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23.45 Uhr

Während die Kollegen des KK 11 aus Hagen mit der Sicherung des Tatortes beschäftigt waren, hatten sich Franka und Micha die Genehmigung geholt, Belters Wohnung besichtigen zu dürfen. Das Licht hatte Thomas Belter brennen lassen. Demnach hatte er nicht vorgehabt, länger wegzubleiben. Die Wohnung war einfach, aber geschmackvoll eingerichtet. Micha und Franka hatten sich dünne Einmalhandschuhe übergestreift, um die Wohnung von Thomas Belter nicht mit ihren eigenen Fingerabdrücken zuzupflastern.

Es gab einen fast rechteckigen Flur, der von einer Garderobe beherrscht wurde, die unter der Last unzähliger Jacken und Mäntel von der Wand zu stürzen schien. Franka erkannte darunter auch einige Frauenjacken. Sie machte Micha auf ihren Fund aufmerksam.

»Scheinbar hat Mandy Klimmek zumindest zeitweise bei ihm gewohnt«, murmelte sie. Links zweigte eine schmale Küche ab. Eine Neonröhre an der Decke verbreitete mit einem monotonen Surren ihr grelles Licht. Die Küchenmöbel waren alt, aber in recht sauberem Zustand. Eine Korkwand mit Notizen, ein Kalender. Das Rollo war nicht heruntergelassen, und sie hatten durch das Küchenfenster freien Blick auf das massive Mauerwerk der Christuskirche, das um diese Zeit von grellen Scheinwerfen angestrahlt wurde. In der Spüle stapelte sich der Abwasch, und der Deckel des Mülleimers ließ sich nicht mehr schließen. Micha stand vor der Pinnwand und studierte die Zettel.

Einkaufszettel, Quittungen, die Visitenkarte eines Arztes. Er trat näher und erkannte, dass es sich bei der Karte von Dr. Martin Alberts um einen Gynäkologen handelte.

Dieser Alberts schien der behandelnde Frauenarzt von Mandy Klimmek gewesen zu sein. Micha zog die Nadel aus dem Kork und nahm die Karte an sich. Vielleicht war Dr. Alberts ihnen eine Hilfe.

Franka verließ die Küche. Erste Tür rechts, das Wohnzimmer. Der Fernseher lief ohne Lautstärke. Es flimmerte eine Talkshow über den Bildschirm, die wahrscheinlich am Mittag des vorherigen Tages schon einmal gelaufen war. Der Talkmaster präsentierte einer pubertierenden Mutter und dem pickeligen Vater eines Kindes den x-ten Vaterschaftstest. Franka seufzte. Die sollten sich langsam mal was Neues einfallen lassen.

Sie trat an das große Fenster und zog die Gardinen zurück. Ein winzig kleiner Balkon erlaubte den Blick auf den Altmarkt. Unten waren die Kollegen aus Hagen noch mit der Tatortsicherung beschäftigt. Sie hatten Scheinwerfer aufgestellt, die die ohnehin schon grausige Szenerie in ein kaltes Licht tauchten. Soeben führ ein Leichenwagen vor. Dunkel gekleidete Gestalten stiegen aus und zogen einen Zinksarg von der Ladefläche. Schweigend klappten sie ihn auf und entnahmen der Transportbox einen transparenten Plastiksack mit einem weißen Reißverschluss. Ein wenig unsicher näherten sich die Fahrer des Leichenwagens den Beamten der Kriminalpolizei. Aus der Ferne vermutete Franka, dass sie zum ersten Mal einen Ermordeten transportierten. Sie schüttelte den Kopf und wandte sich vom Ausblick auf den Altmarkt ab. Eine bizarre Szene, wie sie sie sogar in Berlin nicht erlebt hatte. Dies war ihre Heimat, und die Menschen, die hier lebten, waren offenbar genauso krank wie die Drogenjunkies in Berlin.

Der Täter hatte sein Opfer hier mitten auf dem Altmarkt überwältigt und ermordet. Er hatte damit rechnen müssen, dass er bei seiner Bluttat beobachtet wurde, doch das Risiko war er anscheinend eingegangen und nach dem kaltblütigen Mord unerkannt geflohen. Ein Gefühl der Ohnmacht überkam sie, denn sie würde liebend gern eine Fahndung nach dem Mörder herausgeben, aber ohne die Angaben eines Fahrzeugtyps, eines amtlichen Kennzeichens oder sogar einer Personenbeschreibung konnte sie sich die Mühe sparen. Der Mörder war auf freiem Fuß und hatte viele Chancen, unerkannt zu entkommen. Franka verdrängte den Gedanken und überlegte, wie der Täter wohl vorgegangen war.

