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20.10 Uhr

Wenn es in Wuppertal schneite, dann blieb die weiße Pracht meist nicht lange liegen. So war es auch heute. Nach dem erneuten Wintereinbruch am Morgen war die Temperatur gestiegen und hatte den Neuschnee, der in der Nacht gefallen war, in eine nasse Pampe verwandelt.

Die Straße Deutscher Ring verlief an dieser Stelle fast parallel zur Autobahn 46 in Richtung Westen. In dem kleinen Industriegebiet im Wuppertaler Ortsteil Varresbeck herrschte kaum Verkehr um diese Uhrzeit, und Baumann hatte diesen Termin bewusst an das Ende seines Tagespensums gelegt.         

Ein seltsames Treffen zwischen ihm und einem geheimnisvollen Interessenten. Baumann fragte sich nicht, woher der potenzielle Käufer an seine Nummer gekommen war - für ihn zählten nur die Ergebnisse. Der Mann arbeitete für einen tschechischen Konzern und war von seinem Kunden beauftragt worden, das Industriegelände zu begutachten, und, sollte es den Anforderungen der Tschechen genügen, auch zu erwerben. Die Leute, die hinter dem Geschäft standen, interessierten Klaus Baumann nicht im geringsten, er war froh, wenn er das Objekt endlich los wurde. Für die alte, baufällige Fabrik interessierte sich schon seit Jahren niemand mehr. Der Boden war schadstoffbelastet und müsste mit viel Aufwand abgetragen werden. Eine kostspielige Angelegenheit, die viele potenzielle Kunden davon abgehalten hatte, das Gelände zwischen Varresbeck und Sonnborn zu kaufen. Die Fabrik war ein Fall für die Abrissbirne. Die Zufahrt zum Gelände lag in einer kleinen verlassenen Seitenstraße. Während Baumann das Tempo seines Mercedes drosselte und die schwere Limousine auf das unbefestigte Grundstück steuerte, fragte er sich, welcher Idiot sich für dieses Areal interessieren konnte. Zwischen dem brüchigen Asphalt war Unkraut durchgekommen, und tiefe Schlaglöcher säumten den Weg zum Fabrikgelände. Glaslose Fenster wirkten wie die leblosen Augenhöhlen eines Ungetüms. Graffitis bedeckten die Backsteinfassade, und eine nur angelehnte Eisentür schwang im Wind und erzeugte ein unheimliches Quietschen.

Wahrscheinlich trieben sich hier nach Einbruch der Dunkelheit Jugendliche herum, um ihrem Alkohol- und Drogenkonsum zu frönen.

Ihm war es egal, zerstören konnten sie ja nicht mehr viel.

Baumann schaltete den Motor ab und warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Er hatte sich um zehn Minuten verspätet. Dennoch hatte sein Geschäftspartner den Treffpunkt noch nicht erreicht, denn Baumann erblickte kein anderes Fahrzeug. Er entschloss sich, einige Minuten zu warten. Wenn er ein lukratives Geschäft witterte, konnte er sich durchaus gedulden. Baumann zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und wuchtete die Fahrertür auf. Ein eisiger Wind fegte ins Wageninnere. Längst schon hatte sich die Dunkelheit über dem Land ausgebreitet. Der Schnee schimmerte grau im herrschenden Zwielicht. Von der Straße fiel das Licht der Straßenlaternen auf den Firmenhof. Baumann stieg aus, verriegelte den Wagen und schlug den Kragen seines dicken Wintermantels hoch. Seine Schuhe waren im Nu durchnässt, und er fluchte ungestüm und war froh, dass ihm dabei niemand zuhören konnte. Klaus Baumann stapfte durch den Schnee hinüber zu den ehemaligen Bürogebäuden der alten Fabrik und schaltete seine Taschenlampe an. Auch hier waren die Scheiben der Fenster von Vandalen eingeschlagen worden.

Sie hatten sich in einem Büro ein Feuer gemacht und in die Ecke geschissen, stellte der Immobilienhai angewidert fest. Scherben knirschten unter jedem Schritt, den er tat. Baumann versenkte die linke Hand in der Tasche seines Mantels und betrat das Gebäude. In einer Ecke war Gerümpel aufgetürmt. Beißender Uringestank kroch in seine Nase, und er schüttelte angeekelt den Kopf. Vermutlich diente der alte Kasten Pennern als Unterschlupf bei diesem Sauwetter. Baumann hielt es hier nicht länger aus und trat wieder ins Freie. Nachdem er die feuchtkalte Winterluft tief in seine Lungen aufgesogen hatte, betrat er die Fabrikationshallen durch ein gähnendes Loch in der Mauer. Hier hatte sich einst ein Rolltor befunden. Die beklemmende Atmosphäre umfing ihn. Die Deckenkonstruktion war baufällig, und als er ein Geräusch hinter sich vernahm, blickte er sich um. Doch er war alleine hier, und so setzte er seinen Weg fort. Auch in der ehemaligen Produktionshalle lag überall Unrat. Irgendwelche Schweine hatten die Halle benutzt, um säckeweise Müll hier abzuladen. Es stank nach Fäulnis, und die Balken der Konstruktion machten einen maroden Eindruck.

