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12.35 Uhr

Nachdem sie sich im Shop der Tankstelle an der Carnaper Straße mit Frikadellen und einer Ladung frischer Baguettes versorgt hatten, die sie unterwegs aßen, machten sie sich auf den Weg zu Bernd Wiesinger. Wie die Recherche von Mellinghaus ergeben hatte, gehörten Wiesinger insgesamt fünf Sex-Clubs und zwei Sexshops. Einer davon befand sich in Kombination mit einem Erotikkino am Elberfelder Neumarkt, unweit des alten Rathauses. Hier hatte er vor Jahren sein Unternehmen gegründet, und Mellinghaus hatte in Erfahrung bringen können, dass er in einem Hinterzimmer des Ladens noch immer sein Büro hatte. Sie hatten Elberfeld bereits erreicht, als Frankas Handy klingelte. Am anderen Ende der Leitung war Georg Brackwede von der IT-Abteilung.

»Ich weiß nun, wer hinter dem Forum steckt, in dem Mandy Klimmek als Prostituierte eingetragen war«, fiel er mit der Tür ins Haus. »Es ist ein gewisser Bernd Wiesinger.«

Micha, der das Telefonat über den Lautsprecher der Freisprechanlage mitgehört hatte, machte große Augen. Er hob grinsend den rechten Daumen.

»Das ist gut zu wissen, wir sind nämlich gerade unterwegs zu ihm. Vielleicht informierst du Schimpf von der Sitte schon mal, dass wir ihm bald einen Kunden liefern.«

»Warte erstmal ab, was das Gespräch mit ihm ergibt«, empfahl Brackwede. »Ich werde die Zeit nutzen, um weitere Details in Erfahrung zu bringen.«

»Wie du meinst. Wir werden ihm jetzt auf den Zahn fühlen.« Franka unterbrach die Verbindung.

»Das sieht aus, als hätte Wiesinger ein Problem«, entfuhr es Micha.

»Wir haben die einzelnen Fäden in der Hand, nun müssen wir nur noch den Knoten lösen«, erwiderte Franka nachdenklich, während sie am öffentlichen Parkplatz an der Kleinen Klotzbahn ein Ticket aus dem Automaten zog. Der steile Parkplatz lag hinter dem ehemaligen Elberfelder Kinocenter, das schon seit langem leer stand. Sicherlich auch ein nettes Spekulationsobjekt für einen Immobilienhai, wie Baumann es gewesen war, dachte Franka in einem Anflug von Galgenhumor. Früher war sie oft hier im Kino gewesen, das unter den jungen Leuten der Stadt und unter den Stammgästen des Kinos einfach nur das »Popcorn-Kino« genannt worden war, weil einer der Vorbesitzer nur selten zwischen den Vorstellungen durch die Kinosäle gefegt hatte und man hier mit allergrößter Sicherheit auf selbiges trat, bevor der Film überhaupt begonnen hatte. Doch dieser Umstand und die Tatsache, dass es sich bei dem Mobiliar nicht gerade um die neueste Bestuhlung gehandelt hatte, hatten das Kino zwischen Klotzbahn und Neumarkt zu einem Kultkino werden lassen, das sich großer Beliebtheit erfreut hatte. Einst hatte das Kino über zehn Kinosäle verfügt, zum Schluss noch über sechs. Brandschutzprobleme hatten den letzten Inhaber schließlich dazu gezwungen, das Haus zu schließen. Damit war auch ein Stück Wuppertaler Kultur für immer verschwunden. Wie so vieles aus Wuppertal verschwunden ist, dachte sie. Nach ihrer Rückkehr war ihr das massiv aufgefallen.

