21.20 Uhr
Mit klammen Fingern saß sie eine Viertelstunde später hinter dem Lenkrad ihres alten Golf. Der kleine Motor erwachte trotz der eklig feuchten Kälte schon nach dem ersten Dreh am Zündschlüssel. Früher hatte der Wagen ihrem Vater Günter gehört. Nach dessen Tod hatte der Golf ein tristes Dasein in einer dunklen Garage gefristet. Nachdem Franka aus Berlin zurückgekommen war und kein Auto besaß, hatte ihre Mutter ihr die Schlüssel des alten Wagens, der einst der ganze Stolz der Familie gewesen war, plötzlich in die Hand gedrückt.
»Ich weiß, dass das Auto bei dir in guten Händen ist«, hatte sie damals mit feucht schimmernden Augen gesagt. »Vati war immer sehr stolz auf den Golf — er war so etwas wie sein bester Freund.« Zentralverriegelung, Klimaanlage, Airbags und Servolenkung - Fehlanzeige.
Das alles ging ihr durch den Kopf, während sie, dick vermummt, durch die nächtlichen Straßen der Schwebebahnstadt fuhr. Die Wischer kämpften gegen den Schneeregen an, der von einem eisigen Wind gegen die Scheibe gepeitscht wurde. Der Schneematsch auf der Fahrbahn schlug gegen die Radkästen des alten Golf. Während aus dem Radio leise Musik erklang, bereitete sich Franka auf den Anblick vor. Eine Frauenleiche, die, wie ihr Kollege es genannt hatte, grausam zugerichtet war. Details hatte er ihr am Telefon erspart. Einen Eindruck konnte sie sich ja gleich persönlich verschaffen. Sie war gespannt und rechnete mit dem Schlimmsten.
Das Polizeipräsidium an der Friedrich-Engels-Allee lag auf dem Weg, und kurz war sie versucht, in den dort bereitstehenden Dienstwagen umzusteigen. Da sie aber keine Zeit verlieren wollte, verzichtete sie darauf und fuhr mit dem Privatwagen direkt bis zum Ort des Geschehens.
Hier hatte die Chaos-Phase begonnen: Blaulicht zuckte gespenstisch durch die Nacht, in den umliegenden Wohnhäusern hingen die Neugierigen trotz der späten Stunde am Fenster und versuchten, einen Blick vom Ort des Geschehens zu erhaschen. Kollegen hatten Sichtschutztücher aufgehängt. Rotweiß schraffiertes Absperrband flatterte im Wind. Leistungsstarke Scheinwerfer tauchten die Szenerie in ein kaltes, grelles Licht. Mehrere Streifenwagen parkten kreuz und quer am Straßenrand, weiter vorn stand ein Notarztwagen. Funkgeräte quäkten durch die Nacht. Die Nachricht vom Fund einer Leiche hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und Micha hatte bereits die ersten Vorkehrungen getroffen. Eine Kollegin der Pressestelle war vor Ort, um sich um die anwesenden Journalisten zu kümmern. Damit sie den Kollegen der Kriminalwache den Rücken frei hielt. Für die Polizisten vom Streifendienst war der Einsatz hier so gut wie beendet. Sie hatten den Fundort der Leiche abgesperrt und waren damit beschäftigt, allzu neugierige Bürger auf die nötige Distanz zu halten.
Kaum, dass Franka den alten Golf hinter einem der blau-silbernen Streifenwagen abgestellt hatte, klopfte ein uniformierter Kollege an die Seitenscheibe.
»Sie können hier nicht parken«, wurde sie mit wichtiger Miene belehrt. Wäre sie im zivilen Dienstwagen vorgefahren, wäre ihr diese Prozedur erspart geblieben. Doch anstatt zu antworten, hielt sie dem Streifenbeamten ihren Dienstausweis unter die gerötete Nase und stieg aus.
»Hab' nichts gesagt«, murmelte er ein wenig kleinlaut und führte die junge Kommissarin zu der Stelle, wo die Leiche im Gebüsch gefunden worden war. Das zweiköpfige Team der Spurensicherung war bereits eingetroffen und huschte, bekleidet in dünnen, weißen Einmalanzügen, herum. Bernd Krüger, ihr Verehrer von der Spurensicherung, befand sich nicht unter ihnen, wie sie erleichtert feststellte. Franka war in Anbetracht der Uhrzeit und der äußeren Umstände weiß Gott nicht in Flirtlaune. Krüger lag vermutlich längst im Bett bei seiner Frau. Die Kollegen bedachten die junge Kommissarin mit einem Kopfnicken. Ein Polizeifotograf turnte herum und machte Aufnahmen vom Fundort der Leiche. Nachdem er seine Fotos geschossen hatte, wurde der leblose Körper mit einem faserfreien Tuch abgedeckt.
