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9.45 Uhr

»Und jetzt?«, wollte Micha wissen, nachdem sie die Begehung der Brandruine beendet hatten.

»Fahren wir zu Baumann. Scheint ein krummer Hund zu sein.« Franka blätterte in ihren Notizen, die sie sich vorhin gemacht hatte. »Wohnt und arbeitet in Nächstebreck, am Rand zu Sprockhövel.«

Franka las ihm die Adresse vor, und Micha nickte stumm.

»Also, statten wir ihm einen Besuch ab.«

Sie stiegen in den Dienst-Audi und fuhren los. Als die Heizung Wärme abgab, spürte Franka, wie die Kälte langsam von ihr abfiel. Sie betrachtete die Häuser der Stadt, wie sie an ihr vorbeizufliegen schienen und dachte über den rätselhaften Fall nach. Sie fahndeten nach einem Phantom, einer zwielichtigen, aber gefährlichen Gestalt, die nachts ihr Unwesen trieb und vor nichts zurückzuschrecken schien.

Inzwischen hatten sie das Getümmel der Stadt hinter sich gelassen. Der Audi rollte stadtauswärts, und obwohl sie nur wenige Höhenmeter zurückgelegt hatten, lag hier bereits mehr Schnee. Auf den Bürgersteigen waren dick vermummte Gestalten damit beschäftigt, Schnee zu räumen. Die in der Nacht frisch gefallene weiße Pracht glitzerte in der Morgensonne. Über die Straße Mollenkotten gelangten sie in den Norden der Stadt. Links befand sich ein Hotel der gehobenen Kategorie und rechterhand lud im Sommer ein Golfplatz zum Verweilen ein. Idylle am Stadtrand, die durch den frisch gefallenen Schnee wie ein Wintermärchen wirkte. Doch war Franka gar nicht romantisch zumute, Der Rundgang durch die ausgebrannte Fabrik hatte sie nachdenklich werden lassen. Der Täter hatte sich scheinbar wochenlang und akribisch auf seine schreckliche Tat vorbereitet, um dann alle Spuren ebenso gründlich zu vernichten.

»Ich frage mich, ob wir Baumann in den Kreis der Tatverdächtigen einreihen können«, sagte sie, an Micha gewandt. »Als Hausbesitzer hat er einen Schlüssel zu der Fabrik. Hinzu kommt, dass es nicht einmal auffallen würde, wenn er seinen eigenen Besitz betritt. Lass uns mal überlegen. Baumann spekuliert mit Immobilien. Es gibt offiziell keinen Mieter, der Mandy in der Fabrik hätte empfangen können. Aber hätte dieser Baumann irgendeinen Grund, Mandy Klimmek zu töten? Wohl eher nicht. Die beiden kannten sich vermutlich nicht einmal.«

»Es sei denn, dieser Baumann ist auch der Fotograf, den wir suchen«, überlegte Micha, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen. Da ihn der frische Schnee blendete, hatte er sich eine Sonnenbrille aufgesetzt. »Er ist im Internet auf der Suche nach einem Opfer. Sie soll jung und hübsch sein. Und natürlich nicht prüde und bereits Erfahrungen mit der erotischen Fotografie gemacht haben. Für jemanden, der fit ist im Internet, ist das eine der leichtesten Übungen, zumal Geld für diesen Baumann wohl keine Rolle spielt. Ich könnte mir vorstellen, dass er ein Doppelleben führt: Zum einen der aalglatte Geschäftsmann, nicht sonderlich beliebt, aber wohl erfolgreich, zum anderen hat er gesellschaftliche Probleme und abnorme sexuelle Vorlieben. Aber zurück zum möglichen Tathergang: Er sucht und findet sein zukünftiges Opfer im Internet, er vereinbart Honorar und Termin mit ihr und sucht nun nach einer Location für sein Verbrechen. Was liegt bitte schön näher, als sie in eines seiner leerstehenden Objekte einzuladen? Er hat freie Hand, besitzt einen Schlüssel und kann in dem Gebäude tun und lassen, was er will.«

