13.05 Uhr
Sie waren kurz ins Polizeipräsidium gefahren, um sich mit den anderen zu besprechen. Auf dem langen Korridor im zweiten Stock rannten sie einem überraschen Willi Bever geradewegs in die Anne.
»Was macht ihr denn hier?«
»Wir hatten Sehnsucht«, grinste Micha, dann wurde er ernst. »Können wir dich sprechen?«
»Natürlich.« Bever führte sie in sein Büro, und sie nahmen am langen Besprechungstisch Platz. Er schenkte ihnen Kaffee aus seiner Designerkaffeemaschine ein, die ihm das Team des KK 11 im letzten Jahr zur Silberhochzeit geschenkt hatten. Bever war ein Genießer und Kaffeefreund. Während sie aus den grünweißen Tassen mit dem Logo der Polizeigewerkschaft tranken, ließ sich der Erste Kriminalhauptkommissar von Franka und Micha berichten, was sie in Erfahrung gebracht hatten.
»Somit hat Clay einen sehr bürgerlichen Namen. Er heißt Kai Kötter.« Franka hielt den Zettel mit der Anschrift von Clay in die Höhe. »Hier werden wir gleich hinfahren und ihn befragen. Je nachdem wie das Gespräch verläuft, werden wir ihn direkt in Untersuchungshaft bringen.«
Bever hatte keine Einwände und versprach, Kai Kötter zu durchleuchten. »Wenn er ein derart bewegtes Leben hat, dann taucht er mit größter Wahrscheinlichkeit in unseren Datenbänken auf, auch, wenn Mandy Klimmek das erste Opfer war, das er auf diese grausame Weise getötet hat.«
Er griff zum Hörer und wählte eine Nummer im Haus. »Enthält der Rechner von Mandy Klimmek brauchbare Informationen?« Er blickte zu Franka und Micha hinüber, während er lauschte. »Dann komm bitte kurz rüber, Franka und Micha sind hier - das wird sie sicherlich interessieren.«
Es verging kaum eine Minute, bis Georg Brackwede erschien. Unter den Arm geklemmt hatte er eine Mappe, die er nun auf den Besprechungstisch warf. Er grinste die Kollegen an.
»Gute Nachrichten: Es hat einen Kontakt zwischen Mandy Klimmek und dem mutmaßlichen Täter gegeben. Sie haben sich, wie ihr bereits vermutet habt, in einem Forum kennen gelernt. Dort ist die Rede von erotischen Aufnahmen, die er von ihr machen wollte.«
»Das scheint sein Spezialgebiet zu sein.« Micha schlürfte von seinem Kaffee und wandte sich an Franka. »Immerhin hast du herausgefunden, dass sie als Prostituierte unterwegs war, obwohl sie mit Belter liiert war. Vielleicht hat sie neue Bilder für ihre Internetpräsenz benötigt.«
»Das herauszufinden, ist euer Part.« Georg Brackwede blätterte in seinen Unterlagen. »Wie gesagt, der Kontakt mit diesem Clay, oder Dark Lord, wie er sich auch nennt, ist nachgewiesen. Damit ist er sicherlich auch die Nummer eins auf eurer Liste. Ich habe mir auch die Mühe gemacht, Mandy Klimmeks andere Kontakte herauszufiltern und bin so auf die Kontakte gestoßen, die sie zu ihren Freiern hatte. Leider nicht sehr ergiebig, da die meisten Verabredungen über Handy getroffen werden. Und ihr Handy dürfte in der alten Fabrik verbrannt sein, insofern kann ich nichts rekonstruieren, sorry, Leute.«
»Für das Geschäftsgebaren dieses Bernd Wiesinger dürften sich übrigens die Kollegen von der Sitte interessieren«, wechselte Micha das Thema und berichtete von Wiesingers schlüpfriger Internetpräsenz. »Er vermittelt Prostituierte, die sich unter dem Deckmantel, nymphoman veranlagt zu sein, das Taschengeld aufbessern. Schon mal was von Hobbyhuren gehört?«
Anstatt zu antworten, erhob sich Bever und umrundete seinen Schreibtisch. Wieder griff er zum Telefon. Diesmal wählte er die Nummer des KK 12. Die Sitte. Er sprach mit Hauptkommissar Schimpf, einem alten Freund, mit dem er sich nach Feierabend öfters zum Squash spielen traf und bat ihn, in sein Büro zu kommen. Hans Schimpf war Anfang fünfzig, von stämmiger Natur und trug die Haare extrem kurz. Der Blick durch die dünnen Gläser seiner Brille war wachsam, seine Lippen schmal. Zu einer Jeans trug er ein modisches Hemd und ein Sakko. Mit einem Stift und Notizblock bewaffnet, ließ auch er sich am Besprechungstisch in Bevers Büro nieder. Aufmerksam hörte er sich Michas Ausführungen an.
