21.30 Uhr
Schon vier Mal hatte er den Astra um den Block gelenkt, immer weit nach vorn gebeugt und an der Fassade des vergammelten Altbaus emporblickend. Inzwischen waren alle Fenster dunkel. Das konnte nur bedeuten, dass die Fotosession längst beendet war und dieser Künstler im Bett lag und schlief- hoffentlich alleine.
Mehrmals schon hatte er versucht, sie auf dem Handy zu erreichen, immer vergeblich. Schon beim ersten Klingeln schaltete sich die Mailbox ein - ein sicheres Zeichen dafür, dass ihr Handy abgeschaltet war.
Unter seine Wut und Eifersucht mischte sich jetzt Angst. Diese Mischung beflügelte seine Phantasie. Horrorvisionen tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Gedanken, die ihn an den Rand des Wahnsinns brachten. War ihr etwas zugestoßen? In wessen Hände war sie da nur geraten?
Nachdem er bereits zum vierten Mal vor dem heruntergekommenen Fabrikgebäude stand, schaltete Tom Belter den Motor ab, löste den Sicherheitsgurt und stieg aus. Er hasste das Patschen des Schneematsches unter seinen groben Sohlen und sehnte den Frühling herbei. Mit langen Schritten stapfte er durch die nasse Pampe auf den Eingang der alten Fabrik zu. Da der Schnee geschmolzen war, konnte er keine Fußspuren mehr im Schnee ausmachen. Eine Beleuchtung gab es nicht, oder sie war abgeschaltet. So zog er ein Feuerzeug hervor, um einen Blick auf das Namensschild neben dem Klingelknopf werfen zu können. Seine Hand zitterte, und er schirmte die kleine Flamme mit der Linken ab, um sie vor dem Wind zu schützen. Die Klingelschilder waren aus Kunststoff und von Flammen versengt worden. Fast unmöglich, etwas entziffern zu können. Vergeblich versuchte er sich an den Namen des Fotografen zu erinnern. Mandy hatte immer nur von einem »Clay« gesprochen. Da sie ihn jedoch im Internet kennen gelernt hatte, bezweifelte er, dass es sich dabei um seinen echten Namen handelte. Vermutlich war Clay nur einer dieser Nicknames, um seine wahre Identität zu verbergen. Dann konnte er sich die Mühe hier schenken.
Das Feuerzeug in seiner Hand war glühend heiß geworden. Er verbrannte sich die Finger, fluchte, ließ den Knopf des Feuerzeuges los, stand von einer Sekunde zur anderen im Dunkeln. Wütend stapfte er zum Wagen zurück und klemmte sich hinters Steuer. Innerhalb weniger Minuten waren die Scheiben von innen beschlagen.
Belter zog das Handy aus der Tasche und tippte die Nummer des Polizei-Notrufes ein. Übertrieb er es jetzt? Es dauerte nicht lange, und ein Beamter meldete sich.
»Mein Name ist Thomas Belter. Ich möchte meine Freundin als vermisst melden«, sagte er mit zitternder Stimme, während er mit der freien Hand den Beschlag von der Windschutzscheibe fortwischte und wieder nach oben spähte. Dort rührte sich nichts.
»Wie heißt Ihre Freundin und wie sieht sie aus?« Die Stimme klang gelangweilt.
»Mandy Klimmek, sie ist siebenundzwanzig Jahre, schlank, hat lange blonde Haare, blaue Augen, hat eine Narbe über dem rechten Hüftgelenk, da ist sie als Kind mal mit dem Fahrrad gestürzt. Und ein Tattoo über dem Hintern.« Er sagte dem Polizisten nicht, dass er dieses Tattoo hasste und es abschätzig immer als Arschgeweih bezeichnete.
»Wie lange vermissen Sie denn Ihre Freundin?« Der Beamte am anderen Ende der Leitung klang desinteressiert. Er hackte auf einer Tastatur herum, durchsuchte scheinbar parallel die Vermisstenanzeigen.
»Seit… seit rund zwei, zweieinhalb Stunden.«
»Da kann ich nichts für Sie tun, junger Mann.« Das Hacken wurde unterbrochen, der Polizist in der Notrufzentrale seufzte gequält auf.
