Achtundzwanzigstes Kapitel
Die Suche nach dem Spiegelbild
Im Schritttempo fuhr Mina die Straßen ab. Weit konnte das Spiegelbild nicht gekommen sein. Oder doch? Mina traute sich nicht, weiterzudenken. Ihr Puls war gefährlich hoch, und ihre Brust hatte sich so zusammen gezogen, dass ihr das Atmen schwerfiel. Sie hatte aufgehört, Arndt im Minutentakt anzurufen. Er würde sich melden, wenn er es gefunden hatte. Sie hatte keine Vorstellung, wo sie noch suchen sollten. Was hatte es vor? Immer wieder schüttelte Mina den Kopf. Sie war fassungslos. Wie hatte sie so gutgläubig sein können? Wie hatte sie erwarten können, dass dieses garstige Abbild ihrer Enkelin auf sie hörte? Aber das Haus verlassen? Den Spiegel verlassen? Das war neu. Das hatte sich bisher kein Spiegelbild getraut. Zumindest nicht, soweit Mina bekannt war. Aber es war kein gewöhnliches Spiegelbild. Es hatte viel zu lange in dieser Welt geweilt. Ohne Ludmilla. Spiegelbilder hielten es nicht lange ohne ihren wahren Herren aus und wurden von Stunde zu Stunde bösartiger. Dieses Exemplar war der beste Beweis dafür. Die Idee, einen anderen Spiegel aufzusuchen, war allerdings die Krönung der Katastrophe. Wie konnte es auf eine solche Idee kommen? Und vor allem, durch welchen Spiegel wollte es reisen? Es hatte offenbar mitbekommen, dass der Taranee-Spiegel nicht funktionierte und der Solas-Spiegel nur manchmal. Und von den anderen beiden Spiegelfamilien war keine Rede gewesen.
Mina seufzte schwer auf und griff sich dabei an die Brust. Das Atmen schmerzte. Wieder wählte sie die Nummer von Arndt Solas und hob das Handy an ihr Ohr.
»Hast du es gefunden?«, fragte sie, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen.
Arndt schnaufte ungeduldig. »Dann hätte ich mich doch sofort gemeldet, Mina. Es ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich sollte zu Hause nachschauen. Vielleicht versucht es, durch meinen Spiegel zu reisen.«
Er legte auf, ohne Mina zu Wort kommen zu lassen. Mit quietschenden Reifen wendete sie den Wagen und fuhr zum Haus der Solas-Familie. Arndt öffnete ihr die Haustür, bevor sie klingeln konnte.
»Es ist nicht hier, Mina«, empfing er sie. »Lass uns hier warten. Ich bin mir sicher, es taucht wieder auf. Wo sollte es denn sonst hin?«
Mina schob ihn unsanft zur Seite und betrat das schwach beleuchtete Haus. Die Eingangshalle war riesig. Sie war eingerahmt von vielen Türen, und auf der Seite führte eine Treppe in die oberen Räume des Hauses. Die Halle war mit altem, dunklem Parkett ausgelegt, das vor Staub matt war. In der Mitte lag ein riesiger Teppich, der abgelaufen war und Löcher aufwies. Genau neben der Haustür stand ein Garderobenständer und daneben ein großer alter Ohrensessel mit dunkelgrünem Samtbezug, der stark verschlissen war. Sie ließ sich schnaufend hineinsinken und begrub ihr Gesicht in den Händen.
»Das darf alles nicht wahr sein«, schluchzte sie hemmungslos.
Arndt schloss leise die Haustür, trat auf sie zu und legte ihr unbeholfen die Hand auf die Schulter. »Sie wird aufkreuzen, Liebes. Ganz sicher. Reg dich nicht auf.«
Aber Mina schüttelte seine Hand ab und sah ihn mit Tränen in den Augen an. »Und wenn nicht? Und wenn nicht, Arndt? Was dann?«
Er hob die Schultern und musterte sie mitleidig. »Wir finden eine Lösung, Mina. Sie ist ein Teenager. Sie verschwindet nicht einfach.«
»Sprich nicht von ihm, als wäre es sie. Es ist ihr Spiegelbild«, fuhr sie ihn an und vergrub ihr Gesicht wieder in den Händen.
Er brummte etwas Unverständliches und blieb neben ihr stehen. Schließlich sagte er: »Du siehst ganz blass aus. Ich bringe dir ein Glas Wasser.« Er ging den großen Flur hinunter und öffnete eine Tür. Dahinter lag ein Raum, der hell beleuchtet war. Sie hörte, wie er eine Flasche öffnete und Flüssigkeit in ein Glas schüttete. Dann kam er schon wieder zu ihr geeilt. Als sie nicht reagierte, stellt er das Wasserglas neben dem Sessel auf den Boden.
In diesem Moment klingelte Minas Handy. Sie zuckte zusammen und griff danach. Sie zögerte, bevor sie den Anruf annahm. »Hallo«, sprach sie zaghaft hinein.
