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22.10 Uhr

»Kind, du siehst müde aus«, stellte Edith Hahne lächelnd fest. »Ich glaube, du arbeitest zu viel.« Die beiden Frauen saßen sich im spärlich beleuchteten Wohnzimmer von Frankas Mutter gegenüber. Sie lebte seit Ewigkeiten in dem Mehrfamilienhaus an der Eichenstraße. Franka war auf dem Rott groß geworden, und die oft verschlungenen und schwer einsehbaren Straßen, die für einen Fahrschüler ein Albtraum waren, kannte sie wie ihre Westentasche. Diese Wohnung hatten die Eltern bereits bewohnt, als Franka noch ein Kind gewesen war. Ihr ehemaliges Kinderzimmer gab es noch - allerdings war es inzwischen zum Bügelzimmer der Mutter umfunktioniert worden. Auch, wenn ihr die Wohnung nach Frankas Auszug und dem Tod des Vaters viel zu groß war, so wollte sie nicht ausziehen. Zu viele Erinnerungen hingen an diesen vier Wänden. Einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr, pflegte sie stets zu sagen, wenn ihr jemand aus dem Bekanntenkreis den Umzug in eine kleinere Wohnung ans Herz legte.

»Ich sehe nicht nur so aus - ich bin müde.« Franka nickte und knabberte Gebäck. Ihre Mutter hatte einen Tee aufgesetzt und Kerzen angezündet. Aus dem Radio tönte leise Musik - deutscher Schlager, denn Edith Hahne liebte Schlagermusik über alles.

»Ich arbeite an einem Fall um einen ziemlich brutalen Mord«, antwortete Franka und unterdrückte ein Gähnen. »Der Mörder hat sein Opfer erst missbraucht und dann zu Tode gebissen.«

Edith Hahne bekam große Augen. »Was, sag bloß, du arbeitest an dem Fall der Bestie?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Schrecklich so was. Manchmal mache ich mir wirklich Sorgen um dich, Kind.«

»Keine Angst, ich werde mich nicht beißen lassen«, lächelte Franka.

»Man muss sich immer wieder fragen, zu was Menschen eigentlich fähig sind«, ereiferte sich die alte Dame.

»Das muss ich mich leider jeden Tag fragen«, erwiderte Franka.

»Vielleicht solltest du dich lieber in den Innendienst versetzen lassen«, überlegte Edith Hahne und strich sich eine graue Strähne aus dem Gesicht. »Da wärst du in Sicherheit.«

»Nein, das ist absolut nicht mein Ding«, lachte Franka. »Acht Stunden am Tag als Schreibtischtäterin … ich muss raus, brauche den Kontakt zu den Menschen. Und sobald wir an einem neuen Fall arbeiten, packt mich das Jagdfieber. Ich würde es nicht im Büro aushalten, solange der Täter, den wir suchen, noch auf freiem Fuß ist. Eigentlich habe ich auch jetzt keine wirkliche Ruhe.«

Frankas Mutter zuckte die Schultern., Aber du besuchst deine Mutter trotzdem«, stellte sie lächelnd fest. »Und das freut mich.«

»Ich bin leider wirklich platt«, gab Franka zu. »Das Problem ist, dass ich ständig an der Lösung des Falls arbeite, zumindest geistig. Mein Körper sehnt sich nach Entspannung, aber mein Geist ist ständig wach und gönnt mir keine Erholung. Ich könnte jetzt auf der Stelle in mein Bett fallen, weil ich todmüde bin. Aber sobald ich liege, wälze ich mich von einer Seite auf die andere, finde keine Ruhe und starre die Zimmerdecke an. Das ist mein Problem. So richtig ausruhen kann ich erst, wenn der Fall abgeschlossen ist.«

»Vielleicht solltest du Schlaftabletten nehmen.«

»Dann bin ich innerhalb weniger Tage süchtig«, lachte Franka und schüttelte den Kopf. »Es ist halt so, da muss ich durch. Von einem Achtstundentag muss ich wohl auch noch weiter träumen.«

»So wirst du niemals einen Mann finden, Kind. Oder gibt es schon jemanden in deinem Leben, und du verheimlichst ihn mir?« Edith Hahne zwinkerte ihrer Tochter verschwörerisch zu.

