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11.20 Uhr

Das Haus der Familie Ziegler lag am Ende einer Sackgasse in Wuppertal-Ronsdorf. Einst war es in den Siebzigerjahren als Flachdach-Bungalow gebaut worden und sicherlich der ganze Stolz seiner Besitzer gewesen. Hinter einem kleinen Vorgarten führte eine Treppe hinauf zum Eingang, der unter einem kleinen Vordach lag. Nichts Besonderes, aber immerhin sehr sauber, stellte Franka fest, als sie das Haus betrachtete. In der Einfahrt parkte ein Skoda Oktavia.

Sie klingelte. Drinnen schlug ein Hund an, der aber schnell von einer Frauenstimme beruhigt wurde. Nach einer knappen Minute öffnete sich die Haustür, und eine Frau Anfang dreißig blickte die Besucher fragend an. Sie war blond, trug die Haare aber kürzer, als es Mandy getan hatte. Zu einem modischen Strickpulli hatte sie eng anliegende Jeans und Hausschuhe an. Sie betrachtete die Besucher mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.

Die Ähnlichkeit mit ihrer Schwester war nicht zu übersehen. Die Frau war ungewöhnlich blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen, die auch das Make-up nicht zu retuschieren vermochte. Ihre blauen Augen wirkten irgendwie … verheult.

»Ja bitte?«

»Frau Ziegler? Mein Name ist Hahne von der Kripo Wuppertal, das ist mein Kollege, Herr Stüttgen.« Franka lächelte freundlich. »Dürfen wir vielleicht kurz reinkommen?« Sie zeigte der Frau ihren Dienstausweis, doch die warf keinen Blick darauf und bat die Besucher herein. Drinnen duftete es nach Mittagsessen. Schweigend führte sie Franka und Micha in die Küche. Sie setzten sich. Auf dem Herd standen Töpfe. »Es ist eine schwere Zeit«, sagte Frau Ziegler. Ihre Augen schimmerten feucht. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Sie wirkte völlig übernächtigt.

»Unser herzliches Beileid«, murmelte Micha. Dann wusste sie also schon vom Tod ihrer Schwester, dachte er erleichtert.

»Jetzt beginnen die ganzen Formalitäten, ich habe so was noch nie gemacht.«

»Wie geht es Ihnen?« Franka hatte die fahrigen Bewegungen der Frau bemerkt. Ihre feingliedrigen Hände zitterten, die Mundwinkel zuckten und im Augenwinkel konnte sie einen Nerv zucken sehen. Petra Ziegler war extrem blass, und sie wirkte krank.

»Ich schlafe schlecht, seit einigen Wochen schon. Vermutlich liegt es daran, dass ich meine Arbeit verloren habe. Jetzt bin ich sozusagen eine Fulltime-Hausfrau und Mutter zweier Kinder. Mein Körper hat sich noch nicht an die Umstellung gewöhnt.« Sie lächelte. »Aber da muss ich durch, Einzelschicksal.«

»Sie sollten einen Arzt konsultieren.«

»Das habe ich längst getan. Dr. Jürgens rät mir, die Ernährung umzustellen. Und er hat mir ein Schlafmittel verschrieben, das ich nachher abholen muss.«

Franka und Micha beobachteten die junge Frau, die sich ums Essen kümmerte. »Die Kinder kommen gleich aus der Schule, und dann erwartet sie bereits das fertige Essen«, murmelte sie. »Sie mögen das.« Jetzt spielte der Ansatz eines Lächelns um ihre Lippen. Es war offensichtlich, dass sie sich in den Alltag flüchtete und den Gedanken an ihre ermordete Schwester auszublenden versuchte.

Dann drehte sie sich um und lehnte sich an die Arbeitsplatte. »Aber deswegen sind Sie sicherlich nicht hier«, murmelte sie. »Wahrscheinlich kommen Sie wegen meiner Schwester.«

Micha nickte schweigend.

»Gibt es neue Erkenntnisse? Haben Sie das Schwein?« Solche Worte hatten Franka und Micha von der brav wirkenden Frau nicht erwartet, doch in Anbetracht der Situation konnten sie die Wut von Petra Ziegler nachvollziehen.