»Hören Sie - ich habe sie bei einem zwielichtigen Fotografen abgeliefert. Sie … sie arbeitet als Model. Wir waren am Haus des Fotografen verabredet, eine uralte, baufällige Fabrik. Sie ist nicht da, und im Haus ist alles dunkel. Ich werde den Verdacht nicht los, dass ihr etwas zugestoßen ist.«
»Hatten Sie Streit?«
»Nun ja, Streit wäre übertrieben. Es hat mir nicht gepasst, dass sie mitten in der Nacht zu diesem wildfremden Mistkerl geht.«
»Es ist gerade mal Abend. Vielleicht handelt es sich hier eher um ein Eifersuchtsgeplänkel? Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, dass Ihre Freundin mit Trotz auf Ihre Eifersucht reagieren könnte?«
»So etwas tut sie sicher nicht. Sagen Sie mal, sind Sie von der Polizei oder von der Seelsorge? Nehmen Sie jetzt diese verdammte Vermisstenanzeige auf?«
»Nein, werde ich nicht, junger Mann. Ich muss warten. Nach zweieinhalb Stunden kann ich unmöglich schon eine Fahndung einleiten, tut mir leid.«
»Dann schicken Sie wenigstens einen Streifenwagen vorbei und bitten Sie Ihre Kollegen, das Gebäude zu durchsuchen. Ich bin sicher, dass der Kerl meine Freundin in seiner Gewalt hat.« Belter nannte dem Polizisten die Adresse, wo er Mandy abgeliefert hatte.
»Ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss dürfen wir nirgendwo rein, solange keine Gefahr im Verzug ist. Und die sehe ich hier nun wirklich nicht«, wurde Belter belehrt.
»Sie sollen keine Wohnungen durchsuchen, Sie sollen Ihre Kollegen vorbei schicken und hier nach dem Rechten schauen, mehr nicht.«
»Sie verlangen ernsthaft, dass ich eine Streifenwagenbesatzung vorbei schicke, die dann ein altes, wahrscheinlich sogar leer stehendes Fabrikgebäude durchsucht, das möglicherweise sogar einsturzgefährdet ist?« Der Polizist lachte verhalten.
»Sollte das der Fall sein, ist meine Freundin erst recht in Lebensgefahr, also schicken Sie Ihre Kollegen hierher!«
»Wenn sie ein Handy hat, versuchen Sie, die Dame anzurufen.«
»Das habe ich schon mehrfach getan. Sie hat ihr Handy ausgeschaltet.«
»Was meinen Verdacht bestätigt, dass sie nichts von Ihnen hören möchte. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, ich bin sicher, morgen sieht die Welt schon ganz anders aus. Und um Ihre Sorge zu entkräften: Wenn da alles dunkel ist, dann hält sich Ihre Freundin bestimmt nicht mehr in dem Gebäude auf. Wir werden uns die alte Fabrik morgen, bei Tageslicht, einmal ansehen. Mehr kann ich Ihnen jetzt nicht zusichern.«
»Morgen kann es zu spät sein.«
»Das glaube ich nicht.«
»Sie haut nicht einfach so ab.«
Der Polizist am anderen Ende der Leitung schlug den Ton eines Grundschullehrers an. Beruhigend, beschwichtigend. Und vor allem scheute er sich vor unnötiger Arbeit. »Warten Sie trotzdem bis morgen. Vielleicht muss die Dame sich auch erst einmal beruhigen und eine Nacht darüber schlafen, wenn es wirklich Streit zwischen Ihnen gab. Und wenn Ihre Freundin morgen immer noch nicht aufgetaucht ist, wenden Sie sich an Ihre nächste Polizeidienststelle.«
»Danke.« Tom drückte kopfschüttelnd den roten Knopf und feuerte das Handy in den Fußraum neben dem Beifahrersitz, wo es in seine Einzelteile zerfiel.
*
Er hatte es geahnt.
Dieser Typ war zurückgekommen, um seine Kleine abzuholen.
Zu spät, denn das Gebäude hatte er längst schon verlassen. Alle Spuren waren beseitigt. Er würde es ihnen nicht allzu leicht machen. Ein süffisantes Grinsen huschte um seine Mundwinkel. Es hatte ihm Spaß bereitet, dem Trottel dabei zuzuschauen, wie er das Gebäude durch die beschlagene Windschutzscheibe beobachtet hatte, wie er ausgestiegen war und scheinbar im Hauseingang nach einem Klingelschild gesucht, es aber nicht gefunden hatte und frustriert wieder in seine Karre eingestiegen war. Natürlich wusste er nicht, hinter welcher Tür seine Kleine verschwunden war. Er war machtlos. Sicher würde dieses Würstchen gleich die Bullen anrufen.