Plötzlich begann seine Taschenlampe zu flackern. Verdammt, die Batterien. Sie erlosch schließlich ganz. Vorsichtig arbeitete er sich in Richtung Ausgang vor. Angewidert rümpfte er immer wieder die Nase, als er plötzlich eine Stimme hinter sich vernahm.

»Da sind Sie ja, Baumann.«

Er zuckte zusammen und wirbelte auf dem Absatz seiner italienischen Designerschuhe herum. Baumann sah eine hoch gewachsene Gestalt, die sich aus einer dunklen Nische schälte. Das Gesicht seines Gegenübers konnte er nicht erkennen, da es von der Dunkelheit verschluckt wurde. Die Gestalt trug einen langen schwarzen Mantel und einen ebenfalls schwarzen Hut mit breiter Krempe. Er wirkte wie ein Geist auf Baumann.

»Oh, habe ich Sie erschreckt?« Der Besucher lachte, und es klang spöttisch.

»Nein, haben Sie nicht.« Baumann gab seiner Stimme einen festen Klang. Von so einem Blödmann wollte er sich nicht ins Boxhorn jagen lassen. »Ich habe Ihren Wagen gar nicht gesehen und wusste nicht, dass Sie schon hier sind.«

»Ich bin zu Fuß.«

»Bei diesem Wetter?«

»Warum nicht?« Der Fremde trat näher. Den Kragen seines langen Mantels hatte er aufgestellt, die Hände in den Manteltaschen verborgen. Breitbeinig baute er sich vor Baumann auf. »Mir macht das Wetter nichts aus. Ich bin es gewohnt, bei Wind und Wetter an der frischen Luft zu sein.«

»Sie werden sich den Tod holen«, fürchtete Baumann.

»Und wenn schon. Ich habe keine Angst vor dem Tod.«

Baumann hatte den lauernden Unterton in der Stimme seines Gegenübers gehört. Eine Alarmglocke schlug tief in seinem Innersten an.

»Sie interessieren sich also für das Gelände?«, wollte Baumann zum geschäftlichen Teil überleiten. »Ich kann Ihnen einen guten Preis machen.«

»Das will ich hoffen. Immerhin muss die alte Fabrik dem Erdboden gleich gemacht und die im Boden vorhandenen Schadstoffe müsen abgetragen werden. Das wird ein Vermögen kosten.«

»Ich merke, Sie haben sich bereits informiert.«

»Das tue ich vor jedem Geschäft.«

»Sehr vernünftig. Haben Sie sich auch schon umgesehen?«

»Das wird nicht nötig sein.« Der Fremde zog eine Hand aus der Manteltasche. In seiner Faust schimmerte ein metallischer Gegenstand. Baumann blickte fassungslos in die Mündung einer Waffe, die nun auf ihn gerichtet war. Seine Kehle war von einer Sekunde zur anderen wie ausgedorrt. Er schluckte trocken und spürte, wie sein Herz ihm bis zum Hals klopfte. Er war sich darüber im Klaren, dass er hier draußen in dieser Einöde keine Chance hatte. Niemand würde ihm zu Hilfe kommen können, niemand würde den tödlichen Schuss hören. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, das Handy hervorzuziehen und die Polizei zu rufen. Doch auch das würde ihm nicht das Leben retten können.

»Was haben Sie vor?«, keuchte er heiser.

Sein Gegenüber lachte. »Können Sie sich das nicht denken, Herr Baumann?«

»Aber… warum?«

»Denken Sie nach, Mann. Sie sind zu einer Gefahr geworden. Die Polizei schnüffelt bei Ihnen herum. Glauben Sie ernsthaft, ich möchte etwas riskieren? Wenn Sie singen, ist es eine Frage der Zeit, bis die Bullen mich am Arsch haben. Nein, das möchte ich nicht riskieren.«

»Wer sind Sie, verdammt noch mal?«

»Das tut überhaupt nichts zur Sache. Es wird nicht wehtun, vertrauen Sie mir.« Der dunkel gekleidete Mann trat näher. Ein Lichtstrahl fiel durch eines der glaslosen Fabrikfenster und traf sein Gesicht. Jetzt wusste Baumann, mit wem er es zu tun hatte. Und er wusste, dass er das Spiel verloren hatte. Diesmal spielte sein Mann fürs Grobe sein eigenes Spiel. »Oh mein Gott«, kam es über seine Lippen. »Sie?«

»Ja, ich. Es musste ja eines Tages so kommen. Aber ich will es kurz machen, schließlich habe ich noch einiges vor heute Abend.« Die Hand, die die Waffe umklammert hielt, schnellte hoch. Baumann beobachtete starr vor Schreck, wie sich der Finger, der am Abzug lag, krümmte. Im nächsten Augenblick sah er das Mündungsfeuer in der Dunkelheit aufblitzen. Noch bevor er die Druckwelle des Schusses spürte, bohrte sich ein brennender Schmerz in seine Brust. Er wurde von der Wucht des Projektils zurückgeworfen und fühlte, wie seine Beine unter ihm nachgaben. Baumann fasste sich an die Brust und spürte etwas Warmes und Klebriges zwischen seinen Fingern - sein Blut. Blitze tanzten vor seinen Augen, dann fiel er nach hinten. Den harten Aufschlag spürte er bereits nicht mehr.

Klaus Baumann würde keine Geschäfte mehr machen.