»Komm schon, oder willst du hier Wurzeln schlagen?«, riss Michas Stimme sie aus den Gedanken. Er war bereits vorgegangen und hatte die kleine Straße zwischen dem Parkplatz, der sich an einer steilen Schräge befand, und dem ehemaligen Kino überquert. Breitbeinig stand er dort und zündete sich eine Zigarette an. »Alles klar?«, fragte er, als Franka ihn eingeholt hatte. »Du bist mir so melancholisch in letzter Zeit.«

Sie zuckte die Schultern. »Es ist viel passiert in der Stadt, während ich in Berlin war.«

»Die Stadt wartet nicht auf dich.«

»Sozusagen. Und ich fange hier total neu an, obwohl ich jeden Ort, an dem ich mich aufhalte, mit Erinnerungen aus meiner Kindheit und meiner Jugend in Verbindung bringe.«

»Das ist es aber nicht.«

»Erwischt.« Nun musste sie lachen. »Ich habe eine Einladung zum Essen bekommen. Von Bernd.«

»Erst die Rose, jetzt die Einladung …« Micha zog die Mundwinkel nach unten. »Wenn ich mich nicht bald ins Zeug lege, dann schnappt Bernd mir meine Lieblingskollegin noch vor der Nase weg.«

»Blödmann.« Sie buffte ihn in die Seite. Gemeinsam durchquerten sie die kleine Passage, die zum Neumarkt führte. Dort angekommen, waren es nur noch wenige Meter bis zu Wiesingers Shop, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwischen ein großes Kaufhaus und einen Schallplattenladen mit dem tiefsinnigen Namen »Vinyl« duckte.

Micha betrachtete bereits die Auslagen im Schaufenster des Sexshops. »Tolles Angebot hat er, das muss ich ihm lassen.«

»Komm schon.« Franka zog ihn zum Eingang. Ein samtroter Windfang diente als Blickschutz für allzu neugierige Passanten. Die Beamten standen im Laden und bahnten sich durch das breit gefächerte Angebot den Weg zum kleinen Verkaufstresen, hinter dem sich eine gelangweilt wirkende junge Frau aufhielt und versuchte, eine SMS zu tippen. Als sie die beiden Beamten erblickte, sah sie auf und lächelte freundlich. Die sieht aus wie eine brave Hausfrau, dachte Franka unwillkürlich.

»Sucht ihr was Bestimmtes?«, fragte die Hausfrau und Franka konnte sich nicht vorstellen, das sich die junge Dame mit den Produkten hier auch nur ansatzweise auskannte.

Sie griff in die Jackentasche und zeigte ihr den Dienstausweis. »Hahne mein Name, Kripo Wuppertal.« Sie deutete auf Micha, der sich interessiert umblickte. »Mein Kollege, Kommissar Stüttgen. Wir hätten gern Herrn Wiesinger gesprochen.«

Die junge Frau wurde blass. Sie legte das Handy auf den Tresen und rang verunsichert mit ihren Händen. »Ich muss sehen, ob er Zeit hat.«

»Er wird Zeit haben müssen«, sagte Micha ruhig, aber bestimmt. »Ist er da?«

»Ja, aber er hat …«, stammelte die junge Angestellte, während sie von ihrem Hocker herunter rutschte und die Theke umrundete.

»Kommen Sie bitte.«

Franka grinste Micha an, und er warf ihr einen Siehst du, es geht doch-Blick zu. Sie folgten der Angestellten durch den Laden zu einer Tür im hinteren Bereich. Sie hielt kurz inne, klopfte an und hielt den Kopf in das Büro ihres Chefs. Franka und Micha hörten sie leise sprechen, ohne ein Wort verstehen zu können. Es war offensichtlich, dass sie Wiesinger vorwarnte. Dann gab sie den Eingang frei.

»Herr Wiesinger lässt bitten«, flötete sie.