Doch er wusste, wie das System dort funktionierte. Sie würden ihm nicht helfen, würden ihm empfehlen, zu warten. Sie würde schon zurückkommen, würde man ihm sagen. Da könne er noch so rumheulen - in der Notrufzentrale hockte ein Beamter, der sich nicht die Bohne für einen eifersüchtigen Kerl interessierte, dessen Kleine sich für Sexfotos auszog, ob ihm das nun passte oder nicht. Jetzt sah er, wie im Opel ein geisterhaftes grünes Glühen durch das Wageninnere huschte. Er hatte also tatsächlich das Handy in der Hand.
Das Gespräch dauerte ein, zwei Minuten, dann sah er wieder das geisterhafte Leuchten des Handys durch den Wagen schwirren. Vermutlich hatte der Kerl das Teil wütend auf den Beifahrersitz geworfen.
Er grinste triumphierend. Er hatte es gewusst.
Sie würden ihm nicht helfen. Und alleine würde er nie erfahren, was mit seiner Kleinen passiert war.
Die Frage war nur, als wie hartnäckig sich der Kerl entpuppte. Er würde die Spur seines Mädchens sicher zurückverfolgen. Und sobald er einen Anhaltspunkt hatte, was mit Mandy passiert war, würde er mit den Bullen zurückkommen.
Sie würden ihn jagen, so wie damals. Und sie würden ihn finden, über kurz oder lang, da machte er sich nichts vor. Er wollte nicht zurück in den Knast. Da würde er krepieren. Also gab es nur einen Weg, die wenigen Spuren, die den Typen zu ihm führen konnten, zu verwischen: Der Typ musste weg. Er musste für immer zum Schweigen gebracht werden. Eine andere Wahl gab es nicht.
Jetzt wurde der Motor des dunkelroten Astra gestartet. Der Wagen fuhr an. Nachdem der Opel um die nächste Straßenecke verschwunden war, startete auch er den Motor. Der Turbodiesel erwachte sofort zum Leben. Die ersten Meter fuhr er ohne Licht, dann erst schaltete er die Scheinwerfer ein. Es kostete ihn nicht viel Mühe, die Verfolgung aufzunehmen. Sein Wagen war schnell, und es war ihm ein leichtes, mit dem Opel mitzuhalten. Sie überquerten eine alte Wupperbrücke und bogen auf die Bundesstraße 7 ein. Mandys Freund steuerte also nach Osten. Wie eine Insel aus Licht schälte sich die futuristisch anmutende Schwebebahnstation Kluse aus der Dunkelheit. Links daneben schien sich das dem Untergang geweihte Schauspielhaus an das hell erleuchtete Großkino zu ducken. Sie passierten den nostalgisch anmutenden Bau, in dem es bis vor Kurzem eine Disco gegeben hatte, die er selber oft besucht hatte. In seinen Nächten.
Diese verdammte Stadt war pleite. Sie wurde vom Land regiert und hatte ihre Macht über sich selbst schon vor langer Zeit verloren. Ihm kam der Songtext eines Wuppertaler Rappers in den Sinn, der seinem Ärger über die inkompetenten Politiker im Rathaus vor einiger Zeit mit einem Song Luft gemacht hatte. Zwei Milliarden Euro Schulden und 45.000 Arbeitslose, das war also aus der einst reichen Industriestadt geworden, die früher so gut vom Garn und Textil gelebt hatte. Eine Stadt zum Abhauen, dachte er grimmig.
Wuppertal stirbt, grübelte er. Und nicht nur Wuppertal.
Ja, Unrecht hatte der Rapper nicht, und er versuchte sich an den Namen des Sängers zu erinnern, der sich eigentlich immer mit seiner Heimatstadt verbunden gefühlt hatte. Meelman, richtig. Jahrelang hatte Meelman Tracks geschrieben, in denen er sich zu Wuppertal bekannt hatte. Und nun hatte sich das Blatt gewendet.
Während er sich im Fahrersitz zurücklehnte, lässig mit einer Hand fuhr, nahm er sich vor, im Internet nach anderen Titeln des Sängers zu suchen. Bestimmt gab es eine Website, auf der er sich präsentierte. Er hantierte am Autoradio herum und suchte nach passender Musik. Vergeblich, wie er feststellte. Auch auf dem Lokalsender der Stadt lief nichts Brauchbares. Wie immer. Nichts, das zu seiner Stimmung passen wollte. So drückte er den Knopf und schaltete die Kiste ab.
