Fünfzehntes Kapitel
Ein Versuch der Aufklärung
Arndt Solas zuckte zusammen, als sein Handy klingelte. Er saß zusammengesunken in seinem großen Ohrensessel im Hauseingang und dachte nach. Zögerlich zog er das Handy aus der Tasche.
»Ja, hallo, Arndt Solas hier«, krächzte er heiser.
Gleichzeitig musste er husten, so dass sich Mina das Telefon vom Ohr weghielt und das Gesicht verzog. »Arndt, du bist alt, aber nicht so alt, dass du in den Hörer prusten musst«, schimpfte sie statt einer Begrüßung.
»Mina?«, fragte er ungläubig.
»Ja, und ich möchte, dass du dich unverzüglich wieder hierher begibst. Es ist wichtig. Wenn nicht sogar ein Notfall!«, antwortete sie streng.
»Aber, ich war doch gerade erst bei dir …«, erwiderte er, aber da hatte sie schon aufgelegt.
Er seufzte auf, ergriff den Gehstock und lief wackelnd zur Haustür. Gerade als er sie öffnen wollte, klingelte es. Er zuckte irritiert zusammen und konnte kaum reagieren, als das Klingeln ein zweites Mal ertönte.
»Ja, ja«, murmelte er enerviert. »Nicht so ungeduldig.« Arndt öffnete die Tür einen Spalt, als sie auch schon aufgestoßen wurde und Edmund Taranee an ihm vorbeistürmte.
»Eine Unverschämtheit! Was bildet sich diese Scathan überhaupt ein?«, polterte er los. Arndt blieb ratlos in der Tür stehen und sah hinter ihm her.
»Edmund«, rief er etwas hilflos. »Edmund, ich habe jetzt keine Zeit für dich. Ich muss nochmal weg. Ein …«, er zögerte, »Familiennotfall«, fügte er wenig überzeugend hinzu.
Aber Edmund lachte nur auf. »Was für ein Familiennotfall, Arndt?«, näselte er verächtlich und kam auf ihn zu. »Deine Familie lebt nicht hier. Alle ausgeflogen. Du bist der einzige verbleibende Solas hier in der Stadt. Deshalb lebst du auch alleine in diesem riesigen Haus.« Er machte eine ausladende Bewegung mit seinen Händen. »Dieses wunderschöne herrschaftliche Haus! Und du lässt es vollständig verkommen, du alter Narr!«
Arndt drehte sich zu ihm um und starrte ihn feindselig an. »Edmund Taranee«, schrie er mit trockener Stimme. »Das geht dich nichts an, und ich gehe jetzt. Ich habe keine Zeit für dich, und ich will sie mir auch nicht nehmen. Also habe bitte die Güte und verschwinde. Du kennst den Weg.«
Mit diesen Worten schmiss er die Haustür ins Schloss und hinkte schwerfällig zum Auto.
Erst als er bei Mina Scathan vor dem Haus parkte und ausstieg bemerkte er, dass ihm jemand gefolgt war. Genau hinter seinem Wagen hielt ein silberner Sportwagen. Am Steuer saß ein junger Mann, der telefonierte und zum Seitenfenster hinausschaute, als hätte er Arndt gar nicht bemerkt. Er hatte den Ellenbogen an das Fenster gelehnt und hielt sich die hellblonden Haare aus dem Gesicht. Aber Arndt war sich sicher: Dieses Auto war ihm gefolgt. Ein Taranee? Ein Spion von Edmund?
Kopfschüttelnd betrat er Minas Grundstück und stieg die steilen Stufen zum Haus empor. Schnaufend war er im Begriff die Klingel zu drücken, als die Haustür aufflog.
»Arndt, endlich«, empfing ihn Mina ungeduldig, während sie ihn unsanft ins Haus zog. Der junge Mann im Sportwagen beobachtete, wie die Tür krachend ins Schloss fiel.
In der Küche flog Pixi brummend umher. Arndt blieb wie versteinert stehen, als er sie sah.
»Ach, komm schon, Arndt.« Mina schob ihn in die Küche hinein und drückte ihn auf einen der Stühle. »Tu doch nicht so, als hättest du noch nie eine Fee gesehen«, blaffte sie ihn an, während Arndt sich kaum zu rühren wagte.
Irritiert starrte er Mina an. »Bitte entschuldige, Mina. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich einer Fee gegenübersaß, und vor allem ist mir in unserer Welt bisher keine begegnet«, murmelte er eingeschüchtert und schielte zu Pixi hinüber.