»Oh, vielen Dank.« Sie betraten das Büro. Von einem Fenster aus hatte man Ausblick in einen trostlosen Hinterhof. Mülltonnen unter dem Fenster, zwei geparkte Autos und meterhohes Unkraut, das sich irgendwann im Sommer den Weg durch den brüchigen Teer an die Oberfläche gebahnt hatte, um dort vom Wintereinbruch im Dezember überrascht zu werden und in einen Winterschlaf zu fallen. Im gut zehn Quadratmeter großen Büro von Bernd Wiesinger herrschte das Chaos. Rechts gab es Aktenschränke, die bis zur vergilbten Zimmerdecke aufragten, links einen Besprechungstisch, der unter der Last unzähliger bunter Kataloge und Zeitschriften zu ächzen schien. Vor dem Fenster hatte es sich der Chef gemütlich gemacht. Er saß in einem ledernen Chefsessel, der an den Kommandostuhl eines Raumschiffcaptains erinnerte und residierte an einem gläsernen Schreibtisch, auf dem sich ein Telefon, eine schmale Tastatur und ein TFT-Monitor befanden. Wiesinger selber war Ende vierzig, hatte dunkles, bereits lichtes Haar und einen deutlichen Bauchansatz. Eine unsichtbare Duftwolke von schwerem Aftershave umgab ihn. Franka kannte die Marke und mochte sie nicht. Sie roch billig. Als er seine Gäste erblickte, sah er überrascht auf und richtete sich in seinem Stuhl auf.

»Die Polizei beehrt uns«, sagte er mit ebenso übertriebener wie falscher Freundlichkeit und bot den beiden Platz an. Doch Franka und Micha zogen es vor, stehen zu bleiben.

»Wir wollen Sie nicht länger als nötig aufhalten«, erwiderte Franka freundlich. »Wir ermitteln im Fall der getöteten Frau. Sicherlich haben Sie in der Presse davon erfahren.«

»Ja, allerdings. Schreckliche Sache.« Gespieltes Bedauern. Er war ein grässlicher Schauspieler.

»Sagt Ihnen der Name Mandy Klimmek etwas?«, kam Micha zum Punkt.

Wiesinger dachte angestrengt nach, blickte ins Leere und schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste«, murmelte er schließlich.

»Sie war die Lebensgefährtin Ihres Freundes Thomas Belter.«

Die Augen des Ladeninhabers verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Moment«, rief er. »Mandy war die Freundin von Thomas?« Diesmal wirkte er wirklich überrascht.

»Allerdings, ja.«

»Das … das ist ja ein Witz.« Wiesinger schüttelte den Kopf und lachte amüsiert auf. »Ich wusste gar nicht, dass der liebe Thomas … mit…«

»Sie kannten Mandy Klimmek und wussten von ihrer Neigung«, unterbrach Franka ihn. Sie hatte keine Lust auf Kasperletheater und Lügengeschichten. »Sie wussten, dass Mandy nymphoman veranlagt war.«

»Was heißt denn nymphoman?« Wiesinger winkte irritiert ab. »Sie war sehr offen und führte ein ausschweifendes Leben, wenn Sie verstehen, was ich meine? Ja, um Ihre Frage zu beantworten, ich kannte Mandy Klimmek. Aber ich wusste wirklich nicht, dass sie mit Tom zusammen war. Die beiden sind so gegensätzlich.« Er senkte kurz den Blick und murmelte eine Entschuldigung, bevor er sich verbesserte. »Ich meine, sie waren so gegensätzlich.«

»Läuft Ihr Geschäft gut?«, erkundigte sich Franka, um das Thema zu wechseln.

»Ich kann nicht klagen. Warum wollen Sie das wissen?«

»Nur so. Sagen Sie, Sie haben doch sicherlich auch einen Onlineshop?«

»Ja, natürlich.« Er nickte. »Das gehört in der heutigen Zeit einfach dazu. Noch immer schämen sich viele Menschen, in einen Sexshop zu gehen. Das ist wie mit Fastfood und Boulevardpresse: Alle kennen es, alle konsumieren es, aber keiner will es gewesen sein. Mit dem Onlineshop ist die Diskretion sichergestellt. Wir versenden unsere Waren sogar in neutral verpackten Paketen, damit Nachbarn, die aus Freundlichkeit mal eine Sendung annehmen, nicht erfahren, was sich die Mitbewohner da Böses bestellt haben. Dabei ist das wahrscheinlich nichts anderes, als sie selber im Schrank haben.« Wiesinger war sehr überzeugt von sich.