Franka atmete tief durch, dann zog sie das Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer des Präsidiums. »Franka hier«, sagte sie, nachdem sich Mellinghaus gemeldet hatte. Der Kollege war gemeinsam mit Hanser für die Recherche zuständig. »Ich brauche alle Informationen über unseren Freund Klaus Baumann, über den wir heute Morgen beim Meeting schon gesprochen haben. Er ist in der Immobilienbranche tätig und nicht überall beliebt. Ich will alles über ihn wissen, was du auf die Schnelle zusammentragen kannst, wenn möglich, in den nächsten zehn Minuten.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie den roten Knopf und wählte eine andere Nummer. Diesmal ließ sie sich mit Georg aus der KTU verbinden. »Der Ordner mit den Unterlagen über Mandy Klimmeks Rechner liegt in meinem Büro. Vielleicht kannst du mal die Kiste einschalten und nach einem Klaus Baumann durchforsten?«

»Das ist das geringste Problem«, antwortete Georg. »Was ist mit ihm?«

»Wir prüfen die Möglichkeit, ob er der Fotograf ist, der sich mit Mandy Klimmek zu ihrem finalen Shooting getroffen hat. Und jetzt kommst du ins Spiel.«

»Du glaubst nicht ernsthaft, dass Baumann sich mit seinem realen Namen auf die Suche nach einer Frau gemacht hat, oder?«

»Dann finde seinen Nicknamen heraus.«

»Womöglich sollte der Clay lauten«, lachte Georg.

»Das wäre zu viel des Guten.«

»Ich schließ den Kasten noch mal an und melde mich dann.«

»Prima, dank dir.« Franka beendete das Gespräch und legte das Handy in die Mittelkonsole des Dienstwagens. Mittlerweile hatten sie Nächstebreck, den nördlichsten Teil der Stadt, erreicht. Sie wollten die Gunst der Stunde nutzen und den Überraschungseffekt auf ihrer Seite haben. Es gab einen Kreisverkehr, der in den Eichenhofer Weg führte.

»Hier ist es«, rief Franka, als sie die Hausnummer am mannshohen schmiedeeisernen Zaun entdeckt hatte. Eine Hecke hinter dem Zaun hielt allzu neugierige Blicke ab.

Franka blätterte in ihren Unterlagen, als das Telefon in der Konsole vibrierte. Am anderen Ende der Leitung war Mellinghaus. Er hatte Neuigkeiten.

»Ein ziemlich windiger Hund, der immer an der Grenze der Legalität unterwegs ist«, eröffnete Mellinghaus das Gespräch. »Er hat in der Vergangenheit schon oft mit Immobilien spekuliert und die Häuser fallen lassen, sobald er die Subventionen eingestrichen hatte.«

»Hängen da nicht Auflagen dran? Ich meine, es kann doch nicht jeder, der einen Kredit von seiner Bank bekommt, ein altes Gebäude erwerben, staatliche Gelder kassieren und das Haus dann fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.«

»Hast du eine Ahnung, was da alles im Argen liegt?« Mellinghaus lachte trocken auf. »Es gibt immer wieder Gesetzeslücken, die Typen wie dieser Baumann auszunutzen wissen, glaub mir.«

»Ist er straf- oder zivilrechtlich aktenkundig?«

»Nur wegen zu schnellen Fahrens. Er scheint seine Rechte ganz gut zu kennen und weiß, wie weit er gehen darf. Trotzdem hatte er schon zig Klagen laufen. Von ehemaligen Mietern und Geschäftspartnern, die sich von ihm betrogen fühlten. Aber Baumann hat wohl einen fähigen Anwalt, der ihn aus allem heraus boxt. Den Gerüchten nach heißt es, dass er die Mieter, die ihre vier Wände nicht verlassen wollen, auf die harte Tour entfernen lässt.«

»Was soll das heißen?«

»Na ja, er schickt ein paar schwere Jungs vorbei, die die Wohnung in Kleinholz verwandeln und den Mietern so nahe legen, sich doch schnell nach einer anderen Bleibe umzusehen. Nachweisen konnte man ihm aber bislang trotzdem nichts.«

»Na prima. Da haben wir uns ja einen tollen Gegenspieler ausgesucht«, seufzte Franka. »Egal, wir sind jetzt da und werden ihm mal ein paar unbequeme Fragen stellen.«