Belter war kaum zehn Meter von der rettenden Haustür entfernt gestorben. Doch was hatte ihn zu später Stunde noch einmal aus dem Haus gelockt? Die Sorge um seine Freundin? Oder war er auf dem Weg zur Arbeit gewesen?

Als Franka sich umwandte, sah sie das Telefon auf dem Sofa liegen, fast so, als hätte er es achtlos dorthin geworfen. Sie durchquerte den Raum und ergriff das Handy. Es handelte sich um ein recht neues finnisches Fabrikat. Die Menüführung kannte sie von ihrem eigenen Modell, und so war es ein Leichtes für sie, die ein- und ausgehenden Verbindungen aufzurufen. Mehrmals hatte Belter vergeblich versucht, Mandy anzurufen, zuletzt um 22 Uhr. Im Ordner der ausgehenden Anrufe fand sie eine Lisa.

»Micha, ich habe sein Telefon gefunden.«

»Wo bist du denn?«

»Hier - in der Stube.«

Er tauchte im Türrahmen auf und grinste schief. »Es heißt Wohnzimmer«, brummte er. »Warum sagt ihr Ossis eigentlich immer Stube?«

»Ich bin kein Ossi«, wehrte sich Franka und gestand sich insgeheim ein, während ihrer Zeit in Berlin den Slang dieser Region in ihren eigenen Wortschatz übernommen zu haben, ohne es zu bemerken. »Ich habe in Berlin gearbeitet, mehr nicht. Aber warum feiert Köln eigentlich Karneval? Ihr seit doch das ganze Jahr über bekloppt«, konterte sie, dann wurde sie wieder ernst. »Hier: Er hat wahrscheinlich unmittelbar, bevor er ermordet wurde, eine Lisa angerufen.«

»Ich drücke schnell die Wahlwiederholung. Vielleicht kann sie uns einen wichtigen Hinweis geben.« Aber Franka hatte kein Glück. Es sprang direkt Lisas Mailbox an. »Wahrscheinlich schläft sie schon. Notieren wir uns die Nummer auf unsere To-do-Liste für morgen«, schlug Franka vor.         

»Gut. Warst du schon in den anderen Räumen?«

»Noch nicht.« Franka folgte ihm ins Schlafzimmer. Es gab einen zwei Meter großen Kleiderschrank mit einer Spiegelfront, ein französisches Bett, an dessen stählernem Kopfende sich Handschellen befanden.

»Aha«, kommentierte sie. »Unser junges Paar hat wohl gern experimentiert.«

Micha zog die Schubladen eines Nachtschrankes auf und fand zwei Dildos. »Und hier geht's weiter«, grinste er.

»Du bist wohl neidisch«, erwiderte Franka bissig.

»Nein, überhaupt nicht.«

Sie wusste, dass Micha eine gescheiterte Ehe hinter sich hatte. Seine Frau lebte noch in Köln, und er hatte sich nach der Scheidung ins Bergische Land versetzen lassen, um die räumliche Distanz zu wahren. Nichtsdestotrotz traf er sich ab und zu noch mit seiner Exfrau, um mit ihr leidenschaftliche Nächte zu verbringen. Er machte keinen Hehl daraus, dass sie sich nach der Trennung besser verstanden als je zuvor und dass sie im Bett hervorragend harmonierten. Und experimentierten. Und fünfzig Kilometer waren eine recht überschaubare Distanz für Ex-Partner, die einfach ab und zu miteinander vögeln wollten.

»Hier, sieh mal«, rief er jetzt, ohne auf Frankas Anmerkung einzugehen. Micha hatte ein in schwarzes Leder gebundenes Fotoalbum gefunden, das er durchblätterte. Die Fotos darin zeigten eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren, allesamt geschmackvolle erotische Fotos.

»Das ist dann wohl unsere Mandy.«

Franka blickte ihm über die Schulter und erkannte auf den Fotografien die Frau wieder, die sie ermordet am Rand der Berliner Straße gefunden hatten.

