Neunzehntes Kapitel
Adas Macht
Ada brachte Uri in seine Höhle, entfachte das Feuer und klopfte ihm den Strohballen zurecht. »Ob du willst oder nicht«, brummte sie widerwillig, »ich bleibe hier und helfe dir, wieder zu Kräften zu kommen«.
Uri lächelte schwach, während er sie beobachtete. »Die Frage ist doch eher, ob du das wirklich willst, Ada«, flüsterte er mehr zu sich selbst.
Sie hielt inne und blitzte ihn an. Dann fing sie an, Wasser aufzusetzen. Sie hatte sich dazu entschieden, nicht erneut mit ihm zu streiten.
Er sah ihr dabei zu, zögerte lange, bevor er schließlich ihren Arm ergriff und sie festhielt. »Ada, da ist etwas, was du wissen musst.«
Sie zuckte zusammen und fuhr herum. »Was soll das sein? Es ist alles schon schlimm genug: Ludmilla ist verschwunden, wahrscheinlich mit diesem sich selbstüberschätzenden Formwandler, Zamir hat deinen Bann gebrochen, und du bist so geschwächt, dass du noch nicht einmal mit den Wesen von Eldrid kommunizieren kannst. Schlimmer kann es kaum kommen.«
Aber dann sah sie Uris Gesichtsausdruck und erbleichte. »Uri«, fuhr sie ihn an. »Ich bekomme Angst, wenn du so ernst dreinschaust. Sag mir endlich, was es ist!«
Uri seufzte. »Setz dich, Ada. Es geht um Bodan.«
Ada unterdrückte einen Aufschrei und schlug sich die Hand auf den Mund. »Was ist es? Nun sag schon, Uri.«
»Er hat seinen Schatten verloren«, krächzte er. Die Stimme versagte ihm fast bei dieser Nachricht.
Ihr schossen die Tränen in die Augen, und sie sackte in sich zusammen. »Das darf nicht wahr sein«, murmelte sie immer wieder.
Uri beobachtete sie und fühlte erneut, wie sich der Schmerz in ihm ausbreitete. »Deshalb war ich geschwächt. Deshalb konnte Zamir mich angreifen und den Bann lösen. Wir sind alle miteinander verbunden, und verliert einer von uns seinen Schatten, schwächt uns das alle, die Gemeinschaft der Spiegelwächter.«
»Aber dann hätte es Zamir auch schwächen müssen«, brach es aus ihr heraus. »Wie konnte er so mächtig sein, sich deine Schwäche zunutze zu machen und deinen Bann zu brechen?«
»Wir haben Zamir bei seiner Verbannung aus unserer Gemeinschaft entlassen. Wir haben ihm seinen Spiegel genommen, und ich habe versucht, ihm die Fähigkeit, die Emotionen der anderen Wesen von Eldrid zu spüren, zu nehmen. Es ist mir nicht gänzlich gelungen. Aber er ist nicht mehr mit uns verbunden. Nur selten kann ich seine Gefühle spüren oder kann er in meinen Kopf eindringen. Wir haben uns gegenseitig voneinander abgeschottet.«
Ada saß in sich zusammengesunken da und weinte stumm.
Uri schloss die Augen und versuchte, sich auszuruhen, doch in seinem Kopf rauschte es. Erst dachte er, es sei die Erschöpfung. Doch dann wurde das Rauschen immer lauter und ging über in ein Brummen und Vibrieren. Und dann spürte er die Wut. Zamirs Wut. Und sie kam näher. Er kam, um ihn zu sehen.
Uri richtete sich mühsam auf. »Ada«, krächzte er. »Ada, du musst gehen, sofort!«
»Ich gehe nirgendwohin«, erwiderte sie mit tränenerstickter Stimme.
Er setzte sich auf und nickte heftig. »Doch, Ada, du musst. Er kommt. Er ist auf dem Weg hierher, und er darf dich hier nicht sehen!« Seine Stimme wirkte nun fester und entschieden.
Aber Ada schenkte ihm keine Beachtung. Sie hatte noch nicht einmal gezuckt, als sie hörte, dass Zamir auf dem Weg war. »Es wird Zeit, dass wir uns wiedersehen«, sagte sie schließlich und richtete sich auf. Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Er wird nicht hierher kommen und dich noch mehr schwächen«, erklärte sie sachlich, »oder dir auch noch deinen Schatten nehmen. Das werde ich nicht zulassen.«
Sie strich ihr schlichtes Leinenkleid zurecht und warf ihren langen geflochtenen Zopf in den Nacken. Ihre grauen Augen blitzten, und in diesem Moment sah sie ihrer Schwester Mina sehr ähnlich. »Ich bin bereit.«
Uri schüttelte heftig den Kopf, doch in diesem Augenblick fegte eine Windböe durch die Höhle und ließ das Feuer aufflackern.
