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9.15 Uhr

»Wo bleibt ihr denn?« Bever blickte gehetzt auf, als Franka und Micha sein Büro betraten. Die anderen hatten sich bereits am langen Tisch versammelt und mit dem Austausch begonnen.

»Entschuldige, dass wir uns zweieinhalb Stunden Schlaf gegönnt haben«, blaffte Micha seinen Vorgesetzten unwirsch an, der sofort beschwichtigend die Hände hob.

»Die Nacht war anstrengend, und unsere Akkus waren leer«, schob Franka entschuldigend nach, während sie sich setzte. Micha hatte am Kopf des Konferenztisches neben Bever Platz genommen. Auch Staatsanwalt Adler war anwesend.

»War nicht so gemeint, nur wäre es schön gewesen, wenn ihr angerufen hättet, dann hätte ich das Meeting verschoben«, murmelte Bever ein wenig kleinlaut.

»Wenn ich schlafe, telefoniere ich üblicherweise nicht«, entgegnete Micha bissig und schlug seine Mappe auf. Er nickte in die Runde. »Wie ihr sicher schon gehört habt, liegt eine ereignisreiche Nacht hinter uns. Zum einen wurde Baumann, den wir zur Fahndung ausgerufen hatten, tot in einem seiner Objekte gefunden. Damit scheidet er als Mörder von Mandy Klimmek aus, denn zum anderen hat sich unser Täter ein weiteres weibliches Opfer gesucht. Die Vorgehensweise gleicht der beim ersten Opfer, insofern können wir davon ausgehen, dass es sich um ein und den selben Täter handelt.« Er blickte in die Runde, und als keiner der anwesenden Kollegen Einwände hatte, fuhr er fort.

»Es könnte ein Trittbrettfahrer sein, der von dem ersten Mord durch die Medien erfahren hat«, gab Birgit Hanser zu bedenken und schürzte die Lippen.

»Die Pressestelle hat gründlich darauf geachtet, keine Detailinformationen herauszugeben.« Ihr Partner, Henrik Mellinghaus, schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Mörder, wenn wir von einem Trittbrettfahrer ausgehen, wusste, dass die Frau mit gezielten Bissen in die Kehle getötet wurde, nachdem er sich an ihr vergangen hat.«

»Interessant ist doch seine Vorgehensweise«, bemerkte Franka. »Während er den Anschlag auf sein erstes Opfer von langer Hand geplant hatte, scheint es sich hier entweder um eine spontane Tat zu handeln, oder er kannte sein Opfer, und sie ist ahnungslos mit ihm in den Wald gefahren.«

»Wobei ahnungslos maßlos untertrieben ist«, grinste Micha. »Wenn eine Frau nachts mit einem Mann auf einen einsamen Waldparkplatz fährt, dann ist sie sich wohl darüber im Klaren, was dort geschehen wird.«

»Es sei denn, er hat sie unter Druck gesetzt und sie gezwungen, den Wanderparkplatz anzufahren«, murmelte Mellinghaus und rührte in seiner Teetasse. Einer Zeremonie gleich, zog er den Teebeutel aus dem dampfenden Wasser, drückte ihn mit dem kleinen Löffel aus und legte in auf der Untertasse ab, bevor er drei Stückchen Süßstoff in den Tee plumpsen ließ und in kleinen Schlucken trank. »Wie er es mit einer Pistole getan haben könnte«, nahm er dann den Faden wieder auf.

»Eine Pistole, mit der kurz zuvor Klaus Baumann erschossen wurde«, führte Franka den Gedanken des introvertierten Kollegen fort. »Das ist zwar spekulativ, aber durchaus denkbar. Woraus sich dann aber die Frage ergibt, wie der Täter vom Ort des Mordes an Baumann, der im Westen der Stadt liegt, in den Norden kam, wo er seinem zweiten Opfer auflauerte.« Sie blickte Birgit Hanser an. »Was ist mit Baumanns Wagen? Er ist sicherlich mit dem Auto zur alten Fabrik in Varresbeck gekommen, oder?«

»Da der Wagen zur Fahndung ausgeschrieben war, wurde er kurze Zeit später verlassen aufgefunden. Der Mercedes stand in einem Parkhaus in der Elberfelder Innenstadt und fiel dem Personal dort auf, weil es sich um einen männlichen Fahrer handelte, der den Wagen auf einem Frauenparkplatz in der Nähe des Ausgangs abgestellt hatte. Das hat übrigens auch die Videoüberwachung des Parkhausbetreibers festgehalten.«

»Moment«, rief Franka. »Das würde bedeuten, dass wir jetzt wissen, wie der Mörder aussieht?«

»Der Anruf des Parkwächters erreichte uns erst vor einer halben Stunde. Wir werden nach der Besprechung nach Elberfeld fahren und die Aufzeichnung auswerten. Wenn es sich bei dem Fahrer von Baumanns Mercedes tatsächlich um den Mörder handelt, dann haben wir einen echten Anhaltspunkt und können die Datenbanken durchforsten.« Birgit Hanser fuhr sich durch die kurzen schwarzen Haare, nickte in die Runde und klappte ihre Unterlagen zu.