»Betreiben Sie noch andere Geschäfte im Internet?« Franka fixierte Wiesinger mit Blicken, während es sich Micha auf der Kante des vollen Besprechungstisches gemütlich gemacht hatte. Mit einem Seitenblick stellte er fest, dass es sich bei den Zeitschriften um Erotikmagazine handelte. Allesamt Titel, die nur unter dem Ladentisch gehandelt werden durften.         

»Worauf wollen Sie hinaus?«

»Es gibt Foren, in denen sich vermeintlich sexbegeisterte Frauen anbieten. Sie stellen einen Text hinein, dazu ein paar Fotos von sich, bei denen meist das Gesicht nicht zu erkennen ist. Die Frauen bezeichnen sich selber als dauergeil, devot und sexsüchtig. In Wahrheit sind sie aber keine unbefriedigten Hausfrauen, sondern Prostituierte, denen es nicht um die Befriedigung, sondern vor allem um den schnellen Verdienst geht. Die Aufnahme in ein derartiges Forum ist mit Kosten verbunden. Und wir wissen, dass Sie ein solches Forum betreiben.« Franka hatte sich in Rage geredet. »Und wir haben in Erfahrung gebracht, dass Mandy Klimmek als so genannte Hobbyhure auf Ihrer Domain registriert war. Sie war Ihre Kundin, Herr Wiesinger!«

»Was werfen Sie mir vor? Anstiftung zur Prostitution, wie es im Beamtendeutsch heißt?« Er lachte gewinnend. »Leider können wir Mandy Klimmek nicht mehr fragen, aber ich kann Ihnen versichern, dass sie freiwillig bei mir registriert war«, verteidigte er sich und schüttelte den Kopf. »Oder wollen Sie mir ankreiden, dass ich die Website betreibe? Sind Sie von der Sitte? Die Mädchen, die auf meiner Internetseite aufgelistet sind, erhalten dafür ein stilvolles Umfeld. Sie bekommen die Chance, sich gut in Szene zu setzen, sich angemessen zu präsentieren. Dafür biete ich Ihnen eine anspruchsvoll gestaltete Website und professionell gestaltete Fotos an.«

»Mandy Klimmek ist bei einem Fotoshooting ermordet worden«, rief Franka.

»Wollen Sie sagen, dass mein Fotograf der Mörder ist?«

»Mit wie vielen Fotografen arbeiten Sie denn zusammen?«, mischte sich nun auch Micha ein. Er rutschte von der Tischkante und marschierte durch das kleine Büro, schritt den Raum ab, machte an der Wand kehrt und wanderte zurück.

»Mit mehreren, aber die Fotos für das Forum lasse ich nur von einem Fotografen anfertigen. Dem muss ich nicht jedes Mal neu erklären, worauf er zu achten hat und was ich von den Mädchen sehen möchte. Er weiß, worauf es ankommt, wenn sich ein Mädchen eintragen lassen möchte.«

»Und Sie kassieren die Vermittlungsgebühr?« Micha unterbrach seine Wanderung.

»Ein kleiner Obolus kommt in meine Kasse, ja. Aber dafür betreibe ich schließlich den organisatorischen Aufwand.«

»Und was ist, wenn Ihr Fotograf ein perverser Spinner ist, der die Frauen erst vergewaltigt und danach zu Tode beißt?«

»Ich habe keinen Einfluss darauf, was mein Fotograf macht. Aber ich halte Ihre Mutmaßung für völligen Blödsinn. Und mich können Sie dafür nicht verantwortlich machen.« Wiesinger gab sich aalglatt, auch wenn sich auf seiner Stirn winzige Schweißperlen gebildet hatten.

Am liebsten hätte Franka ihm eine Ohrfeige verpasst.

»Wir benötigen den Namen und die Adresse Ihres Stammfotografen«, forderte Franka. Sie hatte genug gehört.