Fünftes Kapitel
Arndt Solas
Arndt Solas‘ Hände zitterten vor Aufregung, während er Mina wissbegierig anstarrte.
»Ist dir noch einmal etwas aus Eldrid zu Ohren gekommen?«, flüsterte er kaum hörbar.
Mina sah ihn mit einem Blick an, der durch ihn hindurchging. »Ich hatte dich ebenfalls gebeten, zu gehen, Arndt! Muss ich deutlicher werden?« Ihre Stimme war leise, aber scharf und bestimmt.
Arndt rührte sich nicht. »Ich war immer dein Vertrauter, Mina. Die Solas‘ und die Scathans haben in allen Zeiten zusammengehalten. So wie Uri und Bodan engste Freunde sind. Unsere Spiegelwächter sind eng miteinander verbunden, genauso wie wir. Nur weil wir die Spiegel nicht mehr nutzen, heißt das nicht, dass wir nicht mehr füreinander da sind. Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Vielleicht kann ich helfen?«
Er hatte die Hand ausgestreckt und sah Mina verschwörerisch an. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie drehte sich schnell weg, holte ein Taschentuch aus ihrer Rocktasche und wischte sich über das Gesicht.
»Es ist aussichtslos, Arndt«, würgte sie heiser hervor. »Mir ist nicht zu helfen.«
Sie schluckte hart und nahm einen Lappen in die Hand. Gedankenverloren wischte sie über die Arbeitsfläche der Küche, ohne ihn anzusehen.
Er blieb sitzen, beobachtete sie und wartete. Lange rührte er sich nicht, bis er schließlich wagte nachzuhaken: »Was ist aussichtslos, Mina?«, fragte er leise.
Mina sah ihn nicht an. Sie zögerte. Es war etwas anderes, als mit Pixi darüber zu reden. Sie war eine Fee und war in Gedanken mehr in Eldrid als bei ihr. Sie musste mit jemandem reden. Vielleicht hatte Arndt eine Idee. Er hatte recht, sie waren immer Vertraute gewesen. Und sie kannte Edmund Taranee. Er konnte andere unter Druck setzen, auf seine ganz eigene Art, und damit kam Arndt, der ein liebenswürdiger, gutmütiger Mensch war, nicht klar. Die Szene, von der er ihr erzählt hatte, spielte sich vor ihrem inneren Auge ab. Sie seufzte tief und schluckte den restlichen Ärger hinunter, der noch in ihr brodelte.
»Ludmilla ist nach Eldrid gereist«, begann sie mit krächzender Stimme.
Arndt wandte sich ihr ruckartig zu und starrte sie ungläubig an. »Ist nicht wahr«, entfuhr es ihm.
Mina nickte matt. »Doch. Sie ist Uris Ruf gefolgt. Er hat sich über meinen Willen hinweggesetzt«, fuhr sie zögernd fort. »Ich weiß nicht, wann sie wiederkommt. Sie ist auf einer Mission. Uri erzählte mir, dass das Licht von Eldrid in Gefahr sei, Zamir habe an Macht gewonnen, und sie hätten es nicht unter Kontrolle.«
»Was?« brach es aus ihm heraus. »Was heißt das? Was passiert in Eldrid? Wie kann Zamir an Macht gewinnen? Und warum ist das Licht in Gefahr?«
Sie hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Ich habe mich mit Uri gestritten, ihm verboten, Ludmilla zu rufen. Ich habe ihm keine Gelegenheit gegeben, mir alles zu erklären.« Sie seufzte. »Und Ludmilla habe ich verboten, dem Ruf zu folgen, als ich bemerkte, dass sie die Funktion des Spiegels entdeckt hatte. Ich habe ihr mit Rauswurf gedroht, aber sie ist dennoch gegangen. Heute Nacht. Seitdem macht mir ihr Spiegelbild das Leben zur Hölle. Als krönender Abschluss der Katastrophe war vor ein paar Stunden ihre Mutter Alexa zu Besuch, und ihr Spiegelbild hat sich so unmöglich benommen …« Sie hielt inne und sah Arndt an. »Du weißt doch noch, wie sich Spiegelbilder verhalten, oder?«
Er nickte stumm und sah sie erwartungsvoll durch die dicken Brillengläser an. »Dieses Spiegelbild ist ganz besonders garstig, das kannst du mir glauben. Es hat ein solches Theater gemacht, dass Alexa so entsetzt war und jetzt erwägt, sie mir wegzunehmen.« Sie seufzte tief und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du weißt, was das bedeutet, Arndt?«
Sie sah ihn unverwandt an, während dicke Tränen ihr Gesicht hinunterrollten.