»Wir haben erste Hinweise, und vorsichtig ausgedrückt auch erste Verdachtsmomente, suchen aber derzeit nach den Beweisen, um dann weitere Schritte einzuleiten«, antwortete Franka ein wenig ausweichend. »Wir sind eigentlich hier, um Sie zu Ihrer Schwester zu befragen. Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen? Und was für ein Mensch war Mandy?«

Tränen sammelten sich in Petra Zieglers blauen Augen. Sie wandte sich um und wendete das Fleisch in der Pfanne, bevor sie sich wieder den Beamten widmete. »Mandy war zuhause bei unseren Eltern immer das Nesthäkchen, und ich war manchmal eifersüchtig auf meine kleine Schwester. Zu mir waren unsere Eltern immer viel strenger, Mandy hatte mehr Freiheiten. Und die hat sie dann, später, auch ausgenutzt.«

»Inwiefern?«

»Sie traf sich schon mit Jungs, als sie zwölf war. Ich glaube, ihren ersten richtigen Freund hatte sie mit dreizehn, wenn Sie verstehen was ich meine?«

»Sie war dreizehn, als sie das erste Mal mit einem Jungen geschlafen hat?«, half Franka ihr weiter. Petra Ziegler nickte. Ihr Blick glitt ins Leere. Sie weinte lautlos, zupfte sich ein Taschentuch aus der Hosentasche und schnäuzte sich die Nase. Nachdem sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte, fuhr sie fort. »Sie hat die Jungs nie ernst genommen, hat die Freunde gewechselt wie andere Leute die Unterwäsche. Es war ihr wichtiger, mit Jungs herumzumachen, als eine anständige Lehre zu machen.«

»Und Ihre Eltern? Haben sie das Verhalten von Mandy gebilligt?«

»Natürlich nicht. Mein Vater war Polizei-Beamter im Streifendienst. Und meine Mutter war Vorarbeiterin in einer Fabrik. Sie waren vorbildliche Bürger - nach damaligen Maßstäben jedenfalls. Dass Mandy so aus der Art schlug, war ihnen ein Dorn im Auge. Doch sie scherte sich einen Dreck um die Ansichten unserer Eltern. Es sei ihr Leben, hat sie immer gesagt, wenn Mutter sie auf ihr Verhalten angesprochen hat.«

»Und dann war es aus mit dem Familienfrieden?«, vermutete Micha und streckte die Füße unter dem Küchentisch aus.         

»Allerdings. Unsere Eltern stritten immer öfters mit Mandy und mussten machtlos zusehen, wie ihnen die Zügel entglitten. Je älter Mandy wurde, umso geringer wurde der Einfluss, den sie auf ihr ehemaliges Nesthäkchen ausüben konnten. Mandy ging unbeirrt ihren Weg. Sie schmiss eine Lehre als Apothekenhelferin und nahm einen Aushilfsjob nach dem anderen an. Dass sie an ihrem achtzehnten Geburtstag von zuhause auszog, war nur konsequent.«

»Und wie kamen Sie mit der leichtlebigen Art Ihrer Schwester klar?«

»Es war ihr Leben, und ich hatte es lange schon aufgegeben, den Moralapostel raushängen zu lassen«, lächelte Petra Ziegler und verschränkte die Arme vor der Brust. »Als ich achtzehn war, lernte ich Max kennen. Wir heirateten noch im selben Jahr, und zwei Jahre später wurde ich zum ersten Mal schwanger. Max hat einen gut bezahlten Job, also zögerten wir nicht, das Haus zu kaufen. Natürlich war das Mandy alles viel zu spießig. Sie war nicht gern hier zu Besuch, und wenn überhaupt, dann trafen wir uns irgendwo in einem Cafe oder Restaurant, um zu reden. Irgendwann erzählte sie mir von Thomas. Mit ihm sei alles anders, und er sei der Mann ihrer Träume. Und ich muss ehrlich sagen: So glücklich und verliebt hatte ich meine Schwester noch nie zuvor im Leben gesehen.« Ein versonnenes Lächeln lag auf Petra Zieglers Gesicht. Sie rührte in den Töpfen. »Doch das Glück hielt nicht lange an. Bald schon betrog sie Thomas. Er ahnte nichts davon, und ich habe mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, ihm reinen Wein über meine Schwester einzuschenken.«

»Haben Sie ihm etwas von den Seitensprüngen erzählt?«

»Nein, ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht. Er war doch viel zu gutmütig. Er liebte Mandy über alles, und es hätte ihm sicherlich das Herz gebrochen, wenn er gewusst hätte, was seine süße Prinzessin, wie er sie immer genannt hatte, eigentlich trieb, wenn sie nicht zusammen waren.«

»Er war sehr eifersüchtig.« Obwohl es eine Frage sein sollte, klang es eher wie eine Feststellung.