»Na, was für ein Anblick zu dieser späten Stunde«, rief eine Stimme hinter Franka. Sie wandte sich um und blickte in das eckige Gesicht ihres Kollegen Michael Stüttgen. Er hatte telefoniert und steckte grinsend sein Handy in die Jackentasche. Seine dunklen Haare waren zu lang, er war unrasiert, trug wie immer Boots und ein rot kariertes Baumfällerhemd, roch nach Zigarettenqualm und gab sich mit seinem äußeren Erscheinungsbild alle Mühe, nicht wie ein typischer Kriminalkommissar auszusehen. Wer ihn nicht kannte, hielt ihn eher für einen kanadischen Baumfaller als für einen Kommissar. Das Täuschungsmanöver gelang ihm in dieser nasskalten Nacht besonders gut, fand Franka und musste trotz der Situation lächeln.
»Micha«, sagte sie. »Wie immer vor mir da, wo etwas passiert.«
Er zog die Mundwinkel hoch. »Das gehört zum Job.« Dann wurde er ernst, legte jovial einen Arm um Frankas Schulter und beugte sich zu ihr herab. »Hast du sie schon gesehen?«
»Die Leiche?«
»Ja.«
Franka schüttelte den Kopf. »Ich war gerade unterwegs, als …«
»Sie sieht schlimm aus.« Micha zog eine Packung Marlboro aus der Tasche seines Baumfällerhemdes, zog eine Zigarette heraus, strich sie glatt und zündete sie sich an. »So etwas kann kein gesunder Mensch tun«, fuhr er fort, während er den Rauch in den wolkenverhangenen Nachthimmel paffte. »Vermutlich wurde sie vergewaltigt, mit Wachs Übergossen und … totgebissen.«
»Was heißt das?«
»Der Typ, der das getan hat, hat ihr offenbar die Kehle zerfetzt. Sie ist elendig verblutet.«
»Kannibalismus?«
»Schon möglich.«
»Steht ihre Identität fest?«
»Noch nicht. Sie trägt nur Nylonstrümpfe und Stiefel, hat also keine Handtasche, keine Papiere, nichts dabei. Wir werden die Vermisstenmeldungen durchforsten müssen, fürchte ich.«
»Klingt nach einem Sexualverbrechen. Ich möchte sie sehen.«
»Dann hoffe ich mal, du hast noch nicht gegessen.« Micha grinste schief und führte Franka zum Fundort der Leiche. Die Spurensicherung unterbrach ihre Arbeit, ein junger Kollege zog das Tuch, mit dem sie die Leiche abgedeckt hatten, zurück.
»Showtime«, murmelte Micha in seinem Sarkasmus, der manchmal soweit daneben lag, dass es schmerzte. Franka wusste, dass er nach außen hin auffallend cool tat, wenn ihm etwas an die Nieren ging, und rechnete mit dem Schlimmsten.
Und sie tat gut daran. Sie betrachtete den Leichnam einer jungen Frau, sie schätzte sie auf Mitte zwanzig. Ihr langes blondes Haar umgab ihren Kopf wie eine Gloriole. Die Haut wirkte wächsern, die Lippen blutleer. Im Augenblick des Todes hatte sie die Augen weit aufgerissen. Der Mund stand einen Spalt breit offen. Ihr Körper war makellos, der Bauch durchtrainiert, die Brüste groß und fest. Zu Lebzeiten ist sie eine hübsche Frau gewesen, dachte Franka. Ihre Gliedmaßen standen in verrenkter Haltung vom Körper weg. Eine tiefe Wunde klaffte am Hals der Frau. Blut hatte ihren Oberkörper besudelt. Tatsächlich, so schien es, hatte der Täter ein Stück Fleisch aus ihr herausgebissen. Bei dem Anblick drehte sich Franka der Magen um.
»Mein Gott«, kam es heiser über ihre Lippen. »Wer tut so etwas?«
»Ein kranker Kopf. Wir sollten keine Zeit verlieren, Franka.«
»Wer hat sie gefunden?«
»Lena Hille, zweiundfünfzig, Witwe. Arbeitet in der Textilfabrik, hatte Spätschicht und war auf dem Heimweg, als sie die Tote fand.«
»Ich will sie sprechen. Wo ist diese Lena Hille jetzt?«
»Zu Hause. Sie stand unter Schock, wurde vom Notarzt behandelt und von uns nach Hause gebracht. Wir können sie morgen besuchen, wenn es nötig wird, die Adresse haben wir.«
»Was ist mit dem Opfer?«, fragte Franka.
