22.05 Uhr
An Schlaf war nicht zu denken.
Unruhig wanderte er durch die Wohnung, trat an das Wohnzimmerfenster, zog die Gardinen zur Seite und blickte aus dem Fenster. Die benachbarten Häuser wirkten leblos und trist. Die Schneehaube auf den am Straßenrand geparkten Autos schmolz und hatte sich in tropfende Matsche verwandelt. Der Mond hatte Mühe, die grauen Wolken zu durchdringen. Straßenlaternen tauchten den menschenleeren Platz in ein unwirkliches, kaltes Licht. In den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser brannte kein Licht mehr. Sogar die Restaurants hatten geschlossen, weil bei diesem Wetter die Gäste ausblieben. Die Nachbarschaft schlief tief und fest, und er fühlte sich, als wäre er auf dem ganzen Planeten der letzte lebende Mensch.
Belter wandte sich vom Fenster ab und starrte auf sein Handy, das auf dem gläsernen Wohnzimmertisch lag. Er hatte es mit Mühe wieder zusammengesetzt, aber das Display hatte nach seiner wutentbrannten Schmetteraktion eine tiefe Macke.
Vielleicht wäre er besser zuerst in ihre Wohnung gefahren, bevor er die Bullen darauf ansetzte, überlegte er. Möglicherweise war Mandy wirklich sauer auf ihn und hatte es vorgezogen, die Nacht allein und in ihren eigenen vier Wänden zu verbringen. Sie neigte manchmal zu solchen Kurzschlussreaktionen, die sie aber nach wenigen Stunden schon wieder bitterlich bereute.
Belter überlegte, ob er noch einmal zurück nach Wuppertal fahren sollte. Mandy hatte Wert darauf gelegt, ihre eigene kleine Wohnung zu behalten. Sie wollte einen Ort, an den sie sich zurückziehen konnte, wenn ihr alles zuviel wurde. Das Dumme daran war, dass er keinen Schlüssel zu ihrer Wohnung besaß. Natürlich hatte er versucht, sie dort anzurufen, jedoch leider vergeblich.
Vielleicht war sie nach dem seltsamen Shooting auch zu einer ihrer Freundinnen gefahren. Er überlegte, wer für eine solche Aktion in Frage kommen könnte. Eigentlich nur Lisa. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel.
Nach einem Blick auf die Armbanduhr war er sich nicht sicher, ob es eine so gute Idee war, Lisa Krämer jetzt noch anzurufen. Andererseits …
Thomas zögerte.
Aber er hatte keine Wahl.
Entschlossen griff er zum Telefon und suchte die Nummer von Lisa Krämer, Mandys bester Freundin. Sie waren seit der gemeinsamen Kindheit ein Herz und eine Seele. Sie tauschten Geheimnisse aus, von denen er nichts ahnte, was ihn manchmal wurmte. Aber, obwohl er sich das kaum eingestehen wollte: Es war besser, gewisse Dinge nicht zu wissen. Lisa machte auch keinen Hehl daraus, dass sie ihn nicht mochte. Vermutlich war sie nur neidisch, weil er in den letzten Monaten mehr Zeit mit Mandy verbracht hatte als sie, die beste Freundin. Er hatte es geschafft: Er hatte sie sich so lange schlecht gedacht, dass es jetzt nur noch schief gehen konnte.
Es tutete.
Irgendwann, nach dem achten oder neunten Klingeln, meldete sich eine verschlafene Frauenstimme. »Hallo?«
Als er schwieg, weil er gerade noch dabei gewesen war, sich die richtigen Worte zurechtzulegen, rief Lisa am anderen Ende der Leitung: »Soll das ein Scherz sein? Hallo, wer ist denn da?«
»Ich bin's, Tom.« Hatte sie denn anhand der Nummer nicht gesehen, dass er es war, der sie aus dem Bett geklingelt hatte?
»Weißt du, wie spät es ist?« Da fiel ihm ein, dass sie um kurz nach vier raus musste. Für sie war zehn Uhr abends verdammt spät. Sie gähnte ungeniert in den Hörer.
