19.40 Uhr
Natürlich hatte sie den Aktenordner nicht im Wagen liegen lassen. In ihrer Wohnung angekommen, drehte sie zunächst einmal die Heizung in allen Räumen an und zog die Gardinen zu. Auf die trostlose Szenerie da draußen hatte sie keine Lust mehr. Franka ging zur Stereoanlage und legte eine CD ein. Die leise Musik, die aus den Boxen drang, entspannte sie und brachte sie auf andere Gedanken.
Sie spürte Hunger. Sie heizte den Backofen vor, schenkte sich ein Glas Rotwein ein und ließ sich ein Erkältungsbad mit Eukalyptuszusatz einlaufen. Während der Ofen vorheizte und die Wanne einlief, entkleidete sich Franka und suchte im Schlafzimmer nach dem flauschigen Hausanzug. Als sie nackt vor dem Spiegelschrank stand, betrachtete sie ihren Körper im diffusen Licht der kleinen Nachttischlampe. Sie sah eine schlanke Frau mit berufsbedingt sportlicher Figur und vollen Brüsten. Ihre Nase hatte sie als Kind schon als zu lang empfunden. Die braunen Augen bildeten einen Kontrast zu dem langen, pechschwarzen Haar, das sie meist offen trug und das sich nun an ihre nackten Schultern schmiegte. Nur selten band sie die Haare zu einem Zopf oder machte sich mit einer Spange einen Pferdeschwanz. Die Lippen waren ein wenig zu dick, wie sie fand, doch die Männer, mit denen sie zusammen gewesen war, hatten immer von ihrem sinnlichen Kussmund geschwärmt. Alles Auslegungssache, dachte sie amüsiert, während sie sich ansah.
»So übel sehen Sie gar nicht aus, Frau Kommissarin«, grinste sie und überlegte, ob sie selbst Spaß daran haben könnte, sich auf diese Weise fremden Männern zu präsentieren. So nackt. So pur. Wohl eher nicht. Sie war nicht prüde und liebte auch guten Sex - den richtigen Mann an ihrer Seite vorausgesetzt - aber in einer Hinsicht war sie sehr altmodisch, und dazu bekannte sie sich auch: Sex war eine Sache zwischen zwei Personen. Niemand hatte das Recht, sie dabei zu beobachten, sie nackt zu betrachten. Sie konnte nicht nachvollziehen, was in Mandy Klimmek vorgegangen war. Fest stand nur, dass ihr die Neigung, sich offen zu zeigen, zum Verhängnis geworden war. Sie hatte Thomas Belter immer und immer wieder verletzt, indem sie sich ausgezogen hatte, um sich von anderen Männern ansehen zu lassen und deren Fantasie zu beflügeln.
Ein altes Sprichwort kam ihr in den Sinn: Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um. Dieser Spruch traf für Mandy Klimmek wohl genau ins Schwarze. Gleichermaßen ärgerte sich Franka jetzt darüber, dass es offenbar so schwer war, die Spur des letzten Mannes, mit dem sich Mandy Klimmek getroffen hatte, zurückzuverfolgen. Er schien äußerst intelligent zu sein und seine Taten lange vorher zu planen. Es war nichts Außergewöhnliches, dass Mörder hochintelligente Zeitgenossen waren, aber in einem Zusammenhang mit einer Sexualstraftat kam das doch eher selten vor.
Nachdem Franka sich im Spiegel betrachtet und ihren Gedanken nachgehangen hatte, schlüpfte sie in den gemütlichen Hausanzug und marschierte in die Küche zurück. Der Ofen hatte seine Betriebstemperatur erreicht. Schnell schob sie die Pizza aufs Blech und nippte an ihrem Rotwein. Es dauerte nur wenige Minuten, bis es in ihrer kleinen Küche herrlich duftete. Sie drehte das Wasser der Wanne ab, legte ein Badetuch bereit und ging zurück in die Küche, wo sie sich am Küchentisch niederließ. Dort lag der Ordner, den sie von Georg bekommen hatte. Sie konnte nicht anders, setzte sich an den Tisch, zog den rechten Fuß unter den Hintern und schlug die Akte auf. Wahllos blätterte sie in den Ausdrucken. Es gab Protokolle von Mandy Klimmeks Internetaktivitäten, E-Mail-Adressen und einigem mehr. Franka erhob sich, ging ins Wohnzimmer und kehrte mit ihrem Laptop zurück an den Küchentisch. Sie klappte das kleine Gerät auf und ging ins Internet.