Pixi schwebte langsam vor sein Gesicht, und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Wir sind uns nur ein paar Mal begegnet, schätze ich, Arndt Solas. Und das ist sehr lange her, das stimmt. Ich bin Pixi, Uris Fee.«
Sie schlug stolz mit ihren großen schillernden Flügeln und reckte das Kinn in die Höhe.
Arndt nickte ehrfürchtig. »Aber ich erinnere mich selbstverständlich an dich, wunderschöne Pixi«, schmeichelte er und lächelte das kleine Wesen voller Bewunderung an.
Sie strich sich über die Flügel und drehte ein elegantes Looping und strahlte dabei. »Dankeschön«, flötete sie und klimperte heftig mit den Wimpern.
»Genug der Freundlichkeiten«, fuhr Mina nervös dazwischen. »Wir haben eine sehr wichtige Frage an dich, Arndt.« Sie erinnerte sich daran, dass Schmeicheleien und Komplimente, die von Menschen ausgesprochen wurden, auf Feen eine ganz besondere, betörende Wirkung hatten. Sie warf Pixi einen strengen Blick zu. Pixi atmete geräuschvoll und schwer aus, so dass die wenigen Haare von Arndts Kopf wehten.
»Schon gut, schon gut, Mina, ich habe verstanden«, meckerte sie wie ein genervter Teenager. Dann wandte sie sich Arndt zu, der sie fragend anblickte. »Arndt«, dröhnte sie. »Wie viele Spiegelfamilienmitglieder haben ihre Schatten in Eldrid verloren?« Sie konnte ihre Aufregung nicht mehr verbergen, und die Wirkung der Schmeichelei war verflogen.
Arndt starrte sie verständnislos an. »Was soll die Frage? Das spielt doch überhaupt keine Rolle«, stammelte er.
»Beantworte meine Frage«, kreischte Pixi hysterisch. »Es spielt sehr wohl eine Rolle, und zwar eine ungeheuer große. Ich will wissen, wem genau und wann die Schatten gestohlen wurden.« Herrisch stemmte sie ihre Hände in die Hüften und stellte sich breitbeinig vor ihn auf den Tisch.
Arndts Hände fingen an zu zittern. »Ich weiß nicht mehr so genau«, stotterte er.
»Dann konzentriere dich und erinnere dich«, befahl die kleine Fee herrisch.
Er verschränkte die Finger vor seinem Bauch, während er sich gedehnt räusperte und laut überlegte: »Nach Mina Scathan hat auch Edmund Taranee seinen Schatten verloren. Das war ein paar Monate, nachdem Mina ohne ihren Schatten aus Eldrid zurückgekehrt war. Gleichzeitig verloren Margot Dena und Hedda Ardis ihre Schatten. Sie waren mit Edmund Taranee nach Eldrid gereist, und alle drei kamen schattenlos zurück. Mit dem Verlust der Schatten überwarfen sich die Dena- und Ardis-Familien mit der Taranee-Familie. Ich weiß leider nicht warum, denn ich war daran nicht interessiert, und wir Solas‘ hatten nie engen Kontakt mit den Mitgliedern der Ardis- und Dena- Familie. Und Edmund teilte mir auch keine weiteren Details über den Verlust seines Schattens oder den der anderen mit.«
Arndt hielt kurz inne und überlegte. »Edmund war ungewöhnlich gefasst. Daran kann ich mich gut erinnern, weil es mich so erstaunte. Im Gegensatz zu Mina oder auch den Mitgliedern der Dena- und Ardis-Familien schien es ihn nicht zu stören.« Er kniff die Augen zusammen. »Das fand ich höchst merkwürdig, und es kam mir auch in irgendeiner Form verdächtig vor, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen.«
Pixi flatterte aufgeregt vor seinem Gesicht hin und her. »Und weiter«, drängte sie.
Arndt hob die Schultern. »Mit dem Verlust der Schatten beschlossen auch die Ardis- und Dena-Familien, ihre Spiegel nicht mehr zu nutzen und verschlossen sie. Unser Spiegel war schon seit dem Verlust von Minas Schatten und Adas Verschwinden nicht mehr zugänglich. Mein Vater hatte das Spiegelzimmer verschlossen.«
»Heißt das, dass insgesamt vier Schatten von vier Mitgliedern der Spiegelfamilien gestohlen wurden?«, donnerte Pixi los. Sie war außer sich, und ihr Kopf war zu der Größe eines riesigen roten Luftballons herangewachsen.
Arndt nickte eingeschüchtert.
