Dreissigstes Kapitel
Pixis Aufgabe
»Ada«, ermahnte Uri. »Das ist nicht die richtige Zeit, um zu schweigen.«
Sie blickte zögerlich von Pixi zu ihm und presste die Lippen aufeinander. »Ich kann nicht«, flüsterte sie. »Ich habe es versprochen.«
»Ha!«, schrie Pixi auf. »Dann weißt du etwas.«
Auch Uri blickte sie auffordernd an. »Das ist nicht die richtige Zeit, um zu schweigen«, wiederholte er ernst, und seine Stimme gewann an Kraft. »Es geht hier um eine mächtige Legende, Ada«, donnerte er. »Wir müssen wissen, ob die Möglichkeit besteht, dass sie wahr wird. Das ändert alles.«
Ada schluckte hart und nickte. »Ich weiß«, würgte sie hervor. »Aber ich kann euch nicht helfen. Ich weiß nicht, ob er seinen Schatten verloren hat.«
»Dann war er hier in Eldrid oder ist es noch«, drängte Uri weiter, wobei seine Stimme milder wurde.
Sie nickte beschämt.
»Wie konnte sich Desmond all die Jahre hier in Eldrid aufhalten, und keiner hat es mitbekommen?«, ereiferte sich die Fee aufgeregt.
Ada hob die Schultern. »Ich kann euch nicht helfen, glaubt mir doch«, flehte sie. Sie sank auf den Boden und umschlang die Knie mit ihren Armen.
Uri hob einen matt glühenden Zeigefinger und brachte die Fee zum Schweigen, die erneut anhob, sich auf sie zu stürzten. »Also gut, Ada. Du willst uns nicht sagen, wo Desmond ist«, begann er diplomatisch.
»Nein«, schluchzte sie auf. »Ich weiß nicht, wo er ist. Er war hier in Eldrid, ja, das kann ich zugeben. All die Jahre war er hier in Eldrid. Aber er hatte seinen Schatten. Dann hörte er von Lando und von seiner Vermutung, dass Zamir versuchen könnte, das Pentagramm der Schatten zu schließen. Er wollte mich nicht in Gefahr bringen. Er wollte mich beschützen, weil er wusste, wie mächtig mein Schatten ist und dass ich die Alte Kunst erlernt hatte. Ich konnte ihn nicht davon abhalten zu gehen. Er ist verschwunden. Schon vor Jahren. Ich weiß nicht, wo er ist. Ob er durch einen der Spiegel zurück in die Menschenwelt gereist ist oder ob er noch hier ist.« Ihre Stimme war so tränenerstickt, dass ihre Worte kaum zu verstehen waren. »Ich weiß nicht, ob er seinen Schatten verloren hat. Ich weiß gar nichts«, schloss sie erschöpft.
Uri und Pixi blickten sich fragend an. In diesem Moment fing Uris Spiegel an zu leuchten. Er leuchtete matt auf, aber immer wieder, wie ein Warnsignal oder eine Sirene. Stumm und rhythmisch.
Uri fasste sich an die Brust, ein Schmerz durchzog sie. Er keuchte.
Ada war mit einem Satz bei ihm. »Ist es Zamir? Greift er dich an?«, rief sie aufgeregt.
Aber Uri schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Irgendetwas stimmt mit dem Spiegel nicht. Er ist ohne Schutz«, keuchte er. »Es ist Mina.« Er suchte Pixis Blick, die nervös auf und ab flatterte.
Ada trat näher. Sie war blass und zitterte am ganzen Körper. »Was ist mit meiner Schwester?«, stammelte sie.
»Als ich sie verlassen habe, war noch alles in Ordnung.« Pixi schnaufte. »Soweit das in dieser Situation behauptet werden kann.«
»Wie meinst du das?«, presste Uri mühsam hervor.
Sie hob nur die Schultern und setzte ein unschuldiges Gesicht auf. »Ludmillas Spiegelbild ist besonders garstig, das habe ich schon erzählt«, erwiderte sie ungeduldig. »Mina sorgt sich um Ludmilla und dass das Spiegelbild das Haus verlassen könnte. Das wäre für unsere Ludmilla hier fatal.«
»Das wissen wir, Pixi«, unterbrach er sie. »Aber gesundheitlich ging es Mina gut?«
»Ja!«
Uri stöhnte auf. »Etwas präziser bitte, Pixi?«
»Mina ging es gut. Sie ist alt, Uri, und nicht mehr so belastbar wie früher. Und Edmund Taranee hat ihr ganz schön zugesetzt, aber insgesamt ging es ihr gut. Sie ist rüstig. Sie hat sich vielleicht etwas arg aufgeregt, aber nichts, was dazu führen könnte, dass sie den Spiegel im Stich lässt.«
Uri brummte etwas Unverständliches und starrte weiter auf den Spiegel, der unaufhörlich aufleuchtete. Langsam beruhigte sich sein Atem, aber der Schmerz blieb.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Ada, sichtlich beunruhigt.
»Das bedeutet, dass irgendetwas im Hause Scathan nicht in Ordnung ist, und zwar ganz gehörig. Ich bin zu schwach, um nach dem Rechten zu sehen. Pixi …« Er sah sie ernst an. »Du musst dich darum kümmern. Wir müssen sicher sein, dass es Mina gut geht und dass das Spiegelbild keinen weiteren Ärger bereitet.«
Die kleine Fee stemmt die Hände in die Hüften. »Das ist nicht dein Ernst?«, polterte sie mit ihrer tiefen, lauten Stimme los. »Ich bin doch gerade erst zurück, und jetzt soll ich schon wieder in diese Welt reisen? Du weißt doch, wie sehr mich diese Welt langweilt.«
Ada hob erstaunt die Augenbrauen.
»Nichts gegen dich, Ada«, beeilte sich Pixi zu versichern. »Aber ich fühle mich in eurer Welt einfach nicht wohl. Die Zeit vergeht so langsam, und ich muss mich ständig verstecken.«
Sie legte den Kopf schief und säuselte mit einem filmreifen Augenaufschlag: »Kann das nicht jemand anderes übernehmen? Ich wäre viel lieber hier bei dir und würde Aufgaben für dich erledigen. Bitte, Uri. Wir müssen nach Desmond suchen und herausfinden, wem diese mächtigen Schatten gestohlen wurden.«
Aber er schüttelte nur heftig den Kopf. »Mina vertraut dir, und du hast ihr schon geholfen, Pixi.« Uri blickte in ihre großen grünen Augen. »Hier gerät alles aus den Fugen. Ich weiß nicht mehr, wem ich noch vertrauen kann, und der Scathan-Spiegel muss geschützt werden. Er darf nicht in die Hände von Edmund Taranee fallen. Dafür musst du sorgen. Du weißt, wie sehr ich dir vertraue. Bitte, Pixi. Ich würde dich nicht bitten, wenn ich es selbst erledigen könnte. Schau nach dem Rechten in der Menschenwelt. Bringe das Spiegelbild dazu, sich zu benehmen, und vergewissere dich, dass es Mina gut geht. Und dann komm so schnell wie möglich zurück.«
Er nickte ihr bekräftigend zu und ließ den Spiegel in seiner vollen Pracht erleuchten. Schimpfend und Uri keines Blickes würdigend flog Pixi hinein und wurde von ihm innerhalb von einem Bruchteil einer Sekunde verschluckt.