Mit ihrer Mutter verband Franka ein gutes, freundschaftliches Verhältnis, das nach dem Tod des Vaters noch mehr gewachsen war. Die beiden Frauen hatten keine Geheimnisse voreinander. Franka überlegte, ob sie ihr von Bernd Krüger erzählen sollte, doch sie entschied sich dagegen. Vermutlich hatte ihre Mutter moralische Bedenken dagegen, dass sie Interesse an einem - noch - verheirateten Mann bekundete. So etwas gehörte sich einfach nicht. Basta.

Franka hatte sich ja auch vorgenommen, mit Krüger nichts anzufangen, solange er noch verheiratet war. Was wäre, wenn er sich wirklich von seiner Frau trennte? Würde sie dann ihre Nachfolge antreten? Sie wusste es nicht. Noch nicht. Und Franka nahm sich vor, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. »Nein, leider gibt es keinen Mann - noch nicht.«

»Und was ist mit deinem Partner?«

»Du meinst Micha? Er ist herzensgut, ein treuer Schluffen und gibt für wahre Freunde sein letztes Hemd.«

»Dann hol ihn dir, Kind!«

Franka lachte und winkte ab. »Nein, danke. Seine Ex-Frau lebt noch in Köln, und seit ihrer Scheidung verstehen sich die beiden besser, als zu jener Zeit, da sie noch verheiratet waren. Sie besuchen sich regelmäßig. Nein, ich glaube, damit hätte ich ein Problem, Mutti.«

»Das ist schade, wo ihr euch doch so gut versteht.«

»Er wird mir schon noch begegnen, der Mann meiner Träume«, lächelte Franka und gähnte nun doch. »Es ist spät geworden, und der Tag morgen wird wieder hart.«

»Dann versuch dich auszuruhen, Kind. Ich werde auch gleich ins Bett gehen. Morgen gehe ich zum Friedhof und bringe Papa neue Blumen aufs Grab.«

Franka leerte ihre Tasse und erhob sich. »Ruf an, wenn ich Zeit habe, komme ich mit.«

»Gern.« Edith begleitete ihre Tochter zur Türe.

Franka schlüpfte in ihre dicke Winterjacke und legte den Wollschal um. »Danke für den Tee.«

»Danke, dass du dir Zeit für deine alte Mutter genommen hast.«

Franka drückte sie. Die beiden verabredeten sich für den nächsten Tag, dann war die Kommissarin draußen. Als sie sich zur Wohnung der Mutter umblickte, stand die alte Dame am Fenster und winkte ihr nach, bis sie hinter der nächsten Straßenecke verschwunden war. Es war wieder um ein paar Grad kälter geworden. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Ihre Wohnung lag nur zwei Straßen weiter, und sie nutzte den kurzen Fußweg durch die Nacht, um noch etwas frische Luft zu bekommen. Verlassen lag die Eichenstraße da. Die Autos, die noch unterwegs waren, fuhren recht langsam. Franka vermutete, dass die Fahrbahn glatt war und war froh, dass sie den kurzen Weg zur Tunnelstraße, wo ihre Wohnung lag, zu Fuß zurücklegen konnte.

Während sie durch die Kälte stapfte, hing sie ihren Gedanken nach. Und diesmal gelang es ihr sogar, nicht an den Fall zu denken. Als sie an den Fassaden der umliegenden Häuser emporblickte, atmete sie tief durch. Dies war ihre Heimat, hier war sie aufgewachsen und es schien sich während ihrer Zeit in Berlin nichts verändert zu haben. Sie liebte ihre Heimatstadt und war froh, wieder hier arbeiten zu können. Berlin war ihr zu hektisch und zu groß gewesen, da liebte sie den Charme ihrer Heimatstadt, die sich gern als bergische Metropole verstand und doch so dörflich war. In Berlin war sie von Freunden und Kollegen immer wieder auf das Wahrzeichen der Stadt, die Schwebebahn, angesprochen worden, und Franka hatte lächelnd berichtet, dass Wuppertal noch viel mehr zu bieten hatte als dieses einzigartige Verkehrsmittel. Sie nahm sich vor, in den nächsten Tagen einmal in den Zoo zu gehen, der im Sommer Gäste von nah und fern lockte. Für sie war Wuppertal liebenswert, eine Stadt, die viele Macken hatte, in der es sich jedoch recht gut leben ließ. Franka beschloss, ihrer Heimatstadt vorerst nicht mehr den Rücken zuzuwenden.