»Mina«, säuselte Edmund Taranees Stimme. »Dir ist etwas abhandengekommen, und ich habe es. Vielleicht solltest du mich besuchen kommen.« Und noch bevor sie etwas erwidern konnte, hatte er bereits aufgelegt.
Entsetzt starrte sie Arndt an. »Es ist bei Edmund«, krächzte sie, während er sie ungläubig anblickte.
Als sie die Einfahrt zu dem prächtigen Haus hinauffuhren, öffnete sich bereits die Haustür. Der Diener der Taranee-Familie trat hinaus, verschränkte seine Arme auf dem Rücken und wartete, bis Arndt und Mina aus dem Wagen ausgestiegen waren.
»Sie hätten ihr ruhig helfen können«, schimpfte Arndt, als er an ihm vorbei trat.
Der Diener verzog keine Miene, bedeutete aber mit einer Handbewegung, dass sie eintreten durften.
Die beiden betraten die prächtige Eingangshalle des Hauses der Taranee-Familie. Krachend fiel die Haustür ins Schloss, und der Diener erklärte trocken. »Sie werden bereits erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Er trat an ihnen vorbei und ging schnellen Schrittes voran. Mina und Arndt wechselten einen Blick und folgten ihm. Er führte sie in die Bibliothek des Hauses. Von der Decke hing ein großer Kronleuchter, der den gesamten Raum in warmes Licht tauchte. Viele kleine Lampen in den Regalfächern dienten als zusätzliche Lichtquellen und erzeugten dadurch eine gemütliche Atmosphäre.
Edmund Taranee saß mit einem Glas Whisky in der Hand in einem der ledernen Sessel und betrachtete seine Gäste mit einem zufriedenen Lächeln. Neben seiner Armlehne lehnte lässig ein Jüngling, der ebenfalls ein Glas in der Hand hielt und die Neuankömmlinge neugierig beäugte. Arndt erkannte ihn sofort. Der junge Mann in dem Sportwagen, der vor seinem Haus geparkt hatte. Also hatte er sich das doch nicht eingebildet. Etwas weiter entfernt, auf einem ledernen Sofa, saß Ludmillas Spiegelbild und zog eine verächtliche Grimasse, als sie Mina und Arndt erblickte. Aber Edmund warf ihm einen strengen Blick zu, hob den Zeigefinger, und sein Gesichtsausdruck erfror.
»Was hast du ihm angeboten, dass es so brav hier sitzt?«, entfuhr es Mina entgeistert. Sie hatte die Situation blitzschnell begriffen und konnte nicht glauben, was sie sah.
Edmund Taranee lächelte zufrieden. »Gar nichts, liebe Mina«, näselte er. »Aber kommt doch herein und setzt euch.«
Er gab dem Diener einen Wink und dieser schloss die Tür hinter sich. Mina und Arndt traten zögerlich näher, Mina machte aber keinerlei Anstalten, sich zu setzen, so dass Arndt sich nicht traute, von ihrer Seite zu weichen.
»Arndt, du kennst dich hier doch aus. Schenk dir was ein, und wenn Madame Scathan etwas wünscht, ihr selbstverständlich auch.« Mit einer großen Geste deutete er auf einen Teewagen, auf dem Gläser und ein Flakon mit der goldenen Flüssigkeit stand.
Arndt sah Mina fragend an. Sie hob entsetzt die Augenbrauen und schüttelte den Kopf. »Aber wenn du etwas trinken möchtest«, zeterte sie, »nur zu. Für euch ist die Situation nicht so heikel wie für uns. Also macht es euch bequem und genießt das Schauspiel.« Verächtlich schnaubte sie, während Arndt sich mit zitternden Händen ein Glas nahm.
»Auf welche Situation spielst du an?«, säuselte Edmund weiter und hob dabei gönnerhaft das Glas in Arndts Richtung. »Lass es dir schmecken, mein Lieber.«
Dieser nickte nur und schüttete den gesamten Inhalt des Glases hinunter.
»Aber, aber, das ist ein besonderer Whisky. Den sollte man genießen«, flötete der Alte weiter.
Arndt ignorierte diese Bemerkung und schenkte sich ein zweites Glas ein.
»Sicher, dass du nichts möchtest, Mina? Das Zeug ist gut und beruhigt«, wisperte er ihr zu.
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Kommen wir zur Sache, Edmund«, begann sie mit zitternder Stimme. »Was willst du mit ihr?«
»Du willst doch eher sagen, mit ›ihm‹«, unterbrach er sie sanft und lächelte dabei gekünstelt.
»Was soll das heißen?«, zeterte Mina. Geistesgegenwärtig schob sie hinterher: »Das ist meine Enkeltochter, und wie du sehen kannst, ist sie ein Mädchen.«
Edmund und der junge Mann fingen gleichzeitig an zu lachen.