Micha zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, schnippte den Stummel fort und trat ihn mit dem Absatz seiner Boots aus. »Der Notarzt schätzt ihren Todeszeitpunkt auf 20 Uhr, will sich aber noch nicht festlegen. Sie ist jedenfalls nicht hier gestorben«, fuhr er fort. »Der Notarzt hat bereits festgestellt, dass sie schon tot war, als das Schwein sie hier ablegte. Ich warte jetzt auf die Jungs von der Rechtsmedizin, die können uns vielleicht mehr dazu sagen.«
»Fundort ist also nicht gleich Tatort. Hat das denn niemand beobachtet?«
»Angeblich nicht, nein. Es ist wie immer: Alle stehen am Fenster, wenn ein Streifenwagen mit Blaulicht anhält, aber niemand will etwas gesehen haben, wenn jemand eine Frauenleiche hier ablegt.«
»Warum nur - ich meine, warum legt er sie ausgerechnet hier, an einer Hauptstraße, ab? Ich würde mein Mordopfer unauffälliger entsorgen.« Gemeinsam gingen sie zum Straßenrand der Berliner Straße. Ein kleiner Grünstreifen trennte Bürgersteig und Fahrbahn voneinander. Kaum drei Meter vor der Haltelinie einer Fußgängerampel hatte der Täter sein Opfer abgelegt. Die Kollegen der Spurensicherung hatten den dunkelgrünen Sprinter so am Fahrbahnrand geparkt, dass der vorbeifließende Verkehr die Leiche nicht sehen konnte. Auf Höhe der toten Frau befand sich die seitliche Schiebetüre des Kastenwagens, mit dem die Kollegen der Spurensicherung ihre Ausrüstung zu den Einsätzen transportierten.
»Das kann ganz schnell gegangen sein«, erwiderte Micha und deutete mit dem Kinn auf die Schiebetür. »Er fährt mit dem Auto vor, hält kurz rechts an, öffnet die Tür und wirft die Leiche ins Gebüsch, um dann in der Nacht zu verschwinden. Vielleicht sogar mit einem blickdichten Lieferwagen, so wie der Wagen der Spurensicherung, das könnte passen. Die Ampel ist rot, er klettert nach hinten, öffnet von innen die Schiebetür und wirft sie aus dem Wagen. Er klettert wieder nach vorn auf den Fahrersitz, die Ampel wird grün, und er fährt weiter, als wäre nichts geschehen. Bei diesem Mistwetter kriegt davon keiner was mit.«
»Die Ampel ist um diese Zeit abgeschaltet. Die Stadt muss Strom sparen«, murmelte Franka nachdenklich. »Der Wagen des Täters muss also entweder vorgefahren sein, als die Ampel noch in Betrieb war, oder er hat angehalten, obwohl die Ampel aus und gar nicht rot war. Ich will trotzdem, dass alle Anwohner befragt werden«, erwiderte Franka. »Irgendjemand hat bestimmt ein auffälliges Auto gesehen und hat idealerweise das Nummernschild notiert.« Sie grinste. »Wär' doch ganz brauchbar, oder?«
Michas Blick glitt über die Fassaden der umliegenden Häuser. Überall hingen Neugierige an den Fenstern.
Der späte Einsatz der Kriminalpolizei und das Aufgebot an Pressefotografen, deren Blitze durch die Nacht zuckten, hatten die Menschen auf den Leichenfund aufmerksam gemacht. Die Gebäude stammten aus den 50er- und 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts und beherbergten Mietwohnungen und kleinere Einzelhandelsgeschäfte. Gastronomie beschränkte sich in diesem Bereich der vierspurigen Straße auf Frittenbuden und Kioske, die alle schon geschlossen hatten.
Hier würden sie schätzungsweise gefühlte zehntausend Zeugenhinweise erhalten.
Micha seufzte gequält. »Zu schön, um wahr zu sein, Frau Kollegin. Aber wenn es dich beruhigt: Es sind schon Kollegen unterwegs in den umliegenden Häusern, um die Bewohner zu fragen, dauert aber wohl noch. Wir müssen das Ergebnis der Befragung abwarten, da beißt die Maus kein' Faden ab.«
Franka nickte. Sie fürchtete, dass ihr Kollege Recht hatte. Der Gedanke, dass in dieser Stadt ein irrer Mörder herumlief, bereitete ihr Magenschmerzen.