»Mandy ist verschwunden.«
»Bitte? Was heißt denn das? Hattet ihr Streit?« Sofort war sie wach.
Vorwurf und Spott lagen in dieser Stimme und ein gewisser Ich wusste, dass das mit euch nicht gut geht-Unterton. Belter ging nicht darauf ein und erzählte ihr, was in der Nacht geschehen war.
»Und jetzt denkst du, dass dieser Fotograf ihr etwas angetan haben könnte?«, schloss sie aus seinem Bericht. Sie klang völlig distanziert. Sie misstraute ihm, das fühlte er - nein, er wusste es.
»Ich habe Angst um Mandy. Manchmal weiß ich nicht, zu welchen Typen sie geht, um sich fotografieren zu lassen. Du weißt, was ich von ihren Gelegenheitsjobs als Model halte, und manchmal ist es mir einfach unheimlich, sie nachts zu irgendwelchen Typen zu fahren. Wer weiß — vielleicht ist ja irgendwann ein Perverser darunter.«
»Deine Phantasie geht mit dir durch«, erwiderte Lisa spöttisch und kicherte humorlos.
Er kam sich vor wie ein Idiot. Was tat er hier eigentlich? Belter versuchte, seine Gefühle zu verdrängen.
»Du weißt also nicht, wo sie sein könnte?« Er hatte keine Lust, mit Mandys bester Freundin zu diskutieren.
»Nein«, kam es schnippisch zurück.
»Bitte, sei ehrlich: Ist sie bei dir, Lisa?«
»Du spinnst. Hast du wieder getrunken, Tom? Dann schlaf deinen Rausch aus. Morgen ist sie wieder bei dir, deine Mandy, jede Wette. Mach dich nicht verrückt. Gute Nacht.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, hatte sie aufgelegt.
Thomas Belter starrte auf das Gerät in seiner Hand, schüttelte den Kopf und warf es wütend auf das Sofa. Diesmal blieb es ganz.
Plötzlich sehnte er sich nach einer Zigarette. Und das, obwohl er vor drei Monaten das Rauchen aufgegeben hatte. Mandy hatte es gehasst, wenn er nach kaltem Nikotin stank. Ihr zuliebe hatte er aufgehört. Manchmal aber sehnte er sich immer noch nach einer Zigarette. In Momenten, in denen er unter Stress stand. In denen er Sorgen hatte.
Dies war eindeutig so ein Moment. Durch die Diele marschierte er in die dunkle Küche, schaltete das Licht ein und fingerte auf dem Hängeschrank herum. Hier hatte er sich eine Packung Marlboro versteckt - für Notfalle. Doch die Packung war verschwunden. Vermutlich hatte Mandy sie gefunden und weggeworfen.
»Verdammt«, zischte er, wandte sich ab, trat an die Garderobe und zog sich den Mantel über. Dann würde er sich eben eine neue Packung aus dem Automaten ziehen. Sie war nicht da, also würde es sie auch nicht stören, wenn er nach Rauch stank. In der Manteltasche klimperte Kleingeld, er zählte vier Euro ab, griff nach dem Haustürschlüssel und war schon draußen. Die beiden Türme der Christuskirche waren stimmungsvoll angeleuchtet. Irgendwo plätscherte es. Der schmelzende Schnee auf dem Dach prasselte auf den Kirchhof. Belter hatte im Nu nasse Füße, stieg fluchend die Stufen zum Altmarkt herab und stand ein wenig unschlüssig vor den Parkbuchten. Das La Grappa auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes hatte geschlossen. Also würde er den Weg zum Zigarettenautomaten auf sich nehmen müssen. Ein paar hundert Meter durch die Kälte.
Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck stapfte Belter los.
Kaum ein paar Schritte gegangen, vernahm er ein Geräusch hinter sich. Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein Puls raste. Als er sich umwandte, erblickte er einen hoch gewachsenen Schatten.
Der Typ hatte in etwa seine Größe und Statur, trug einen langen Mantel. Mehr sah Belter nicht von ihm.
»Haste mal Feuer?« Die Stimme klang rau.
