Zehntes Kapitel
Die Befreiung
Fassungslos starrte Uri in die Richtung, in der die Waldgeister verschwunden waren. Er atmete schwer. Der Körper schmerzte, und vor ihm breitete sich ein See aus goldener Flüssigkeit aus. Seine Magie lag dort zu seinen Füßen. Er selbst hatte sie ausgespuckt, so sehr hatten die Waldgeister ihm zugesetzt. Sie hatten ihm die letzten Kräfte genommen, die ihm nach dem Verlust von Bodans Schatten geblieben waren. Er schüttelte ohnmächtig den Kopf und richtete sich mühsam auf. Vorsichtig straffte er den Körper, strich die Kleidung glatt und wandte sich dem Zelt zu, in dem er auf seine Brüder warten wollte.
In diesem Moment traf ihn der Angriff mit voller Wucht. Uri flog, von einer unsichtbaren Kraft getroffen, rücklings im hohen Bogen durch die Luft. Er schrie auf vor Verwunderung und versuchte, den Aufprall zu verhindern. Jedoch konnte er keine seiner Kräfte aufrufen, so dass er krachend auf dem Boden der Waldlichtung landete. Goldene Funken sprühten in alle Richtungen wie ein kleines Feuerwerk. Uri stöhnte schmerzerfüllt auf. Seine Knochen schmerzten, und er begriff nicht, was geschehen war. Wer oder was war so mächtig, ihn ungehindert durch die Luft zu schleudern? Und warum hatte er es nicht verhindern können? Noch bevor er den Gedanken zu Ende führen konnte, drang Zamir in seinen Kopf ein. Er durchdrang ihn wie ein messerscharfer Pfeil und blieb in der Mitte stecken. Dort bohrte er sich in Uris Gedächtnis und sezierte es, wie mit einem Skalpell. Uri hatte nicht die Kraft, seine Erinnerungen gegen ihn abzuschotten. Und so drang sein Widersacher in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses ein und holte die Zauberformel hervor, deren es bedurfte, um den Bann zu lösen. Uri entfuhr ein stummer Schrei, während er schmerzerfüllt die Hände auf den Kopf presste. Er begrub den Kopf im Schoss, versuchte, ihn mit den Armen zu umfassen, als wollte er verhindern, dass die Worte ihn verließen. Aber er hatte keine Chance. Er war zu schwach. Er konnte nur sehenden Auges zulassen, dass Zamir sich befreite. Und Zamir triumphierte. Das alles dauerte nicht mehr als eine Minute. Dann wurde es mit einem Schlag still in Uris Kopf. Und auch um ihn herum wurde es still.
Mühsam richtete er sich auf und stützte sich auf die Unterarme. Verwirrt blickte er umher. Die Umgebung war verschwommen. Als ob er einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. Seine Brille war in das Gras neben ihn geflogen und glitzerte in der Sonne. Uri griff nach ihr und setzte sie auf. Obwohl er nun eigentlich wieder hätte klar sehen müssen, war immer noch alles verschwommen. So hatte er sich noch nie gefühlt. Unruhig richtete er sich weiter auf und versuchte sich zu sortieren. Er fühlte nichts, und sein Kopf war seltsam leer. Keiner kommunizierte mit ihm. Kein Geschöpf in Eldrid fühlte in diesem Moment etwas. Oder konnte er sie einfach nicht spüren?
Zittrig blickte er sich nach allen Seiten um. Langsam kam sein Sehvermögen zurück. Er konzentrierte sich auf seine Mächte, aber da war nichts. Er spürte keine seiner magischen Kräfte. Er fühlte sich leer an. Fassungslos starrte er auf die Hände und hob sie in die Luft. Sie glühten, wie immer. Kleine Funken stoben von den Fingerkuppen. Zumindest dieser Teil seines Körpers war unverändert. Noch während sich Uri misstrauisch umschaute, schoss ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf. Mit klopfendem Herzen warf er einen kurzen prüfenden Blick auf den Boden neben ihm. Er hielt den Atem an. Da lag er. Ruhig und bestimmt, mit feurig goldenen Augen, und blitzte ihn an. Sein Schatten. Uri entfuhr ein erleichtertes Schnauben. Er hatte seinen Schatten nicht verloren. Aber was war mit seiner Magie geschehen? Er fühlte sich taub. Taub und machtlos. Und dann schlich sich ganz langsam die Gewissheit in sein Bewusstsein. Zamir hatte sich nicht nur befreit, er hatte damit auch erreicht, dass seine Kräfte gelähmt waren. Es würde Tage dauern, wenn nicht Wochen, bis sie ihm wieder gehorchen würden.
Uri spürte, wie die Hitze in ihm hochstieg. Sein Herz fing wie wild an zu pochen. Als sein Gesicht anfing zu glühen, erhob sich aus dem hinteren Teil seines Kopfes ein lautes schrilles Gelächter. Es brach über ihn herein wie eine Flutwelle. Es ergriff jede Faser seines Körpers. Der höhnische Jubel des ihm so verhassten Spiegelwächters. Zamir war frei. Er war frei, und er lachte. Lachte, dass es ganz Eldrid hörte. Dass sich alle Wesen von nun an fürchten müssten, da von jetzt an nicht nur Godal Jagd auf ihre Schatten machen würde.
Nachdem der ohrenbetäubende Schall von Zamirs Triumph durch den letzten Bruchteil seines Körpers gefahren war und ganz Eldrid bis in die letzte Ecke erreicht hatte, wurde es wieder still. Still in Uris Kopf und still auf der Lichtung. Uri atmete schwer. Er war auf die Knie gesunken, die Nasenspitze nur Zentimeter vom Boden entfernt. Er zitterte vor Anstrengung und Verzweiflung. Wie hatte das nur geschehen können? Aber er kannte die Antwort: In den letzten Tagen hatte ihn viele Ereignisse geschwächt. Zu sehr geschwächt. Er hatte Ludmilla eine Macht verliehen. Zamir hatte diese Gelegenheit ausgenutzt und seinen ersten Angriff gestartet. Von diesen beiden Ereignissen hatte er sich nicht vollständig erholen können, bevor Bodan seinen Schatten verloren hatte. Das war der nächste Schlag gewesen. Und dann hatte er sich mit den Waldgeistern auseinandergesetzt. Das hatte ihm den Rest gegeben. Und er hatte den schlimmsten Fall nicht verhindern können. Die Waldgeister vertrauten nicht mehr auf die Kraft der Spiegelwächter und wollten sich den Berggeistern entgegenstellen. Aber nicht nur, dass er gegenüber den Waldgeistern versagt hatte, nun hatte sich Zamir auch noch befreien können. Eldrid zahlte einen bitteren Preis für Uris Entscheidungen und für seine Schwäche: Zamir war frei. Frei und ungehindert, sein Unwesen zu treiben und Eldrid weiter in Dunkelheit zu stürzen.