans Hütte, als sie sich kennengelernt hatten: Die braunen kurzgeschorenen Haare, die unterschiedlich farbigen Augen, der hagere drahtige Körper, der in den Leinensachen steckte, und die leichten Schuhe, die fast jedes Wesen in Eldrid trug.
Vielleicht sollte ich das nächste Mal andere Schuhe mit in diese Welt bringen? Das wäre doch mal eine Geschäftsidee, dachte Ludmilla grinsend, während sie die dünnen Ledermokassins betrachtete. Als sie Landos Blick auffing, erstarrte sie. Wie konnte sie sich mit solchen Belanglosigkeiten beschäftigen? Beschämt starrte sie auf ihre Turnschuhe und besann sich auf die eigentliche Situation, in der sie sich befand: Sie war im Begriff davonzulaufen. Mal wieder. Dieses Mal nicht vor Zuhause, das hatte sie bereits hinter sich, sondern vor Uri, der als sicherer Beschützer galt. Und das, um sich in Gefahr zu bringen. Um eine riskante Mission alleine zu erfüllen. Nur mit Lando und diesem Unsichtbaren an ihrer Seite.
»Können wir nicht schon einmal losgehen?« Sie wischte diese Gedanken fort und warf Lando einen ungeduldigen Blick zu. Ihre hellen blauen Augen blitzten dabei.
Doch in diesem Moment nahm sie eine Bewegung hinter sich wahr. Sie fuhr herum und sah gerade noch, wie Eneas seine sichtbare Gestalt annahm. Er überragte fast den Höhleneingang, neben dem er stand, so groß war er. Seine Statur glich der eines Riesen, nur dass sie schmal und flach war, wie ein in die Länge gezogenes Gummi. Der riesige Körper glitzerte in allen Farbfacetten und war doch fast durchsichtig. Ludmilla musste schon wieder an ein Surfbrett denken und biss sich auf die Lippen, damit sie nicht lachen musste.
Lando machte einen Satz in die Luft und lief mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu.
»Eneas, mein Lieber«, lachte er übermütig. »Lang, lang ist es her. Wie gut, dass du meine Nachricht erhalten hast.«
Die Farbe des Unsichtbaren wechselte in ein frisches Grün, er ließ sich auf ein Knie hinab und umarmte Lando herzlich. Ludmilla meinte sogar ein Lächeln auf den dünnen Lippen zu erkennen. Sie starrte die beiden Wesen fasziniert an. Lando klopfte Eneas auf die kaum sichtbaren Oberarme, wobei er sich streckte, um diese zu erreichen. Eneas versprühte durchsichtige, glitzernde Funken, während er Lando an den Schultern packte und ihn anlachte. Dann blickte er zu Ludmilla, und seine Farbe wurde dunkler. Er nickte ihr ernst zu, während er zu Lando sagte: »Ich nahm an, dass du länger brauchst, um sie zu überreden.«
Seine Stimme war sehr hoch und dünn. Zudem klang ein Echo mit. Ob das an dem fast durchsichtigen Körper lag?
Lando hob die Augenbrauen. »Mit Überreden hatte das nichts zu tun. Sie weiß selbst, dass sie es tun muss. Und auf die Spiegelwächter können wir nicht länger warten.«
Er lächelte sie wissend an.
Ludmilla holte tief Luft, doch sie kam nicht dazu, auch nur einen Ton hervorzubringen, denn in dieser Sekunde legte Lando den Finger auf die Lippen und duckte sich. Eneas verschwand augenblicklich. Bevor sie begriff, was geschah, packte Lando sie und zog sie in den Schatten des Höhleneingang. Er presste sie mit seinem Arm gegen die Wand und stellt sich schützend vor sie. Sie wagte kaum zu atmen. Vor dem Eingang der Höhle tobte der Wasserfall. Sie konnte nichts Ungewöhnliches wahrnehmen. Doch gerade, als sie sich aus Landos Umklammerung lösen wollte, warf er ihr einen eindringlichen Blick zu. Und da hörte sie es. Es war ein Geräusch wie von einem brausenden Wirbelsturm. Kleine starke Böen peitschten vor der Höhle hin und her. Kalte Luft wurde in den Höhleneingang gedrückt, so dass Ludmilla augenblicklich Gänsehaut bekam.
Es dauerte nur wenige Minuten, dann legte sich der Sturm, und alles schien wie vorher.
Vorsichtig löste Lando seinen Griff und packte sie an der Hand. Er zog sie wortlos mit sich und wählte den linken Weg, der vom Wasserfall und Uris Höhle wegführte. Der Weg, der in den dunklen Teil von Eldrid führte, nach Fenris. Lando zog sie hinter sich her, als wäre sie mit einem Seil an ihn gebunden.
Ludmilla stolperte mehrere Male, bis sie sich auf ihre Kraft besann. Sie konnte schnell laufen. Sehr, sehr schnell und sicherlich viel schneller als ein Formwandler. Sobald sie das begriffen hatte, überholte sie ihn mühelos und stellte sich vor ihn, was ihn dazu zwingen sollte, stehen zu bleiben. »Was war das?«
Er stoppte abrupt ab und sah sie zögerlich an. »Waldgeister«. Als sie ihn weiterhin fragend ansah, fuhr er fort: »Für lange Erklärungen haben wir keine Zeit. Die Geisterwelten sind aufgebracht. Erst die Berggeister, dann die Schneegeister und nun auch noch die Waldgeister. Wir müssen aus dem Wald raus. Egal, ob hell oder dunkel. Die Waldgeister sind hier zu Hause, und mit denen ist nicht zu spaßen. Wir sollten uns ihnen nicht entgegenstellen. Also«, er atmete lange aus und holte Luft, »du hast dich an deine Kraft erinnert. Das ist gut. Jetzt musst du sie nutzen. Ich verwandle mich in einen Jaguar, der ist schnell genug für dich, und ich bleibe mit dir auf dem Boden. Für mich ist es einfacher, mich in einer Tiergestalt in dieser Geschwindigkeit fortzubewegen. Deine Art des Laufens ist für mich zu ermüdend. Okay?«
Er blickte ihr prüfend in die Augen, während Ludmilla langsam nickte. Waldgeister? Davon hatte ihr bisher niemand erzählt. Bevor sie sich darüber weitere Gedanken machen konnte, verwandelte er sich vor ihren Augen in einen Jaguar. Es dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, dennoch wich sie zurück, als die Raubkatze sie anfauchte.
»Und wo ist Eneas?«, fragte sie, während sie sich in Bewegung setzte. Neben ihr knackte ein Ast, und für eine Sekunde erkannte sie ein funkelndes Auge. Sie lächelte unsicher und konzentrierte sich auf ihre Kraft.
Sie hätte gern noch gefragt, ob Lando den Weg kannte, aber dazu kam es nicht. Der Jaguar war unglaublich schnell, sodass sie sich auf ihre Füße konzentrieren musste, um Schritt halten zu können.