»Das ist nicht Ihre Enkeltochter, Frau Scathan«, begann der Jüngling. »Das ist deren Spiegelbild, und das wissen Sie ganz genau. Nur wir wissen es eben auch.« Er lächelte selbstgefällig, beugte sich in Minas Richtung und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Wie unhöflich von mir«, säuselte er. »Mein Name ist Vince Taranee. Ich bin Edmunds Enkelsohn und sein Nachkomme, insbesondere was den Spiegel betrifft. Auch bei den Taranees wurde bedauerlicherweise eine Generation ausgelassen.«
Mina reagierte nicht auf seine Charmeattacke, sondern fixierte weiterhin Edmund. Vince ließ mit einem fast enttäuschten Gesichtsausdruck die Hand wieder sinken.
»Du hattest recht, Großvater. Die Scathan-Familie«, er schüttelte gespielt missbilligend den Kopf, »weiß nicht, was sich gehört.«
Weiter kam er nicht, denn Arndt unterbrach ihn polternd: »Du schickst wirklich ihn, um mich beschatten zu lassen, Edmund? Was habe ich in deinen Augen zu verbergen, dass du deinen Enkelsohn auf mich hetzt?«
Aber Edmund beachtete ihn nicht. »Mina, meine Liebe. Du solltest dich wirklich setzen und etwas trinken. Du zitterst ja und siehst ganz blass aus.«
»Ich brauche deine Sorge nicht, Edmund«, herrschte sie ihn an. »Und nun lass sie mit uns nach Hause gehen. Sie hat hier nichts zu suchen. Das ist das falsche Haus für sie.«
Aber Edmund schüttelte langsam den Kopf. »Dieses Spiegelbild geht nirgendwohin«, erwiderte er sanft.
Mina stöhnte auf vor Entrüstung. »Du kannst sie hier nicht festhalten. Sie ist meine Enkeltochter«, beharrte sie.
»Es ist ein Spiegelbild«, unterbrach Vince sie leise, aber bestimmt. Seine Stimme hatte nun etwas Drohendes.
Sie würdigte ihn mit einem empörten Blick. »Kannst du ihn bitte zum Schweigen bringen?«
Edmunds Mund umspielte ein Lächeln. »Er kann so viel dazu beitragen, wie er will. Er ist mein Enkelsohn. Deiner Enkelin würdest du doch auch nicht den Mund verbieten, oder?«
Mina schnaufte.
»Wollen wir sie doch gleich einmal fragen. Sag mir nochmal wie du heißt, Schätzchen«, wandte er sich an das Spiegelbild.
»Sie heißt Ludmilla, Großvater«, antwortete Vince rasch.
»Stimmt, Ludmilla. Und kannst du deiner Großmutter mitteilen, warum du hier bist, Ludmilla?«
»Das braucht sie nicht«, herrschte Mina ihn an. »Ich weiß, warum sie hier ist. Sie möchte durch den Spiegel reisen, und ich habe es ihr verboten.«
Wieder lachten die beiden Taranees schallend auf. »Das ist genau der Punkt«, erklärte Edmund ernst. »Sie möchte durch den Spiegel reisen, und ich möchte durch den Spiegel reisen. Also haben wir ein gemeinsames Ziel, und da sie schlau ist, ist sie mit ihrem Anliegen zu mir gekommen.«
»Du weißt genauso wie ich, dass sie nicht durch den Spiegel reisen kann. Weder durch den Scathan-Spiegel noch durch einen der anderen Spiegel«, schnappte Mina.
»Ist das so?« Edmund tat überrascht. »Aber im Endeffekt interessiert es mich nicht. Denn es ist ganz einfach, liebe Mina Scathan. Du wirst meinen Spiegel zum Leuchten bringen, und dann lasse ich deine Enkeltochter oder das Spiegelbild deiner Enkeltochter, ganz wie dir beliebt, gehen.«
Mina starrte ihn entgeistert an. »Der Taranee-Spiegel gehorcht mir nicht«, stammelte sie. »Wie soll ich ihn zum Leuchten bringen? Das liegt nicht an mir, dass er erblindet ist, das weißt du selbst. Frag deinen Spiegelwächter. Der wird dir alles erklären. Aber halte uns da raus. Meine Enkeltochter muss jetzt nach Hause. Es ist spät, und morgen ist Schule. Ludmilla?«
Sie warf dem Spiegelbild einen strengen Blick zu, aber es rührte sich nicht.
Edmund lachte künstlich auf, und Vince stimmte mit ein. »Du hast mich wohl nicht richtig verstanden, Mina«, erwiderte er hart. »Dieses Spiegelbild bleibt solange Gast in meinem Haus, bis der Taranee-Spiegel wieder leuchtet. Wie du das anstellst, ist mir gleich.«
Mina wurde noch blasser und musste sich an einem Bücherregal festhalten. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Wie konnte sie den Taranee-Spiegel zum Leuchten bringen? Sie hatte keine Macht und keinen Einfluss auf diesen Spiegel. Aber sie musste das Spiegelbild wieder in ihr Haus zurückbringen. Verzweiflung machte sich in ihr breit, und die Brust schnürte sich immer enger zu, bis sie keine Luft mehr bekam. Wie in Zeitlupe sank sie zu Boden und blieb bewusstlos liegen.