»Dann sollten wir ein Team der Spurensicherung losschicken«, schlug Bever vor, der zurückgelehnt auf seinem Stuhl hockte. »Wenn es sich bei Baumanns Mörder und dem Peiniger der Frau um ein und dieselbe Person handelt, dann müssten wir das anhand der DNA-Spuren klären können.«

Krüger nickte. Franka stellte fest, dass er sehr müde war.

»Was ist mit dem Computer von Klaus Baumann?«, fragte Bever in die Runde. Als er keine Antwort erhielt, fuhr er fort: »Wir sollten ihn sicherstellen und die Festplatte spiegeln. Vielleicht erhalten wir so einen Hinweis auf das seltsame Treffen mit seinem Mörder. Ich könnte mir vorstellen, dass er an der alten Fabrik in Varresbeck mit ihm verabredet war. Wahrscheinlich hat ihn der Mörder unter einem Vorwand dorthin gelockt, um ihn dann zu erschießen.«         

»Du meinst, um auch ihn aus dem Weg zu räumen«, brummte Micha. »Der Typ ist so gefährlich, dass er jeden, der mit seinem Mord an Mandy Klimmek auch nur im weitesten in Verbindung stand, eiskalt aus dem Weg räumt. Dabei scheint er zu unterscheiden: Seine weiblichen Opfer werden missbraucht und zu Tode gebissen, vielleicht bildet sich der Täter ein, Kannibale oder womöglich Vampir zu sein. Die männlichen Opfer räumt er deutlich schneller aus dem Weg, indem er sie erschießt oder mit einem Messer tötet.«

»Vielleicht sollten wir einen Profiler aus Düsseldorf ins Boot holen«, schlug Mellinghaus an Bever gewandt vor. »Der Fallanalytiker wird nach den Fakten entscheiden, die uns vorliegen, und ich werde das dumme Gefühl nicht los, dass wir uns mehr und mehr in dem Fall verrennen.«

Bever tauschte einen Blick mit dem Staatsanwalt. Stefan Adler zuckte die Schultern und nickte. Offiziell leitete er die Ermittlungen, hielt sich aber bewusst im Hintergrund, um die weitaus erfahreneren Beamten ihre Arbeit machen zu lassen.

»Dann stellen Sie die Akten einem Analytiker zur Verfügung«, nickte Adler.

»Wir werden das Einsatztagebuch kopieren und heute noch nach Düsseldorf zum LKA bringen«, nickte Mellinghaus und tauschte einen Blick mit Hanser.

Georg Brackwede, der IT-Spezialist, räusperte sich.

»Die Auswertung des Laptops von Daniela Sauer hat nichts Entscheidendes ergeben«, berichtete er. »Sie war, wie die ersten Recherchen in den frühen Morgenstunden ergeben haben, geschäftlich in Berlin. Ihre Kollegin hatte online ein Bahnticket gekauft, was darauf schließen lässt, dass sie sich mit größter Sicherheit nicht im Fahrzeug befunden hat, als es zum Treffen mit dem unbekannten Täter kam.« Ein Blick zu Franka, bevor er fortfuhr. »Zum Rotlichtmilieu hatte Daniela Sauer übrigens keine Verbindungen. Allerdings habe ich die Namen einiger Männer im Adressbuch des Rechners gefunden, die ihr vielleicht mal abklappern solltet.«

»Das werden wir tun«, nickte Micha. »Hast du eine Liste ausgedruckt?«

»Natürlich.« Georg grinste schief und reichte Micha den Ausdruck, der ihn an sich nahm und die Namen darauf überflog. Natürlich, einen Clay gab es nicht in der Liste.

»Dem Mailverlauf nach zu urteilen, hatte Daniela Sauer wechselnde Männerbekanntschaften. Aber wie gesagt - in den Bereich Prostitution fällt das allergrößter Wahrscheinlichkeit nach nicht.«

»Wir werden heute Bernd Wiesinger, diesem Freund von Thomas Belter, einen Besuch abstatten. Er ist eine feste Größe im Milieu und kann uns eventuell mehr erzählen. Womöglich hatte er sogar Kontakt zu Mandy Klimmek.«

»Denkt bitte daran, mir den Rechner von Klaus Baumann mitzubringen«, erinnerte Georg ihn. Bever beschloss, dass er gemeinsam mit Adler an der Obduktion von Baumann und Daniela Sauer teilnehmen wollte, die für den späten Nachmittag anberaumt worden waren. Eigentlich eine Routine, denn inzwischen stand fest, wie Clay seine Opfer umgebracht hatte. Nur leider brachte dieses Wissen nicht den entscheidenden Schritt in die richtige Richtung.