»Und was ist mit der Solas-Familie?«, stocherte sie weiter. »Hat die Solas-Familie keinen Schatten verloren?«
Arndt blickte auf seine verschränkten Finger und biss sich auf die Lippen. »Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, erwiderte er leise. »Mein kleiner Bruder Desmond verschwand auch irgendwann zu dieser Zeit. Ziemlich bald, nachdem Ada nicht mehr aus Eldrid zurückkehrte. Er hat sie sehr geliebt.« Arndt warf Mina einen Seitenblick zu.
Sie seufzte schwer auf. »Das hast du mir nie erzählt, Arndt«, brach es aus ihr heraus. »Meinst du, er ist ihr gefolgt? Nach Eldrid?«
Arndt hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Er stritt sich mit unseren Eltern und packte seine Sachen. Das Spiegelzimmer war verschlossen. Ich kontrollierte es direkt nach dem Streit, weil ich die Befürchtung hatte, dass er nach Eldrid gehen würde. Aber Desmond hatte immer seine Mittel und Wege, durch verschlossene Türen zu gelangen. Ich kann es nicht ausschließen, dass er den Spiegel benutzt hat. Ich weiß nur, dass er in dieser Nacht das Haus verließ, mitsamt seinem Spiegelbild und seiner Habe.«
Mina starrte ihn entsetzt an.
Er erwiderte ihren Blick und nickte. »Du wolltest von Eldrid nichts mehr wissen. Erinnerst du dich? Alle Geschichten aus oder um Eldrid hast du sofort abgewiegelt. Ebenso alles, was mit Ada zu tun hatte. Du warst zu verletzt, dass sie dortgeblieben war. Also habe ich dir nicht erzählt, dass auch mein Bruder verschwand. Zumal ich mir bis heute nicht sicher bin, wo er ist. Er hat sich nie wieder bei mir gemeldet.«
Er schlug den Blick nieder und nestelte weiter an seinen Fingern herum.
Pixi flog wieder brummend durch die Küche. »Aber wenn Desmond seit so vielen Jahren in Eldrid leben würde, dann wüsste ich es. Und ich habe Ada nie mit einem anderen Menschen gesehen, immer nur mit diesem Formwandler.«
Sie zog ihre winzige Stirn in Falten und überlegte. »Nehmen wir einmal an, Desmond wäre Ada nach Eldrid gefolgt. Was wäre dann aus seinem Spiegelbild geworden? Hätte er es einschließen können? Hier, in eurer Welt?«
»Wie ich schon sagte, der Raum war abgeschlossen. Jahrelang«, antwortete Arndt hastig. »Wenn nicht Jahrzehnte. Mein Vater hat Edmund nicht an unseren Spiegel herangelassen und auch sonst niemanden. Er ist gar nicht auf die Idee gekommen, dass Desmond nach Eldrid gereist sein könnte, und ich habe diesen Verdacht nicht mit meinen Eltern geteilt. Ich wollte ihn nicht verraten oder in Schwierigkeiten bringen. Desmond hätte also sein Spiegelbild einsperren können und hätte dann genug Zeit gehabt, sich in Eldrid eine dauerhafte Möglichkeit einfallen zu lassen, ohne dass wir es bemerkt hätten.«
Pixi nickte eifrig und flog unentwegt vor Arndts Gesicht auf und ab.
»Oder er ist einfach abgehauen«, fuhr Arndt bitter fort. »Vielleicht ist er gar nicht in Eldrid. Unsere Familiengeschichte ist«, er schluckte und zögerte, »kompliziert.«
»So oder so«, kreischte Pixi aufgeregt. »Es gibt mindestens drei weitere Schatten der Spiegelfamilienmitglieder, die in Eldrid sind. Schatten, die Zamir vielleicht hat lebendig werden lassen, so wie Godal. Im schlimmsten Fall sind es sogar vier weitere Schatten. Das macht dann fünf Schatten. Fünf mächtige Schatten.«
Sie schlug sich die Hand auf den Mund, während ihr kleiner Kopf immer weiter rot anschwoll. Mina starrte sie entsetzt an.
Aber Arndt verstand nicht. »Was soll das heißen? Was für mächtige Schatten?«, hauchte er.
Aber Pixi ließ die Luft aus ihrem Kopf mit einem Funkenregen entweichen und flog aus dem Zimmer. »Für Erklärungen ist keine Zeit«, rief sie, während sie in den ersten Stock hinauf flatterte.
Mina sprang auf und lief hinter ihr her.
»Pixi«, rief sie immer wieder. »Pixi, du kannst mich jetzt nicht alleine lassen. Ich brauche dich hier. Hast du schon vergessen: Ludmillas Spiegelbild, Alexas Androhung. Pixi, bitte.« Ihr Rufen hallte durch das gesamte Haus, während sie die Stufen hinaufhastete.