15.05 Uhr
»Entschuldige, ich weiß, ich bin zu spät.« Rebecca wirkte gehetzt, als sie in den Laden stürmte. Ihre Wangen waren rot von der draußen herrschenden Kälte, und ihr Atem ging rasselnd. »Ich hatte ein Problem, und mein Mann war nicht da, als …« Der Duft von Seife und Waschmitteln hing schwer in der Luft, und sekundenlang wurde sie von dem gleißenden Neonlicht der Deckenbeleuchtung geblendet.
»Schon gut, schon gut, krieg dich wieder ein.« Die untersetzte Endfünfzigerin, die mit verschränkten Armen tatenlos hinter der Kasse des kleinen Drogeriemarktes hockte, winkte mit einem mütterlichen Lächeln auf den Lippen ab. »Auf mich wartet doch keiner zuhause.« Sie öffnete die Tür des Kassenstandes und schälte sich schwerfällig aus dem Stuhl. Im Laden herrschte so gut wie kein Betrieb, und Gisela hatte Frühschicht geschoben. Sie wechselte sich mit Rebecca ab, arbeitete auf Vierhundert-Euro-Basis. Der Leiter der Drogeriemarktkette setzte in letzter Zeit vermehrt auf die so genannten Minijobs, da er so geschickt um die Abgabe der Sozialleistungen herumkam. Rebecca war froh, als Vollzeitkraft bezahlt zu werden, denn damit hatte sie das Los gezogen, zumindest gesetzlich versichert zu sein.
»Bist du alleine?« Rebecca blickte durch die Gänge des Marktes. Im hinteren Teil war eine Mutter damit beschäftigt, die Angebote von Klopapier und Haushaltsrollen zu vergleichen. In der Sitzvorrichtung des Einkaufswagens saß ein kleines Kind, das sich neugierig zu Rebecca umblickte.
»Nee, unser Detektiv ist auch gerade gekommen.« Gisela winkte ab. »Er hockt schon hinten im Büro und guckt Fernsehen.« Sie deutete mit dem Kinn auf die kleinen Überwachungskameras, die an verschiedenen Orten im Laden befestigt waren. Da sich die Ladendiebstähle in der letzten Zeit gehäuft hatten, hatte sich der Bezirksleiter dazu entschlossen, einen Ladendetektiv zu engagieren. »Aber wenn der erst nachmittags hier auftaucht, bringt das nichts, wenn du mich fragst.«
»Die Herren in der Geschäftsleitung wissen schon, was sie tun«, erwiderte Rebecca. »Ich geh schnell nach hinten und zieh mich um, dann bin ich da, und du kannst nach Hause.«
»Mach ruhig, Mädchen. Wie gesagt, ich habe alle Zeit der Welt.« Gisela lächelte gutmütig und zog im Regal für Kindernahrung die Ware vor. »Ich halte hier die Stellung, bis du soweit bist.«
»Danke.« Rebecca eilte durch die Gänge in den hinteren Teil des Ladens, wo sich das Büro und der Pausenraum für die Angestellten befanden. Als sie die Tür mit der Aufschrift »Zutritt nur für Personal« passiert hatte, blickte sie in zwei erschrockene Augen.
»Haben Sie mich nicht über die Videoüberwachung kommen sehen?«, fragte Rebecca und deutete auf die vier kleinen Schwarzweißmonitore, die der Ladendetektiv auf einem Brett über dem Schreibtisch aufgestellt hatte. Die Bildschirme zeigten verschiedene Gänge des kleinen Marktes. »Doch, schon«, murmelte der Detektiv nun. »Aber ich … nun … ich war abgelenkt, weil das Telefon geklingelt hat.«
»Na, Sie sind mir ja ein Detektiv.« Rebecca schmunzelte und verschwand im angrenzenden Pausenraum. Den Ladendetektiv konnte sie nicht zuordnen. Der Bezirksleiter wechselte diese Leute oft aus, und es kam selten vor, dass der gleiche Detektiv zweimal die gleiche Filiale überwachte.
Im Pausenraum gab es drei Blechspinde, in denen die Angestellten ihre persönlichen Dinge unter Verschluss aufbewahren konnten. Sie zog die Jacke aus und hing sie an den Haken, um sich den weißen Kittel, der frisch gewaschen und gebügelt für sie bereit hing, überzustreifen. Nachdem sie ihr Aussehen im Spiegel überprüft hatte, war sie einsatzbereit. Ein letztes Mal dachte sie an die aufregende letzte Stunde. Roland war zur Arbeit gewesen, als sie sich im Chat mit dem geheimnisvollen Unbekannten getroffen hatte. Sie hatte dem geheimnisvollen Unbekannten eröffnet, dass ihr Mann überhaupt nicht sehr begeistert davon war, dass sie sich im Internet einem wildfremden Menschen anvertraute. Doch dieser Fremde fühlte wie sie, er dachte wie sie. Bald schon würde er sich mit ihr treffen.
Sie solle sich von ihrem Ehemann nicht unterkriegen lassen, hatte er ihr empfohlen. Seine Eifersucht sei kindisch und entbehre jeder Grundlage.
Er würde sie mitnehmen zu einem Treffen von Gleichgesinnten. Für ihn war es keine Frage, dass Vampire nicht nur in Büchern und Filmen existierten. Er war der Ansicht, dass Vampire zum wirklichen Leben gehörten und eine kleine Gruppe am Rande der Gesellschaft wären. Keine Untoten. Keine Monster. Das wiederum hatte Rebecca zum Anlass genommen, um sich über ihre eigenen Empfindungen Gedanken zu machen. Sie selber hatte in der Vergangenheit schon öfters bemerkt, dass sie die Hälse ihrer Mitmenschen magisch anzogen, dass der Gedanke an leidenschaftliche Bisse sie in einen eigenartigen Taumel versetzten. Mehrmals hatte sie sich schon gefragt, ob sie vielleicht nicht ganz normal sei.
Der Fremde hatte ihr gesagt, dass es nicht anstößig sei, sich nach dem Blut der Mitmenschen zu sehnen. Ihm erginge es ähnlich, und da würden sie nicht alleine stehen, nur, dass sich in den seltensten Fällen Menschen mit ihren wahren Sehnsüchten auseinandersetzen würden. Der Gedanke daran jagte Rebecca auch jetzt, Stunden nach dem Gespräch, einen Schauer über den Rücken. Doch so sehr sie sich vor dem Fremden fürchtete, so sehr faszinierte sie auch seine geheimnisvolle Art. Sie konnte es kaum erwarten, ihn einmal persönlich kennen zu lernen.
Nur Roland durfte um Himmels Willen nichts davon erfahren, dass sie sich mit diesem Mann traf Er würde rasen vor Eifersucht. Sie war froh, dass er nach seinem Wutausbruch überhaupt wieder zurück gekommen war.
Mit einem Knall schlug Rebecca nun die eiserne Tür des Spindes zu und ließ das Vorhängeschloss einrasten. Jetzt war sie in der Realität angekommen. Zeit, Clay zu vergessen.