19.20 Uhr
Planlos fuhr er durch die Dunkelheit, starrte mit geröteten Augen in die Schneeflocken, die vor der Motorhaube seines Astra Kombi einen wilden Tanz aufführten. Er hatte sich dafür entschieden, die Stadt über die viel befahrene Gathe und die Uellendahler Straße zu verlassen, die nach Norden führte. Einen Augenblick lang hatte er ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, sich in den vorweihnachtlichen Trubel der Elberfelder Innenstadt zu stürzen. Doch allein die Vorstellung, stundenlang für einen Parkplatz anzustehen, hatte den Gedanken zu einer Horrorvorstellung reifen lassen. Beim Autofahren konnte er sich am besten ablenken. Die letzte Tankstelle hatte rechts vor einem Kreisverkehr gelegen. Die Lichter waren aus, der Tankwart hatte es vorgezogen, seinen Feierabend gemütlich zu Hause zu verbringen.
Er ärgerte sich, denn die Tanknadel näherte sich bedenklich dem roten Bereich.
Also weiter und hoffen, dass er eine Tankstelle fand, die noch nicht geschlossen hatte. Autobahntankstellen hatten Tag und Nacht geöffnet, und die Straße verlief parallel zur A 46. Wenn er den Kopf nach rechts wandte, konnte er dort immer die Lichter der entgegenkommenden Fahrzeuge in der Dunkelheit ausmachen. Als er das blaue Hinweisschild sah, setzte er den Blinker und nahm die nächste Autobahnauffahrt. Nachdem er die langgezogene Kurve vorsichtig passiert hatte, stellte er erleichtert fest, dass der Winterdienst in den Schneematsch der rechten Fahrspur bereits eine Schneise geschoben hatte. So ordnete er sich hinter einem LKW mit polnischem Kennzeichen ein und zuckelte mit knapp siebzig Stundenkilometern hinter dem Sattelzug her, dessen Aufbau vor dem Opel wie eine Mauer in den Himmel zu ragen schien. Schnee pladderte von der Plane des Aufliegers und klatschte gegen den Wagen. Er fluchte wild und vergrößerte den Abstand.
Nach ein paar Minuten kreisten seine Gedanken wieder um Mandy. Auf den letzten Kilometern hatte er mehrmals den Plan gefasst, einfach umzudrehen, um sie aus der Wohnung dieses seltsamen Fotografen zu holen, sie einfach von diesem notgeilen Bock wegzubekommen. Thomas Belter bezweifelte keine Sekunde, dass dieser Kerl alles andere als seriös war. Wer sein Model nach Einbruch der Dunkelheit bis tief in den Abend hinein zu einem Shooting in eine offenbar leerstehende Fabrik in der dunkelsten Gegend von Wuppertal bestellte, war alles andere als normal.
Warum hatte sie nicht auf ihn gehört?
Er hasste ihren Trotz, wurde jedes Mal wütend, wenn sie ihm leichtfertig blinde Eifersucht unterstellte, sobald er sich um sie sorgte. Natürlich passte es ihm nicht, wenn sie sich vor den Augen eines anderen Mannes auszog, um für ihn zu posieren. Natürlich schnürte sich ihm die Kehle zu, wenn er daran dachte, dass seine Freundin anderen Kerlen als Wichsvorlage diente.
Er liebte sie. Und er wollte sie nicht mit fremden Typen teilen.
Auch der Vorwand, es seien doch nur Fotos, stimmte ihn nicht milde. Es waren aufreizende Posen, Posen, die bei Männern die Phantasie anregten.
Natürlich, sie verkaufte nicht ihren Körper.
Doch, schrie alles in ihm. Natürlich verkaufte sie ihren Körper. Nein, natürlich war sie keine Nutte, natürlich trieb sie es nicht mit allen Männern, die sie nackt sehen konnten. Aber allein der Gedanke, dass die Burschen, die sie so sehen konnten, sich an seiner Freundin aufgeilten, allein dieser Gedanke kotzte ihn an.
Diesmal war es anders. Er hatte einfach nur Angst um Mandy. Er wusste, dass mit diesem seltsamen Fotografen etwas nicht stimmte. Das dumpfe Gefühl tief in ihm hatte nichts mit Eifersucht zu tun. Es war die Sorge, dass dieser Typ ihr etwas antun könnte. Immerhin war sie allein mit ihm in seiner Wohnung, die in einem zwielichtigen Viertel der Stadt lag. Selbst wenn sie schrie, niemand würde sich um ihr Geschrei kümmern, soviel stand für ihn fest. Die Gegend, in der er sie abgeliefert hatte, wurde von Kriminalität und organisiertem Verbrechen beherrscht. Kleinkriege, Schlägereien und Schreie waren alltäglich in diesem Viertel. Bei dem Gedanken daran, dass ihr dort etwas zustoßen konnte, schnürte sich ihm die Kehle zu.