Blitzschnell baute sich Ada vor Uri auf. So schnelle Bewegungen hatte er ihr gar nicht mehr zugetraut. Sie straffte ihren gesamten Körper, während sie ihrem Widersacher gegenübertrat.
Zamir stutzte für eine Sekunde, als er Ada sah. Er raste vor Wut, machte eine unwirsche Handbewegung und wollte sie zur Seite schieben. Aber Ada blieb stehen.
Ungläubig funkelte er sie an. Das konnte nur ein Zufall gewesen sein, aber er wollte nicht unhöflich erscheinen. Schließlich war sie eine alte Frau. Er setzte sein martialisches Lächeln auf.
»Nun gut, Ada. Lang nicht gesehen, meine Liebe«, säuselte er beherrscht.
Sie nickte und lächelte ruhig.
»Ich habe keine Zeit für Wiedersehensfeiern, sei so gut und mach den Weg frei, ich muss mit meinem Bruder Uri sprechen«, knurrte er, als sie sich nicht rührte und er auch mit dem Einsatz seiner Magie nicht an ihr vorbei kam.
Ada schüttelte den Kopf. »Du hast genug Schaden angerichtet, Zamir!« Sie spuckte ihm diese Worte regelrecht vor die Füße. »Uri ist für dich nicht zu sprechen!«
Hinter ihr vernahm sie ein ungläubiges Aufatmen.
»Ada, bitte!« Uri war schwerfällig aufgestanden und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. »Das ist eine Sache zwischen Zamir und mir!«
Aber sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, meine Herren, aber das werde ich nicht zulassen.«
Uri hatte keinerlei Kraft, Ada wegzuschieben, aber auch Zamir gelang es nicht. Wie angewurzelt stand sie zwischen den beiden Spiegelwächtern und streckte den Rücken durch, während sie Zamir fest in die Augen sah. »Hör nicht auf ihn, mein Lieber. Wie du weißt, ist er zurzeit etwas geschwächt und kann deshalb keine Entscheidungen treffen.«
Zamir entfuhr ein ungläubiges Lachen. »Und deshalb triffst du diese nun für ihn?«
Sie nickte lächelnd.
»Wer gibt dir das Recht, dich in diese Angelegenheit einzumischen?«, polterte Zamir los.
Aber Ada antwortete nicht. Sie stand zwischen den beiden Spiegelwächtern wie eine Mauer und verhinderte dadurch, dass sie sich in die Augen schauen konnten. Uri fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, vor dem schützend seine Mutter stand. Das machte ihn wütend. Er fühlte sich gedemütigt, war aber nicht in der Lage, dieses Gefühl in Macht zu verwandeln.
Zamir zögerte noch einen Augenblick, dann griff er an. Er schleuderte einen Feuerball auf Ada, der zu seiner Verwunderung an ihr abprallte. Stattdessen erhob sich hinter ihr ihr Schatten. Seine Augen glühten, und er wuchs zur doppelten Größe an. Zamir stolperte rückwärts vor Schreck.
»Wie hast du das gemacht?«, keuchte er. Aber er fing sich in der nächsten Sekunde und startete einen weiteren Angriff. Er beschwor einen Wind herauf, der Ada umblasen sollte, aber auch das misslang. Ada bewegte sich nicht von der Stelle, und Uri kauerte hinter ihr und betrachtete mit Abscheu und Bewunderung zugleich das Schauspiel.
»Erinnerst du dich?«, dröhnte nun Ada. Die Augen ihres Schattens leuchteten und sprühten flammende Funken. »Erinnerst du dich an all die Mächte, die ich für dich stehlen sollte?«
Zamir trat einen Schritt zurück und erbleichte. Ada folgte ihm. Ihr übergroßer Schatten war direkt hinter ihr.
»Erinnerst du dich?«, wiederholte sie, und ihre Stimme hallte in der Höhle wie ein Echo wider. »An unser Spiel?« Sie lachte kurz spöttisch auf. »Ich habe diese Mächte noch! Du konntest mir meinen Schatten nicht nehmen. Erinnerst du dich?«
Zamir entfuhr ein ungläubiges Zischen. Damit hatte er nicht gerechnet. »Selbstverständlich erinnere ich mich. Die Zeit hier in Eldrid verfliegt zwar schneller, aber die Erinnerung verblasst genauso langsam wie in eurer Welt.« Er lachte kurz unbeherrscht auf, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Mir war nur nicht klar, dass du deine Mächte auch einsetzt«, säuselte er mit unterdrückter Anspannung. »Hattest du nicht geschworen, im Austausch für ein lebenslanges Bleiberecht in Eldrid deine Mächte nie einzusetzen. Wieder ein Mensch, der dich enttäuscht, nicht wahr, Uri?«
Adas Augen verengten sich. Ihr Schatten hockte weiterhin bedrohlich auf ihren Schultern. »Ich setze sie für etwas Gutes ein, mein Lieber«, entgegnete sie ebenfalls beherrscht. »Und wenn ich dafür bestraft werde, dann sei es so. Mein Schatten hat lange genug auf seinen Einsatz gewartet.«
»Pah!«, schrie Zamir. »Was Gutes, ja, Ada, was Gutes?« Wieder baute er sich vor ihr auf und versuchte, an ihr vorbeizukommen. Aber es gelang ihm auch dieses Mal nicht.
