Zweiundvierzigstes Kapitel
Eine unbequeme Reise
Unschlüssig trat Vince von einem Fuß auf den anderen. Er stand vor Zamirs Höhle und wusste nicht, was er tun sollte. Er ärgerte sich über sich selbst, da er sich fest vorgenommen hatte, Zamir auf den Schatten seines Großvaters anzusprechen. Aber dazu war es nicht gekommen. Außerdem hatte Zamir ihn unfreundlich empfangen. Der Spiegelwächter wirkte gestresst.
Vince schüttelte den Kopf. Das war überhaupt nicht so gelaufen, wie er sich die Begegnung vorgestellt hatte. Und jetzt? Wie sollte er an diesen Croax-Wolf kommen, wenn ihn Zamir nicht schickte? Er blickte in den dunklen Wald hinein. Die Schönheit dieser Welt, von der ihm sein Großvater immer vorgeschwärmt hatte, konnte er nicht erkennen. Es war finster, roch modrig, und von schillernden Farben war nichts zu sehen. Zamirs Werk verzauberte ihn nicht. Ganz im Gegenteil. Dieser Teil der Welt war abweisend und kalt, wie der Empfang des Spiegelwächters, der ihn geschaffen hatte.
»Lauf schon los«, drang Zamirs ungeduldige Stimme zu ihm nach außen. »Immer der Dunkelheit entgegen. Weg vom Licht. Ist nicht zu verfehlen.« Hohn sprach aus der Stimme. »Der Croax-Wolf wird dich schon finden. Und jetzt beleidige mich nicht länger mit deiner Anwesenheit.«
Vince murrte vor sich hin, während er sich in Bewegung setzte. Die Hecke teilte sich wie von Zauberhand und machte den Weg frei. Zu gerne hätte er gewusst, warum Zamir sich so für die Wiederbelebung des Spiegels interessiert hatte. Und warum er so unzugänglich war? Er wusste von seinem Großvater, dass die Taranee-Familie ein gutes Verhältnis mit Zamir gepflegt hatte. Ein freundschaftliches. Warum sonst hätte sein Großvater ihm seinen Schatten überlassen sollen? Er hatte es aus Vertrauen und der alten Verbundenheit wegen getan. Die genauen Hintergründe hatte sein Großvater ihm nie erläutert, sondern hatte sich bei diesem Thema immer besonders bedeckt gehalten. Zu gerne würde Vince mehr darüber erfahren. Aber nun musste er erst einmal dieses Mädchen suchen. Es reichte wohl nicht, dass er sich schon mit ihrem Spiegelbild rumärgern musste. Jetzt musste er das Original auch noch einfangen und zu Zamir bringen. Dass das so leicht werden würde, wagte er zu bezweifeln.
Er ging durch den Wald von Fenris, immer der Dunkelheit entgegen, so wie es Zamir gesagt hatte. Er hatte Mühe, überhaupt etwas zu erkennen. Aber er konnte differenzieren, wo es heller zu werden schien und wo dunkler. Er wandte sich stets der dunklen Seite zu und stolperte so fluchend durch den Wald. Kein Tier begegnete ihm, kein Wesen. Es war gespenstisch still, bis er ein Knacken und dann ein rasselndes Geräusch hinter sich vernahm. Als würde die Luft durch eine Dampfmaschine eingesogen werden. Er fuhr herum und stand vor einer pechschwarzen Gestalt. Sie war über zwei Köpfe größer als er und in einen schwarzen Umhang mit Kapuze gehüllt. Sie war gerade im Begriff, sich über ihn zu beugen. Und sie schnüffelte. Zumindest hörte es sich wie ein Schnüffeln an. Sie sog die Luft des Raumes ein, den Vince einnahm.