Das Viertel, beherrscht von unzähligen verschiedenen Kulturen und von Arbeitslosigkeit, war ein Schmelztiegel des Verbrechens. Vermutlich würde es nicht einmal auffallen, wenn er sich an ihr verging und sie um Hilfe rief. Der Kerl hatte freie Bahn.
Diese Gedanken quälten ihn. Was sie jetzt gerade wohl tat? Sicherlich räkelte sie sich nackt vor seiner Linse, vielleicht spreizte sie sogar die Beine und zeigte diesem Heini das, was nur ihm gehören sollte. Es gab Männer, die es anmachte, wenn andere Kerle ihre Frauen nackt sehen konnten. Alle durften sie ansehen, aber nur sie allein durften mit ihnen vögeln. Der Gedanke daran machte diese Männer scharf.
So war er nicht.
Er liebte Mandy, und er wollte sie für sich allein. Wäre es anders gewesen, hätte er ihr ihren Wunsch, sie in den Swingerclub zu begleiten, nicht abgeschlagen. Er wollte sie nicht teilen müssen. Sie hatte ihm beigepflichtet. Natürlich wollte sie ihm allein gehören, natürlich verstand sie seine Eifersucht.
Warum, verdammt noch mal, hatte sie sich dann heute Nacht anders verhalten? Er verstand sie manchmal einfach nicht. Wütend hieb er auf den Lenkradkranz und zerquetschte einen Fluch zwischen den Lippen. Die Frau, die er seit vier Monaten über alles liebte, war eine Exhibitionistin. Er liebte es, wenn eine Frau ihm alle sexuellen Wünsche erfüllte und auch selbst gern die Initiative ergriff. Nie zuvor hatte er eine leidenschaftlichere Liebhaberin kennen gelernt.
An allen erdenklichen Orten hatten sie es getrieben. In der Umkleidekabine eines Modehauses, in einem Kölner Kaufhaus, in der Toilette ihrer Lieblingsbar in der Düsseldorfer Altstadt, im Auto, draußen auf dem Messegelände in Essen, in einer der letzten lauen Sommernächte am Ufer des Baldeneysees. Er war süchtig nach ihr, und dennoch bezweifelte er in diesem Augenblick, ob Mandys offener Umgang mit Sex ihrer Partnerschaft wirklich gut tat. Tom verfing sich in seinen Gedanken. Immer wieder spielte er mit der Idee, einfach den Wagen zu wenden, zurück in die Stadt zu fahren und sie aus den Klauen dieses verrückten Fotografen zu befreien. Doch etwas hinderte ihn daran. Längst schon waren die Hinweisschilder auf Düsseldorf an ihm vorüber geflogen. Einzelne, spärlich beleuchtete Häuser schälten sich als letzte Zeichen der Zivilisation in immer größer werdenden Abständen aus der Dunkelheit. Ansonsten nur Schnee und diese trübe Einsamkeit, die ihn wahnsinnig machte.
Frustriert starrte er auf die Rücklichter des polnischen Lasters vor ihm. Es wurde Zeit für einen Tankstopp. Inzwischen war die Nadel der Tankanzeige tief im roten Bereich gelandet. Nervös klopfte er gegen das Glas, so, als könnte er damit bewirken, dass sich die Nadel noch einmal bewegte.
Er sehnte sich nach Licht, nach Wärme, nach Menschen. Er fragte sich, ob es in dieser Einöde keine Tankstelle gab, die Tag und Nacht geöffnet hatte, und fuhr weiter in die Dunkelheit hinein.
Irgendwo würde er anhalten und einen Kaffee trinken. Vielleicht würde er in der Gesellschaft von Menschen auf andere Gedanken kommen. Als er auf die Tanknadel im Armaturenbrett schielte, stellte er fest, dass der Zeiger jetzt bereits am Rand des roten Bereiches kratzte. Nun wird es aber höchste Zeit, dachte er. Der Schneefall wurde dichter. Ein verdammtes Scheißwetter, er war hundemüde, musste morgen früh zur Arbeit, und seine Freundin zeigte sich einem wildfremden Kerl nackt. Was war das bloß für eine Scheiße?