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21.30 Uhr

Er erwachte erst lange, nachdem sich die Dunkelheit über dem Land ausgebreitet hatte und die Lichter der Stadt angegangen waren. Er trat an das Fenster, von dem aus er auf die viel befahrene Hauptstraße hinunter blicken konnte. Eine Schwebebahn zog wie ein beleuchteter, metallener Lindwurm seine Bahn am lindgrünen Gerüst. Gegen Abend hatte erneut Schneefall eingesetzt und die Stadt mit einer puderzuckerdünnen, weißen Schicht überzogen. Die Autos auf der Straße kamen nur im Schritttempo voran. Vermutlich hatten diese Idioten keine Winterreifen und gerieten bei der ersten Schneeflocke, die auf der Straße liegen blieb, ins Schlingern - oder sie schissen sich in die Hosen vor Angst, an einem Laternenpfahl zu landen.

Ihm war es egal, er musste nicht raus in dieser Nacht.

Die Wohnung war ihm besorgt worden, um hier für ein paar Tage Unterschlupf zu finden. Vielleicht würde er es riskieren, morgen in die eigenen vier Wände zurückzukehren.

Heute hatte er nichts vor. Endlich hatte er seine Tötungsfantasien ausgelebt, endlich war er dem Drang, Blut zu trinken und warmes, pulsierendes Menschenfleisch zu essen, nachgekommen. Er hatte Macht gehabt über Leben und Tod. Und er hatte sich für den Tod entschieden. Seine Gier war gestillt. Zwei Opfer in der letzten Nacht, das war kein schlechter Schnitt. Der Gedanke an das, was er mit der hübschen Mandy getan hatte, genügte, um ihn zu erregen. Aber er hatte sich in der Gewalt. Eine lange Suche war in der letzten Nacht für ihn zu Ende gegangen: Die Suche nach seinem eigentlichen Ich. Er hatte sich schon seit langem anders gefühlt, ohne zu wissen, was ihn vom Großteil seiner Mitmenschen unterschied. Es hatte damit begonnen, dass er die Menschen in seinem persönlichen Umfeld plötzlich anders gesehen hatte. Auf einmal war ihm das, was er als vertrautes Umfeld kennen gelernt hatte, fremd und irrwitzig erschienen. Er hatte begonnen, Fragen zu stellen. Die Welt, in die er hineingewachsen war, war ihm fremd geworden, sinnlos erschienen.

Er hatte es das Erwachen genannt - sein Erwachen, das Erwachen eines neuen Egos. Eine Veränderung hatte tief in ihm stattgefunden, und er hatte sich zu Dingen und Personen hingezogen gefühlt, die er vorher nie beachtet oder für völlig realitätsfern erachtet hatte. Zwischenzeitlich war er tief verunsichert gewesen und hatte viel nachgedacht und viel gelesen.

Dann hatte er diese Seite im Internet gefunden.

Es gab viele Menschen, denen es ähnlich erging wie ihm selber.

Sein neues, anderes Wesen hatte er plötzlich bewusster empfunden.

Hatte er früher die Sonne angebetet, so konnte er nunmehr kaum die nächsten Vollmond-Nächte abwarten. Friedhöfe, ein Ort der Trauer und des Vergehens, zogen ihn magisch an.

Omne initium difficile est…

Aller Anfang ist schwer. So hatten sie ihn empfangen und ihm den Weg in die neue Welt des Seins gewiesen. Er hatte sich bald schon zurechtgefunden in seinem neuen Leben und mied seitdem den Tag.

Und er war sehr schnell viel weiter gegangen als die anderen.

Jetzt ist es an der Zeit, alte Freundschaften zu pflegen, dachte er sich mit einem diabolischen Grinsen auf den Lippen, als er das dunkle Wohnzimmer durchquerte und den Computer einschaltete. Das blaue Flimmern des 21-Zoll-Monitors war die einzige Lichtquelle im Raum. Während sich der Rechner ins Internet einwählte, ging er in die Küche und nahm sich eine Flasche trockenen Rotwein aus Tarragona mit. Er griff mit der anderen, freien Hand, nach einem Korkenzieher und einem Glas, dann kehrte er ins Wohnzimmer zurück, entkorkte die Flasche, schenkte sich das Glas ein, hielt es vor den Bildschirm und erfreute sich an der tiefroten Farbe des Weines.

Rubinrot, dunkel und geheimnisvoll, dachte er. Wie Blut…

Er schwenkte das Glas und nippte von dem Wein, bevor er seine Lieblingsseite im Netz aufsuchte. Mit wenigen Mausklicken arbeitete er sich zum Chatroom vor. Als er gefunden hatte, wonach er gesucht hatte, grinste er zufrieden. Der Spaß konnte beginnen.