Sie gab testweise den Namen einer Domain ein, der ihr bei der Durchsicht aufgefallen war. Sie landete auf einer Datenbank, die Modelle an Fotografen und andersherum vermittelte. Franka klickte sich durch die Seiten und fand einige Setcards. Teilweise schön und ästhetisch, teils einfach nur auf Nacktheit bedacht, nur, um männliche Betrachter dazu zu bewegen, sich in die Mitgliedsliste des Anbieters eintragen zu lassen. Das war es nicht, was Franka wollte. Sie löste sich von der Arbeit und blickte in den Backofen. Der Käse der Pizza war goldgelb und an den Kanten leicht braun - genauso liebte sie es. Sie erhob sich und schob die Pizza auf einen runden Holzteller. Nachdem sie sich Besteck geholt hatte, ließ sie sich wieder am Küchentisch nieder. Jetzt erst bemerkte sie, wie groß ihr Hunger war und sie schlang die Pizza viel zu schnell hinunter. Zwischen den Bissen spülte sie immer wieder mit einem Schluck Rotwein nach.
Während sie aß, arbeitete sie weiter. Auf der Internetseite gab es die Möglichkeit, einen Fotografen zu finden, sie gab Fotografen aber auch die Möglichkeit, ein Model zu finden. Als Franka sich durch die Fenster klickte, fand sie auch eine Seite, auf der man gegen Bezahlung seinen selbstgedrehten Porno einstellen konnte. Sofort dachte sie wieder an die DVD, die sie am Vormittag in der Wohnung von Mandy Klimmek gefunden hatte. Hatte sie den Film nur gedreht, um ihn ins Netz zu stellen? Wie hatte sie Belter dann davon überzeugen können, bei diesem Spiel mitzumachen? Vermutlich hatte sie ihm vorgegaukelt, den Film drehen zu wollen, um ihn anzumachen. Dass er sich selber beim Sex mit seiner Freundin bald schon im Internet würde bewundern können, davon hatte Belter vermutlich nichts geahnt, denn sonst hätte er bei diesem Spielchen wohl kaum mitgemacht.
Aber warum hatte sie so gehandelt?
War es ihr nur ums Geld gegangen, oder wollte sie ihre Neigungen ausleben? So wie es aussah, war sie entsprechend veranlagt gewesen. Die unzähligen Seiten im Netz und die teils mit Werbefenstern zugemüllten Foren begannen Franka zu nerven. So komme ich nicht weiter, dachte sie seufzend und verputzte den Rest ihrer Pizza Funghi. Danach räumte sie den Teller und das Besteck in die Spüle. Hier stapelte sich der Abwasch der letzten beiden Tage. Franka nahm sich vor, morgen endlich zu spülen und begab sich ins Bad. Es roch angenehm nach Eukalyptus. Die Heizung lief, und so zog sie sich aus und ließ sich in die Wanne gleiten.
Sie schloss die Augen, atmete tief ein und spürte unter dem starken Eukalyptusduft, wie sich das Volumen ihrer Lungen zu verdreifachen schien. Endlich konnte sie wieder gut durchatmen. Ihre Nase wurde frei, und sie genoss das Bad. Die Wärme tat ihr gut. Sie ließ die Hände durch das Wasser gleiten und versuchte abzuschalten.
Doch der Fall ließ ihr keine Ruhe.
»Hobbyhuren«, murmelte sie, während das heiße Badewasser ihren Körper umschmeichelte. Diesen Begriff hatte sie auf einer der anstößigen Seiten gelesen. Was war eine Hobbyhure? Eine Frau, die Sex gegen Geld mit Männern hatte, oder eine Frau, die sich prostituierte, um ihren eigenen Trieb mit vielen wechselnden Partnern auszuleben? Die Variante, dass Mandy Klimmek um jeden Preis der Welt ein Model werden wollte, gefiel ihr deutlich besser. Einige wenige Schauspieler, die heute bekannt waren, hatten früher Pornofilme gedreht. Warum sollte es bei der Klimmek anders sein? Vielleicht hatte sie wirklich gerade am Anfang einer Karriere als Model gestanden. Andererseits war sie für eine Laufbahn als Fotomodell eigentlich schon zu alt gewesen. In diesem Beruf fangt man früher an, manche schon mit vierzehn, aber nicht mit siebenundzwanzig. War es die Lust daran, sich nackt in Szene zu setzen, gewesen, die ihr Handeln bestimmt hatte?