»Hier scheint es mir um die Verbreitung pornografischer Erzeugnisse im Internet und um die Anstiftung von Prostitution zu gehen«, zog er sein Fazit, während er sich Notizen machte und sich nachdenklich die Schläfen massierte. »Wir werden ihn auf jeden Fall besuchen«, versprach er, an Franka gewandt. »Was ihm letztlich nachzuweisen ist, müssen wir abwarten. Aber auf jeden Fall werde ich ihn gleich mal durchleuchten.«
»Das sollten wir auch mit dem Fotografen tun«, murmelte Bever.
»Er ist sicherlich durch unseren Besuch vorgewarnt«, fürchtete Franka und leerte ihre Tasse. Ungeduldig blickte sie auf die Armbanduhr und gab Micha ein Zeichen zum Aufbruch. »Wenn alles geklärt ist, möchten wir jetzt keine Zeit verlieren«, bemerkte sie, während sie sich erhob. Irgendetwas sagte ihr, dass der Countdown für die Verhaftung des geheimnisvollen Phantoms lief.
Er hatte genug Menschenleben auf dem Gewissen, und es war höchste Zeit, ihm das Handwerk zu legen. Bever hatte sich wieder erhoben und holte eine Klarsichthülle von seinem Schreibtisch. »Diese Aufnahme wollte ich gerade zum Einsatztagebuch legen«, kommentierte er und legte den Ausdruck einer Schwarzweißfotografie in recht grober Auflösung vor Franka und Micha auf den Tisch. Das Foto stammte von der Videoüberwachungsanlage des Parkhauses, in dem Baumanns Wagen gefunden wurde. Es zeigte den dunklen Mercedes und einen Mann, der den Wagen gerade verlassen hatte. Zielstrebig entfernte er sich von dem schweren Fahrzeug der Luxusklasse. Franka beugte sich über das Bild und erkannte das Kennzeichen von Baumanns Wagen. Der Mann war hoch gewachsen, fast schlaksig und hatte dunkle Haare. Auch seine Kleidung war dunkel; ob sie schwarz war, ließ sich auf der Schwarzweißaufnahme nicht eindeutig erkennen, da das Foto nur Graustufen darstellte. Und Franka überlegte fieberhaft, wo sie das Gesicht des Täters schon einmal gesehen hatte.
»Was haben denn die Ermittlungen der Jungs aus Hagen ergeben?«, fragte Micha an Bever gewandt.