»Allerdings.« Sie musste eine begehrenswerte Frau gewesen sein. Die Kommissarin kämpfte gegen die aufkeimende Wut gegen den Mörder an und widmete sich dem Kleiderschrank. Im rechten Fach hingen Hemden und Hosen ordentlich auf Bügeln, daneben einige Jacken. Auf dem Schrankboden reihten sich Herrenschuhe, allesamt blitzblank sauber, nebeneinander auf. Thomas Belter schien ein sehr ordnungsliebender Mensch gewesen zu sein. Links außen wurden Herren- und Damenkleidungsstücke aufbewahrt. Socken, T-Shirts, die üblichen Freizeitklamotten und Jogginganzüge, die sowohl von einem Mann, als auch von einer Frau getragen werden konnten. Franka nahm einen zweiteiligen Jogginganzug aus dem Fach und faltete ihn sorgfältig auseinander. »Größe zweiundfünfzig«, murmelte sie. »Der dürfte wohl kaum der Klimmek gehört haben.«

Micha brummte zustimmend und machte sich am mittleren Schrankfach zu schaffen. »Bingo«, grinste er.

Franka trat neben den Kollegen. Ihr Blick fiel auf Frauenkleidung. Jacken, Kleider und Blusen hingen auf Bügeln, Röcke und Hosen befanden sich, sauber gefaltet, auf dem Brett darüber. Von der Alltagskleidung bis hin zum »kleinen Schwarzen« war alles vertreten. Franka begutachtete die Wäsche. Im obersten Fach fand sie Unterwäsche. Mandy Klimmek schien ein Faible für edle Spitzenwäsche gehabt zu haben. Die Kommissarin fand hauchdünne Slips und BHs, oft in rot und schwarz, aber auch andere Farben waren vertreten. Nylons, mit und ohne Halter, Bustiers und Corsagen - das volle Programm. »Dafür muss sie ein Vermögen ausgegeben haben«, vermutete Franka und verschloss den Schrank. In den anderen Fächern befanden sich die Kleidungsstücke ihres Freundes.

Micha schnalzte mit der Zunge. »Scheinbar hat sie Spaß am Sex gehabt und das Leben in vollen Zügen genossen.« Er wandte sich zu seiner Kollegin um und deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Das da«, sagte er dann, »ist jedenfalls das wahre Mekka für einen Wäschefetischisten.«

»Wie auch immer«, erwiderte Franka. »Immerhin war sie Model.«

»Und ihre Auftraggeber werden wir uns allesamt vorknöpfen müssen«, nickte Micha.

»Schade nur, dass uns ihr Freund keine Fragen mehr beantworten kann.«

»Um eben das zu verhindern, musste er ja sterben, da bin ich sicher.«

»Bestimmt gibt es ein Notizbuch, eine Kontaktliste oder Ähnliches.«

»Wenn es in dieser Wohnung einen Rechner gibt, nehmen wir ihn mit und lassen ihn durch unsere Spezialisten durchforsten«, schlug Franka vor. »Vorausgesetzt, die Hagener Kollegen spielen mit.«

»Ich kenne Günther vom Hagener KK 11 ganz gut, lass mich mal machen, er schuldet mir noch was.« Mit einem vielsagenden Grinsen verließ Micha den Raum. Er brummte im Nebenraum herum. Franka folgte ihm zurück ins Wohnzimmer.

»Hier ist kein Computer«, bemerkte er, als Franka sich im Türrahmen aufbaute.

»Die Klimmek hat auch noch eine eigene Wohnung«, erinnerte sie ihn. »Hier war sie nämlich gar nicht gemeldet.«

»Du meinst…?«

»Naja, eigene vier Wände eben. Nicht jedes Paar, das zusammen ist, wohnt auch gleichzeitig zusammen.« Jetzt grinste sie den Kollegen vielsagend an. »Das müsstest du ja am besten wissen.«

»Nächstes Thema«, brummte Micha.

»Wenn sie sich eine eigene Wohnung gehalten hat, ist es auch ziemlich wahrscheinlich, dass sie ihre Unterlagen dort aufbewahrt hat. Ich habe hier nicht einen einzigen Aktenordner gesehen, auf dem ihr Name stand. Und Ordner hat man doch - Versicherung, Mietverträge, Papiere für das Auto, so was halt.«

»Komm, ich glaube, hier haben wir alles gesehen.«

Franka hatte keine weiteren Einwände und folgte ihm. Das Handy, das sie auf dem Sofa gefunden hatte, nahm sie mit. Damit konnten sich die Kollegen der KTU auseinandersetzen. Hier gab es nichts mehr zu tun, und jetzt zog es sie ins Bett. Sie spürte, dass die nächsten Tage noch anstrengend genug werden würden.