»Ja!«, antwortete sie seelenruhig und blies Zamir einen Funkenregen ins Gesicht, der ihn rückwärts taumeln ließ.
»Du wagst es tatsächlich, dich mit mir zu messen?«, schrie er aufgebracht. »Willst du das? Willst du deinen Schatten wirklich an mich verlieren?«
Nun lachte Ada höhnisch auf. »Ich kann meinen Schatten nicht verlieren. Er gehorcht mir, er teilt seine Mächte mit mir. Er ist Godals Bruder. Ein Scathan-Schatten, und damit sehr viel mächtiger als dein Spiegelwächter-Schatten. Völlig gleich, wie viele Mächte du gesammelt hast. Mein Schatten hat mehr Macht, und wir sind verbunden. Er löst sich nicht von mir.«
Nun machte sie einen Schritt auf Zamir zu und baute sich bedrohlich vor ihm auf. »Du kannst mir meinen Schatten nicht stehlen, Zamir. Das ist vorbei. Ich habe die Alte Kunst erlernt.«
»Die Alte Kunst?«, stöhnte Zamir ungläubig und wich vor ihr zurück. War das wahr? Wie war sie hinter dieses Geheimnis gekommen? Wie hatte sie die Alte Kunst erlernen können? Warum hatte sie sich dazu herabgelassen, mit ihrem Schatten zu sprechen? Wesen von Eldrid sprachen nicht mit ihrem Schatten. Deshalb konnten ihnen die Schatten auch so einfach gestohlen werden. Weil sie ihre Schatten nicht respektierten, nicht schätzten. Aber es gab diese Kunst, von der Ada sprach. Die Alte Kunst, den Schatten an sich zu binden. Dazu musste man mit ihm reden.
Zamir durchfuhr ein Schauer. Wer wusste noch von der alten Kunst? Wer hatte sich erinnert? Wer erlernte sie gerade? Das könnte seinen gesamten Plan in Gefahr bringen. Unschlüssig machte er einen weiteren Schritt zurück.
Ada ergriff erneut das Wort: »Es wäre jetzt besser, wenn du gehst. Uri braucht Ruhe, und er ist nicht für dich zu sprechen, weder für dich noch für Godal noch für irgendein Wesen, das ihm etwas anhaben will.«
Zamir entfuhr ein amüsiertes Lachen. Er hatte sich wieder gefangen: »Wer sagt denn, das ich ihm etwas anhaben will? Ich möchte nur wissen«, und dann entlud sich erneut seine Wut, »was du mit meinem Spiegel gemacht hast!«
Uri versuchte verzweifelt, seinen Kopf an Ada vorbeizuschieben. Er lächelte Zamir matt an. »Kannst du ihn nicht aktivieren?«, fragte er so beiläufig wie nur möglich.
Zamir schnaubte wie ein wildgewordenes Rhinozeros. Funken sprühten von dem Körper, die an Ada absprangen wie Wassertropfen von einer imprägnierten Jacke. Erneut versuchte er, an Ada vorbeizukommen und sich auf Uri zu stürzen. Seine ungezügelte Wut hinterließ jedoch keinen Eindruck bei ihr. Sie wankte noch nicht einmal, als ein Feuerschwall wie der eines Feuerschluckers nach ihr griff. Mit einer lässigen Handbewegung wehrte sie ihn ab.
Hilf mir, flehte Zamir seinen Schatten in Gedanken an. Hilf mir, sie machen sich über mich lustig. Das kann ich nicht dulden. Wir müssen unsere Macht demonstrieren.
Aber Zamirs Schatten lachte nur laut auf. Das ist ein sehr mächtiges Exemplar, entgegnete er in Zamirs Kopf. Sie hat recht, wenn sie sagt, dass er sich nicht von ihr trennen lässt. Wir sind durch den Bruch des Bannes auch geschwächt. Ich will es nicht auf einen Kampf ankommen lassen. Lass uns uns zurückziehen.
Verächtlich schnaubte Zamir auf, als er diese Worte vernahm. Wütend ballte er die Fäuste und erklärte mit beherrschter Stimme und hocherhobenem Kopf: »Also gut, für heute verschone ich euch. Ich sehe, dass Uri geschwächt und zu keinem Gespräch fähig ist. Aber ich komme wieder, das verspreche ich euch. Seid gewarnt, heute erfahrt ihr meine Gnade, das nächste Mal wird es Rache sein.«
Seine letzten Worte hallten in Uris Höhle wieder, während Zamir sich in eine Staubwolke verwandelte und verschwand.