Der Fahrer im Opel schien es nicht sonderlich eilig zu haben, und so folgte er ihm in gebührendem Abstand. Um diese Zeit herrschte auch auf den Hauptstraßen der Stadt kaum Verkehr. Die Geschäfte der Innenstadt hatten inzwischen geschlossen. Immer wieder blitzte an einigen Stellen das grüne Stahlgerüst der Schwebebahn zwischen den Gebäuden durch. Während die Friedrich-Engels-Allee ihrem Namen in Unterbarmen noch alle Ehre machte und von alten Bäumen gesäumt wurde, die sich unter der Last des Schnees über der Fahrbahn zu verneigen schienen, so wurde die Straße bald breiter und größer. Sie passierten den Alten Markt. Wie mahnend erhobene Finger reckten sich knapp vierzig Meter hohe Doppel-H-Pylonen der Schwebebahnstrecke in den wolkenverhangenen Himmel.
Er klebte nicht an der Stoßstange des Astra, nahm sich Zeit. Immerhin wollte er nicht auffallen. Noch nicht.
Sein Herz schlug schneller, als sie die Stelle erreichten, an der er Mandy aus dem Wagen geworfen hatte. Natürlich war sie längst gefunden worden. Die Bullen waren da und schoben Dienst. Man hatte leistungsstarke Scheinwerfer aufgestellt und die rechte Fahrbahn gesperrt. Gaffer hatten sich eingefunden, und die Autos vor ihm wurden langsamer, um einen Blick vom Geschehen zu erhaschen.
Eine tiefe Befriedigung ergriff ihn, und er grinste breit, als er auf die linke Fahrspur wechselte, um den Ort des Geschehens zu passieren. Uniformierte und zivil gekleidete Polizisten liefen hektisch herum, einige von ihnen telefonierten. Die zivilen Einsatzwagen standen kreuz und quer am Straßenrand.
Er hatte ein Zeichen gesetzt, und sie würden sich wundern, zu welchen Taten er noch im Stande war. Ein breites Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht festgemeißelt. Leider lag sie schon unter einem Leichentuch. Er hätte so gerne gesehen, wie der Schein der Straßenlaterne ihren Körper in wächsernes Licht getaucht und wie das Blut aus ihren Wunden sie rot bemalt hätte.
Es war ein so schönes Werk geworden.
Auch Belter fuhr langsam an der Stelle vorbei und verrenkte sich den Hals. Sah er etwas von seiner Freundin? Würde er Verdacht schöpfen und anhalten?
Es war eine bizarre Szenerie; überall Blaulicht und aufgescheuchte Polizisten, und die von ihm dort abgelegte Leiche bestimmte ihr Denken und Handeln. Der Gedanke hatte etwas.
Endlose Sekunden vergingen, und er hielt den Atem an.
Dann war Belter an der Fundstelle vorbei, hatte anscheinend keinen Verdacht geschöpft.
Der Wagen beschleunigte, und auch er gab wieder Gas. Er atmete tief durch und blickte in den Rückspiegel, wo sich der Fundort der Leiche immer weiter entfernte. Sein Puls beruhigte sich ein wenig.
Nachdem sie den Berliner Platz überquert hatten, gab Belter Gas, und er hatte Mühe, dran zu bleiben. Der schwere Wagen musste auf Drehzahl gehalten werden. Der Diesel surrte wie eine Nähmaschine.
Wusste dieser Idiot denn nicht, dass hier immer wieder die Geschwindigkeit gemessen wurde? Die Strecke in Richtung Schwelm verleitete viele Autofahrer zum Gas geben. So auch Belter.
Aber er ließ sich nicht abschütteln.
Eine Autobahnauffahrt flog an ihnen vorbei, dann wurde die Bebauung spärlicher. Er erinnerte sich daran, dass es hier, an der Stadtgrenze zu Wuppertal, früher mal ein Autokino gegeben hatte. Mit Freunden war er manchmal dort gewesen. Früher, als sie ihn noch nicht für verrückt gehalten hatten, dachte er in einem Anflug aus Wut und Wehmut.
Früher, als er sich seiner Begabung noch gar nicht so bewusst gewesen war.
Längst schon hatte er sich von seinem Leben als Sterblicher verabschiedet. Er schlich nachts über verlassene Friedhöfe und fühlte sich dort unendlich wohl. Dort, wo der Tod allgegenwärtig war. Er liebte den Atem des Todes, an jenem Ort, wo Menschen sich aus dem Leben verabschiedeten. Wuppertal hatte so viele wundervolle Plätze des Abschieds. Parkähnliche Anlagen, dichte Bäume, die ihm Schutz vor neugierigen Blicken boten, und Kapellen, bei denen nachlässige Friedhofswärter allzu gern vergaßen, abzuschließen und ihm so eine Bleibe für die Nacht in der Nähe der Verstorbenen boten.
Heute würde er keine Zeit finden, sich auf einem der zahlreichen Friedhöfe aufzuhalten. Er hatte zu tun, um die Polizei in die Irre zu führen. Schlafen konnte er tagsüber.