»Oh ja, allerdings«, nickte Petra Ziegler. »Er lebte für Mandy, und er verlangte das Gleiche von ihr. Sie hat ihm allerdings nie das zurückgegeben, was er ihr bot. Wie gesagt, ich hatte auch Probleme mit Mandys Lebenseinstellung. Für sie waren die Männer nichts als ein Zeitvertreib. Und ich bin sicher, dass sie auch mit Thomas nicht alt geworden wäre. Der Mann, mit dem sie den Rest des Lebens verbringen würde, war noch nicht geboren.«

»Das klingt, als wären die beiden trotzdem seit einer Ewigkeit zusammen gewesen«, bemerkte Micha und streckte die Beine von sich.

Petra Ziegler lächelte. »Es kam einem wirklich so vor, und wenn man nichts von Mandys Doppelleben wusste, dann hätte man denken können, die beiden seien das perfekte Paar gewesen. Aber ich schweife ab. Nein, sie waren seit rund vier Monaten zusammen. Länger nicht.«

»Sagt Ihnen der Name Clay etwas?«

»Clay… und weiter?«

»Das wissen wir leider auch nicht. Clay war der Fotograf, mit dem sie sich am letzten Abend verabredet hat. Wahrscheinlich war der Name nicht echt, aber das wissen wir nicht, deshalb gehen wir jeder Spur nach. Es ist durchaus denkbar, dass besagter Clay ihr Mörder ist. Vermutlich ist ihm auch der Mord an Thomas Belter zuzuschreiben.«

»Soweit ich weiß, kannte sie ihre Fotografen aus diversen Internet- Foren. Vermutlich hat dieser Clay einen Nickname benutzt, um seine wahre Identität zu verbergen.«

»Das vermuten wir auch. Manchmal nutzt man diesen Nickname auch im Sprachgebrauch, deshalb hatten wir gehofft, Sie würden einen gewissen Clay kennen.«

»Leider nicht, nein.«

Franka hatte genug gehört. Sie erhob sich.

Micha tat es ihr nach. »Vielen Dank, dass Sie uns Ihre Zeit geopfert haben.«

»Keine Ursache, wenn ich dazu beitragen kann, dass man dieses verdammte Dreckschwein hinter Schloss und Riegel bringt.« Petra Ziegler schüttelte wütend die Fäuste und brachte die Beamten zur Tür. Dort angekommen, zog Franka ihre Karte hervor und überreichte sie der Frau. »Falls Ihnen noch etwas einfallt, scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen. Natürlich werden Ihre Hinweise streng vertraulich behandelt.«

»Ist gut.«

Dann waren die Kommissare draußen. Graue Wolken hatten sich vor die Wintersonne geschoben. Die ländliche Gegend wirkte plötzlich kalt und abweisend. Franka fröstelte. Schweigend stapften sie nebeneinanderher zum Wagen.

»Und?«, fragte Micha, als sie im Auto saßen. »Was denkst du über Petra Ziegler?«

»Fest steht, dass sie die Lebensweise ihrer Schwester sehr kritisch betrachtet hat. Und fest steht auch, dass sie von den schnell wechselnden Männerbekanntschaften ihrer Schwester wusste. Dennoch hat sie dicht gehalten und ihre Schwester nicht bei Belter angeschissen.«

»Blut ist dicker als Wasser«, zitierte Micha eine alte Lebensweisheit.

»Und sie waren Schwestern, da petzt man nicht.

»Ich frage mich, ob Petra Ziegler auch davon wusste, dass ihre Schwester eine Prostituierte war.«

»Wohl kaum. So etwas passt gar nicht in ihr geordnetes Leben, Franka. Ich könnte mir vorstellen, dass sie die Freier ihrer Schwester einfach für ständig wechselnde Liebhaber hielt. Petra Ziegler ist vielleicht einfach zu brav - oder zu naiv, um zu denken, dass ihre werte Schwester eine Hure war.«

»Ich denke, Mandy Klimmek war wirklich nymphoman veranlagt. Um ihren Trieb auszuleben, hat sie nebenbei angeschafft und diese Nacktfotos gemacht. Trotzdem steht die Frage im Raum, was sie mit dem Geld getan hat, das sie damit eingenommen hat.«

»Wir müssen noch mal nachforschen, möglicherweise hatte sie ein Konto im Ausland. Irgendwo muss die Kohle ja geblieben sein.«

»Wir sollten uns diesen Freund von Thomas Belter zur Brust nehmen, diesen seltsamen Bernd Wiesinger. Vielleicht weiß er mehr.«

Micha hatte keine Einwände. Er trat das Gaspedal des Dienstwagens tiefer durch.

Es gab viel zu tun.