»Wenn das Spiegelbild das Haus verlässt, kann Ludmilla nicht durch den Spiegel zurückreisen, richtig?«, flüsterte er und starrte sie entsetzt an.
Mina nickte stumm.
»Dann sitzt sie in Eldrid fest«, stellte Arndt tonlos fest.
Sie reagierte nicht. Ihre Augen waren ausdruckslos auf ihn gerichtet.
»Und jetzt? Du musst das verhindern. Was willst du tun?«
Sie hob nur verzweifelt die Schultern. Die Tränen liefen weiter unkontrolliert die Wangen hinunter. »Ich weiß es nicht, Arndt. Ich habe keinen Plan. Ich hoffe auf die Zeit.«
Als er sie fragend anblickte, erklärte sie tonlos: »Die Zeit, Arndt. Erinnerst du dich nicht? 10 zu 1: Wenn zehn Minuten in Eldrid vergehen, vergeht bei uns nur eine Minute. Ich kann nur hoffen, dass die Zeit das Problem lösen wird und Ludmilla rechtzeitig zurück ist, bevor ihr Spiegelbild das Haus verlassen muss. Einen anderen Ausweg aus der Situation sehe ich nicht.«
Er wiegte den Kopf hin und her und überlegte. Auch er war seit vielen Jahrzehnten nicht mehr nach Eldrid gereist. Er hatte zwar seinen Schatten nicht verloren, jedoch hatte die Solas-Familie mit der Scathan-Familie gleichgezogen und den Spiegel nicht mehr benutzt. Sein Vater hatte damals die Entscheidung getroffen, aber auch Arndt war mit der Abmachung einverstanden gewesen. Er hatte Angst um seinen Schatten gehabt, und diese Angst hatte ihn dazu bewogen, ebenfalls nicht mehr nach Eldrid zu reisen. Mina war für ihn das lebende Beispiel, wie schwer es war, ohne Schatten in ihrer Welt zu leben. Ohne dass es jemandem auffiel.
Er erinnerte sich vage an die Erzählungen seines Vaters, wie sich sein Spiegelbild verhalten hatte, während er Eldrid bereist hatte. Doch wie ließ sich ein Spiegelbild besänftigen, das nur den einen Wunsch hatte, nämlich nach Eldrid zu reisen? Auch ihm fiel keine Lösung ein.
Bevor er ging, versprach er Mina, sich etwas einfallen zu lassen. Das Spiegelbild durfte das Haus nicht verlassen, und noch wichtiger: Alexa durfte Mina Ludmillas Spiegelbild nicht wegnehmen. Das stand fest. Mina warf ihm einen fast mitleidigen Blick zu, als sie ihn zur Tür begleitete.
»Arndt, bitte achte etwas mehr auf dich. Du bist in einer schlechten Verfassung«, sagte sie besorgt und musterte die leicht verwahrloste Erscheinung.
Er strich sich das verknitterte Hemd glatt und lächelte verlegen. »Du weißt doch, Mina, ich lebe jetzt schon so lange allein in diesem großen Haus.« Er hob die Schultern. »Ich kann mich nur um eines kümmern, um das Haus oder um mich selbst«, erklärte er.
Sie sah ihn prüfend an. »Nein, Arndt, das ist nicht wahr«, entgegnete sie trocken. »Und das weißt du besser als ich.«
Sie klopfte ihm auf die Schulter und öffnete die Haustür. Es war dunkel geworden. Das Licht der Laterne erleuchtete den Vorgarten des prächtigen Hauses, in dem Mina mit Ludmilla wohnte.
Arndt wandte sich ihr erneut zu, bevor er auf die Schwelle trat. Ehe er etwas sagen konnte, nickte sie aufmunternd: »Melde dich, wenn du eine Idee hast, versprochen?«
Er nickte und lächelte. Dann sah er ihr ernst in die Augen: »Und du meldest dich, wenn du wieder Besuch bekommst. Dann komme ich sofort vorbei.«
Mina entfuhr ein lautes Lachen. »Ja, Arndt. Du bist mein Retter in der Not.«
Als er sie geschockt ansah, verstummte sie. »Versprich es mir, Mina«, beharrte er. »Ich möchte nicht, dass du dich Edmund alleine aussetzt. Auch wenn ich weiß, dass du ihm besser die Stirn bieten kannst als ich.«
Sie hob die Augenbrauen: »Also gut, Arndt. Ich rufe dich an, wenn er es wagt, noch einmal hier aufzukreuzen.« Mit diesen Worten schob sie ihn sanft vor die Tür und schloss sie vor seiner Nase.