Er war zu einem Geschöpf der Nacht geworden.
Inzwischen hatten sie den Ortseingang von Schwelm erreicht. Verlassen lagen das Möbelhaus und der Baumarkt da, nur die grellen Leuchtreklamen warfen ihren bunten Schein in die Dunkelheit und blendeten ihn. Er hasste dieses grelle Licht. Die Burger-Schmiede hatte noch geöffnet, aber wegen des miesen Wetters schien auch hier kaum Betrieb zu herrschen. Der Parkplatz war ziemlich leer.
Die kleinen Straßen von Schwelm, durch die der Astra nun rollte, waren ihm unbekannt. Er war selten hier. In einer Seitenstraße passierten sie ein Industriegelände. Auf dem Hof ragten Türme, aufgeschichtet aus roten Bierkästen, in den Nachthimmel. Das muss die Schwelmer Brauerei sein, dachte er, als er die markanten Kästen sah.
Kurz daraufhatte er sein Ziel erreicht. Der Astra rollte langsam über einen Platz, der von Restaurants und kleineren Geschäften umgeben war. Die meisten Fassaden der Häuser waren verschiefert und strahlten einen historischen Charme aus.
Belter suchte und fand einen Parkplatz und rangierte den alten Kombi in die freie Lücke. Noch immer hatte er nicht bemerkt, dass ihm ein unsichtbares Phantom bis hierher gefolgt war.
»Altmarkt«, las sein Verfolger derweil den Namen des Platzes auf einem Schild.
Er lenkte seinen Wagen in gebührendem Abstand an den Straßenrand und wartete ab. Von hier aus konnte er ihn noch immer sehen. Er beobachtete, wie der Mann ausstieg und den Wagen abschloss. Ohne sich umzublicken, marschierte er über den Platz. Scheinbar fühlte sich Belter nicht verfolgt. Gut so.
Zwei mächtige Kirchtürme ragten hinter einer höher gelegenen Häuserzeile in den Himmel. Die Ziffernblätter der Uhren waren erleuchtet und rückten unaufhaltsam der vollen Stunde entgegen.
Belter erklomm die breiten Stufen, die zum Kirchplatz hinaufführten.
Was hatte das zu bedeuten? Wollte er jetzt in die Kirche?
Arbeitete er hier vielleicht sogar? Um diese Zeit? Kaum denkbar.
Er beschloss, abzuwarten. Nachdem Belter aus seinem Blickfeld verschwunden war, stieß er seinen Wagen in eine freie Parklücke und zog den Zündschlüssel ab. Er war seinem Opfer nicht hierher gefolgt, um es dann entwischen zu lassen. Im Fenster eines der Häuser ging Licht an. Es dauerte nicht lange, und er sah einen Schatten hinter den verschlossenen Gardinen umher huschen. Den Bewegungen nach musste er das sein.
Er beobachtete das Treiben in der Wohnung. Als sich die Tür eines winzig kleinen Balkons öffnete und sein Opfer sich über die Brüstung lehnte, bestätigte sich sein Verdacht. Der Typ wohnte in einem der Häuser an der Kirche. Von dort aus musste man einen stimmungsvollen, fast romantischen Ausblick auf die alten Fachwerkhäuser am Altmarkt haben. Beinahe wäre Melancholie in ihm aufgekommen. Er stieß sie ab.
Er war nicht hier, um eine Aussicht zu genießen.
Als die Glocken der Kirche zur vollen Stunde schlugen, zuckte er zusammen. Unheimlich hallte der Glockenschlag über die kleine Stadt, die wie im Dämmerschlaf dazuliegen schien. Sein Blick schweifte über die Fassaden der Häuser. Nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht.
Oben zog sich Belter vom Balkon zurück und zog die Gardinen zu.
Am kalten, flackernden Lichtschein erkannte er, dass der Mann den Fernseher eingeschaltet hatte. Scheinbar wollte er noch nichts ins Bett. Wahrscheinlich wartete er auf seine Freundin. Sicher grübelte er noch ein bisschen.
Doch da konnte er lange warten. Und grübeln.
Ein Grinsen lag auf seinen Gesichtszügen, als er aus dem Wagen ins Freie trat. Die Hände in den Jackentaschen versenkt, näherte er sich dem Haus und blieb davor stehen, um es in aller Ruhe zu betrachten. Für Minuten, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, stand er in der nasskalten Winternacht und schmiedete einen Plan, wie er den lästigen Zeugen aus dem Weg räumen könnte. Mandys Freund war zu einer Gefahr geworden, die er beseitigen musste.
Dazu war ihm jedes Mittel recht.