»Klar«, nickte er und fingerte in der Manteltasche herum. Plötzlich spürte er kaltes Metall an seiner Kehle. Er wollte zurückweichen, doch die Klinge eines Messers bohrte sich ruckartig in sein Fleisch. Ein krächzender Laut kam über seine Lippen.
Thomas Belters Atem ging rasselnd.
Ehe er sich versah, wurde er von einer kräftigen Hand gepackt und herumgewirbelt. Er taumelte, riss die Arme hoch und trat einen Schritt nach hinten. Sein Angreifer riss die Hand, mit der er das Messer hielt, zurück. Der Arm ruckte hoch und sauste jetzt geradewegs auf Toms Brust zu. Belter stand wie erstarrt da und war nicht in der Lage, der tödlichen Klinge auszuweichen. Im Augenwinkel sah er, dass in den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser kein Licht mehr brannte. Er versuchte zu schreien, doch mehr als ein weiteres Krächzen kam nicht über Belters Lippen. Gebannt starrte er auf das riesige Messer. Das Gesicht des Angreifers war zu einer Fratze verzerrt. Die Klinge blitzte im Licht der Straßenlaternen. Im nächsten Augenblick erschien es Belter, als würde die Welt vor seinen Augen explodieren. Ein brennender Schmerz lähmte seinen Körper. Er riss die Arme schützend hoch, doch zu spät. Tief drang die Klinge in seinen Brustkorb. Er sah Sterne vor seinen Augen aufblitzen, spürte die Hitze, die sein Herz durchströmte und sackte kraftlos zusammen. Belter rang nach Atem, doch die Luft blieb ihm aus. Immer und immer wieder rammte der Fremde ihm die Messerklinge in den Oberkörper. Tom presste die Hände auf die Stelle, von der der Schmerz ausging.
Er spürte etwas Warmes, Klebriges … Blut. Sein eigenes.
Bevor er sich versah, stach sein Peiniger weiter auf ihn ein. Röchelnd brach Belter zusammen und schlug rücklings auf dem Pflaster des Bürgersteiges auf, spürte den harten Schlag am Hinterkopf, der ihm den Schädel zu zerreißen schien, krümmte sich vor Schmerzen, doch der Fremde warf sich auf ihn, riss ihm die schützenden Arme von der Brust fort und stach immer wieder zu.
Belter spürte, wie der klamme Matsch seine Kleidung durchdrang. Die nasse Kälte drohte seinen Körper zu lähmen. Er war dem Fremden ausgeliefert. Wie ein Gefangener in seinem eigenen Körper musste er machtlos mitansehen, wie sich der Messerstecher über ihn beugte. Sein Gesicht glich einer Maske.
Immer und immer wieder bohrte sich die blitzende Klinge des Messers in seinen Oberkörper und lähmte ihn immer mehr. Thomas spürte, wie die Kraft aus seinem Körper wich. Er kämpfte gegen die Ohnmacht an, doch lange konnte er sich ihr nicht mehr widersetzen. Sein gesamter Körper bestand aus einem einzigen, alles vernichtenden Schmerz. Er fühlte, wie sich die Messerklinge seines Angreifers immer wieder in seine Brust bohrte, spürte, wie seine Lungen durchlöchert wurden.
Als er den Geschmack seines eigenen Blutes im Mund schmeckte, wusste er, dass er den ungleichen Kampf verloren hatte. Seine Hände ruckten hoch, hin zu der Stelle, wo sich die Stichwunden befanden, und er fiel in einen dämmrigen Zustand. Seine Muskeln brannten, und Belter fühlte, wie das Leben aus seinem Körper wich.
Blitze tanzten grell vor seinen Augen. Ein asthmatisches Pfeifen entwich seiner Lunge. Dann wurde es dunkel um Belter, und er glaubte, ins Bodenlose zu stürzen.
Er hatte das Haus verlassen, um sich Zigaretten zu besorgen. Nun lag er, zerfetzt von einem übermächtigen Gegner, auf dem Bürgersteig, keine zehn Meter von der schützenden Haustür entfernt. Alles für eine einzige Zigarette.
Das Letzte, was durch seinen Kopf geisterte, war ein kurzer Satz. Rauchen tötet.