Erschrocken stolperte er rückwärts, taumelte und fiel über einen Baumstumpf in eine Hecke. Das Wesen blieb stehen und betrachtete den ungeschickten Menschen mit glühenden Augen. Langsam glitt es auf ihn zu und hatte ihn schon fast erreicht, als Vince ein »Halt« hervorpressen konnte. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und seine Kehle war trocken. Er hob eine zittrige Hand und schluckte hart. »Halt!«, wiederholte er. »Ich bin im Auftrag von Zamir, dem mächtigen Spiegelwächter, hier. Ich stehe unter seinem Schutz.«
Wieder ertönte das rasselnde Geräusch, und Vince meinte, darin Gelächter zu erkennen. »Es stimmt«, sprach er hastig weiter. »Er hat mir eine Aufgabe erteilt, und dafür schickt er mir einen Croax-Wolf. Er hat mich aber wohl noch nicht gefunden.«
Das rasselnde Geräusch brach ab, und das Wesen wandte sich um. Das Unterholz auf der gegenüber liegenden Seite knackte laut und krachend, und dann erhob sich ein riesiges Untier. Vince nutzte die Chance, sich aufzuraffen, blieb dann aber wie versteinert stehen. Das Geschöpf brach aus dem Gebüsch, zur Hälfte aus einem Wolf und zur anderen Hälfte aus einem Schwarm schwarzer Vögel bestehend. Die Vögel kreischten schrill, und der Wolf scharrte ungeduldig mit der Pfote, während er Vince mit flammenden Augen anstarrte.
Am liebsten hätte Vince losgebrüllt und wäre davongerannt, aber er konnte sich nicht rühren. Wie paralysiert starrte er in die feurigen Augen. Das musste ein Croax-Wolf sein. Der musterte ihn, schnüffelte, und dann senkte er den Kopf und ging in die Beugen seiner Vorderläufe. Vince sah sich kurz um, als wollte er sich vergewissern, dass die Geste dieses Untiers auch wirklich ihm galt. Dann löste sich seine Erstarrung, und er trat zögerlich auf den Croax-Wolf zu. Er blickte zur Seite, wo immer noch die Gestalt mit dem schwarzen Umhang stand. Sie jagte ihm mehr Angst ein als dieses wolfsartige Wesen. Also nahm Vince Anlauf und sprang auf den Nacken des Tierwesens, das ergeben den Kopf beugte.
Der Croax-Wolf richtete sich auf, und Vince hielt sich am Fell fest. Als sich die Bestie in Bewegung setzen wollte, zischte die schwarze Kreatur erneut. Es war ein so unangenehmes Geräusch, dass Vince sich instinktiv die Ohren zuhalten musste. Die Bestie drehte ungeduldig den Kopf zur Seite, fletschte die Zähne, und die Späher stießen schrille Schreie aus. Aber die Gestalt ließ sich davon nicht beeindrucken. Stattdessen griff sie unter ihren Umhang und holte etwas hervor. Vince kauerte sich auf dem Croax-Wolf zusammen. Die Bewegung hatte etwas von einer Szene in einem Western, in dem ein Cowboy einen Revolver zieht. Aber statt eines Revolvers streckte ihm eine skelettartige Hand etwas entgegen, das an einer Kordel hing. Es sah aus wie das Horn eines Tieres.
Zögerlich ergriff Vince die Schnur und zog den Gegenstand zu sich. Es war tatsächlich ein Horn. Wie das von einem Nashorn. Das schwarze Wesen machte mit seiner dürren Hand eine auffordernde Bewegung, und Vince verstand: Er sollte hineinblasen.
Er nickte unterwürfig und blies mit aller Kraft in das Horn. Es ertönte ein fremder, gedrückter Ton, der sich jedoch wie ein Echo im gesamten Wald ausbreitete und die Luft erfüllte. Der Wolf jaulte auf, und die Späher schrien noch lauter. Dann setzte sich der Croax-Wolf in Bewegung. Vince hängte sich rasch das Horn um den Hals und krallte sich am Nackenfell fest. Er wagte es nicht, sich zu bewegen, aus Angst, hinunterzufallen.
Es war kein angenehmer Ritt. Immer wieder blickte er sich um und versuchte zu erkennen, ob die schwarze Gestalt ihnen folgte, aber er sah nichts. Stattdessen verschmolz alles um ihn herum mit der Dunkelheit des Waldes.