Als sie in die Tunnelstraße einbog, freute sie sich auf ihr Bett. Franka fröstelte. Kleine Atemwolken schwebten vor ihrem Gesicht. Nach wenigen Minuten hatte sie das alte Mietshaus, in dem ihre Wohnung lag, erreicht. Sie ließ den Blick am Haus hinauf gleiten, doch die Fenster waren dunkel. Nur beim alten Müller im ersten Stock lief der Fernseher und warf sein bläuliches Licht an die vom Zigarrenqualm des Rentners vergilbten Gardinen.

Franka betrat das Haus und versuchte unnötigen Lärm im Treppenhaus zu vermeiden, da viele der Wohnungen von älteren Menschen bewohnt wurden. Sie schloss leise ihre Wohnungstüre auf und betrat den dunklen Flur. Ihre rechte Hand glitt über die Wand neben der Tür. Sie suchte und fand den Lichtschalter und betätigte ihn. An diesem Abend steckte sie den Schlüssel von innen ins Schloss, drehte ihn zweimal, legte die Sicherheitskette an und verriegelte das Zusatzschloss. »Ich mach mir schon vor Angst in die Hose«, murmelte sie kopfschüttelnd, zog die Jacke aus und warf sie über den Haken. Wieder dachte sie an den Mann, den die Presse schon reißerisch als »die Bestie« bezeichnet hatte. Was, wenn er wusste, wer ihm auf den Fersen war? Was, wenn er den Spieß herumdrehte und ihr nun nachstellte?         

Ernüchtert stellte sie fest, dass der Fall sie doch nicht losließ. Ihre Gedanken kreisten um das grauenhafte Verbrechen, und sie fragte sich, wer in der Lage war, eine solche Tat zu begehen. Gern hätte sie noch mit jemandem, der zuhause auf sie wartete, darüber gesprochen. Doch sie war alleine. Die Wohnung kam ihr heute ganz besonders kalt und leer vor. Wie schön wäre es, wenn jetzt jemand da wäre, der auf sie wartete - der sich freute, dass sie nach Hause kam. Doch da war niemand. Den Seufzer, der über ihre Lippen kam, bemerkte sie selber gar nicht.

Franka streifte ihre gefütterten Winterstiefel ab, zog die dicken Strümpfe wieder hoch, kickte die Schuhe in die Ecke und marschierte auf Socken ins Schlafzimmer, wo sie sich entkleidete. Nachdem sie sich im Bad frisch gemacht hatte, schlüpfte sie in den frottierten Schlafanzug und kroch ins Bett, das ihr heute besonders groß und leer vorkam. Die junge Kommissarin zog die Bettdecke bis zum Kinn, drehte sich auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Das Gespräch mit ihrer Mutter geisterte ihr im Kopf herum. Vielleicht hatte sie gar nicht mal Unrecht, als sie gesagt hatte, dass Franka einen Mann an ihrer Seite brauchte. Doch augenblicklich war einfach keine Zeit, sich nach einem Mann fürs Leben umzusehen. Sie erinnerte sich an ihre Zeit in Berlin. Eigentlich war sie zurück in ihre Heimatstadt gekommen, weil sie ein wenig mehr Ruhe haben wollte. Nun, Zeit für ihre Mutter fand sie jetzt hin und wieder, aber Freizeit war immer noch ein Fremdwort. Der Job als Kommissarin forderte sie so sehr, dass sie froh war, wenn sie nach Feierabend einmal ein paar Stunden in ihrer kleinen Wohnung am Rott entspannen konnte. Trotzdem war da diese Leere tief in ihr. Sie sehnte sich nach einem Mann, mit dem sie durchs Leben gehen konnte. Aber die wenigsten Männer hatten Verständnis für eine Frau, die Mörder jagte und nur selten zuhause sein konnte. Vielleicht sollte sie sich einen Fernfahrer angeln, überlegte sie schmunzelnd. Die Jungs waren auch nur selten zuhause, und wenn, dann schliefen sie sich von einer anstrengenden Arbeitswoche auf dem Bock aus. Allerdings konnte Franka sich nicht vorstellen, dass ein Fernfahrer etwas mit einer Polizistin anfangen würde. Eigentlich war es ihr egal, welchen Beruf der Mann ihrer Träume ausübte, solange er hinter ihr stand und ihr ab und zu eine starke Schulter bot, an der sie sich ausweinen und anlehnen konnte, wenn ihre Welt wieder einmal zusammenzubrechen drohte. In Nächten wie diesen übermannte sie die Einsamkeit auf eine schmerzhafte Weise.

Sie kuschelte sich noch ein wenig tiefer in die Decke ein und schloss die Augen. Wohlige Müdigkeit überkam sie, und nach wenigen Minuten war sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.