Wenn sie nymphoman veranlagt gewesen war, dann wunderte sich Franka auch nicht darüber, dass sie mit anderen Männern geschlafen hatte. Vielleicht für Geld, vielleicht auch nur, um ihre eigene Lust zu befriedigen.
Franka wollte nichts außer Acht lassen. Was, wenn sich Mandy Klimmek in einem dieser Foren für Hobbyhuren eingetragen hatte, was, wenn sie sich mit einem vermeintlichen Kunden getroffen hatte, der nichts anderes vorhatte, als sie zu töten, nachdem er sich an ihr vergangen hatte? Das würde dann auch für die Tatsache sprechen, dass sie nicht misshandelt wurde, sondern den Sex gebilligt, ja, gewollt hatte. Dass das Ende des Abends sich so blutrünstig gestaltet hatte, davon hatte sie sicher nichts geahnt.
Kaum war Franka aus der Wanne gestiegen, hatte sich abgetrocknet und war in ihren Hausanzug geschlüpft, da saß sie auch schon wieder vor ihrem Laptop und recherchierte. Diesmal gab sie »Hobbyhure« als Stichwort ein. Nach ein bisschen Sucherei landete sie in einem entsprechenden Forum. Hier gab es ein Verzeichnis, wo sich die Anbieterinnen steckbriefähnlich vorstellen konnten, mit allen Vorlieben und Tabus. Auch eine Verlinkung zur eigenen Homepage war möglich, so die betreffende Dame denn eine hatte. Frankas Augen brannten, als sie sich durch die Angebote klickte. Es waren über dreißig Seiten, bis sie auf das briefmarkengroße Bild einer blonden Frau stieß, die sich verführerisch auf einem breiten Bett räkelte. Und es war ein Wort, das Franka ihre Müdigkeit vergessen ließ: Wuppertal stand dort, daneben die Postleitzahl.
»Nancy verwöhnt dich gegen ein kleines TG«, las Franka die Überschrift. Nancy, dachte sie. Mandy nannte sich also im Internet Nancy. Klang ähnlich, machte also Sinn. Trotzdem glaubte sie nicht, dass Mandy Klimmek sich ihr Taschengeld, ihr TG, mit Prostitution aufbesserte. Frankas Hand zitterte leicht, als sie den rechten Mittelfinger über den Trackpad ihres Notebooks schob und die Vergrößerung des Fotos anwählte. Es dauerte einen Augenblick, bis sich ein neues Fenster öffnete, und Franka trommelte nervös auf der Tischplatte herum. Dann sah sie die blonde Schönheit in Bildschirmgröße. Ihr Gesicht war mit einem Fotobearbeitungsprogramm verfremdet worden. Vermutlich wollte sie so sicherstellen, dass sie niemand erkannte, vor allem aber Thomas Belter nicht. Doch eines hatte sie vergessen: Das Tattoo auf dem Rücken. Es war so auffallend, das Franka es auch jetzt wiedererkannte. Somit stand fest, dass Mandy Klimmek nebenbei angeschafft hatte. Dass ihr Freund von ihrem Tun gewusst hatte, wagte Franka zu bezweifeln. Unter der Anzeige stand eine Kontakt- E-Mailadresse und das, was Nancy für Geld alles tat. Franka sicherte die Seite im Favoritenordner, dann schaltete sie den Laptop aus und leerte das Weinglas. Was hatte Nancy-Mandy mit all dem Geld gemacht, das sie eingenommen hatte? In welcher Verbindung stand das Modeln mit der Tätigkeit als … Hobbyhure? Das Wort kam Franka widerwillig über die Lippen. Aber es hatte sich in ihr festgesetzt. Die Gedanken rasten ihr durch den Kopf, aber sie war todmüde und etwas wackelig auf den Beinen, was sicherlich auch an dem Wein lag, den sie getrunken hatte. Franka schaltete das Licht aus und wankte unter permanentem Gähnen hinüber ins Schlafzimmer, zog sich aus und krabbelte unter die Bettdecke. Kaum, dass sie die kleine Nachttischlampe gelöscht hatte, war sie auch schon eingeschlafen.