»Nicht viel, um es vorsichtig zu formulieren. Das gesellschaftliche Umfeld wurde von den Kollegen überprüft, ohne dabei auf Unregelmäßigkeiten zu stoßen. Thomas Belter war ein ruhiger Zeitgenosse, der nie mit dem Gesetz in Konflikt kam. Bernd Wiesinger kannte er übrigens aus seiner Schulzeit. Sie haben sich, nachdem sie die Schule beendet hatten, aus den Augen verloren und dann irgendwann wiedergetroffen. Belter ahnte zunächst nichts von Wiesingers Art, Geld zu verdienen. Erst auf einer Party, die Belter gemeinsam mit Mandy Klimmek besuchte, kam die Sache zur Sprache. Mandy und Wiesinger waren einander sofort sympathisch und sie hat ihm gegenüber von Anfang an keinen Hehl aus ihrer Neigung gemacht. Er witterte wohl das große Geschäft und überredete sie, sich in seinem Forum einen Eintrag zu sichern. Insofern können wir davon ausgehen, dass Wiesinger den Kontakt zwischen ihr und dem Fotografen hergestellt hatte. Der Rest wurde dann wohl über das Internet geregelt; leider mit den uns bekannten Folgen.«
»Ich kenne diesen Kerl«, platzte es plötzlich aus Franka heraus. Sie nahm das Foto aus der Tiefgarage am Elberfelder Karlsplatz in die Hand und spürte, wie ihre Finger zitterten. »Ich kenne ihn«, wiederholte sie.
Die anwesenden Kollegen betrachteten sie neugierig.
»Der Mann, der Baumanns Mercedes im Parkhaus abgestellt hat, kam mir auf den ersten Blick bekannt vor. Ich wusste allerdings nicht, woher. Jetzt kann ich mich erinnern.«
»Mach es nicht so spannend«, rief Micha und sprang auf. Er trat hinter seine Kollegin und betrachtete das unscharfe Foto der Parkhausüberwachung aufmerksam. »Wer ist der Typ?«
»Es ist der Sprinterfahrer.«
»Es ist - wer?« Micha runzelte die Stirn. Er trat einen Schritt zurück und zündete sich eine Zigarette an. Die missbilligenden Blicke seines Vorgesetzten ignorierte er. Bever stand dennoch auf und reichte ihm einen alten Porzellanaschenbecher.
»Der Sprinterfahrer«, erwiderte Franka. »Er war vor Ort, als wir zum Parkplatz kamen, an dem man - an dem er - die Leiche von Daniela Sauer gefunden hat. Das glaube ich nicht: Er hat sie dort ermordet und dann ein paar Stunden später seelenruhig die Polizei verständigt. So konnte er anwesend sein, während wir zum Tatort kamen und vor einem weiteren Rätsel standen.«
»Moment, Franka, soll das heißen, dass das hier Kai Kötter ist?«
Franka nickte stumm.
»Der Typ ist wahnsinnig«, brummte Micha, zog an seiner Zigarette und tippte sich bezeichnend an die Stirn.
»Viele Täter verhalten sich so«, gab Bever zu bedenken. »Denk mal an die Reihe von Brandanschlägen, die wir vor ein paar Monaten hatten: Der Brandstifter war ein Feuerwehrmann. Er litt unter einem Aufmerksamkeitsdefizit. Bei einem Brand kam sein eigener Vater ums Leben. Er starb qualvoll an einer Rauchvergiftung, und erst das hat den Täter dazu bewogen, die Brandstiftungen zu gestehen. Ich erinnere mich an sein Geständnis: Ihm war es wichtig, die Folgen seiner Tat mit eigenen Augen verfolgen zu können. So ähnlich könnte es auch bei diesem Mann gewesen sein.«
»Erinner dich mal an den ersten Leichenfundort«, rief Micha. »Kötter hat die Leiche von Mandy Klimmek gleich an der B 7 in Oberbarmen abgelegt. Ein markanter Punkt. Er wollte uns an der Nase herumfuhren, ein Zeichen setzen, was auch immer. Und die Klimmek hat am Grünstreifen neben einer Fußgängerampel gelegen, erinnerst du dich?«
Franka blickte zu ihm auf und nickte. »Allerdings. Und wir haben überlegt, wie er es gemacht haben könnte. Normalerweise ist dieser Teil der Straße zwischen Wupperfeld und dem Abzweig nach Wichlinghausen viel befahren. Nur aufgrund der Witterung und der Dunkelheit ist es ihm gelungen, die Leiche unbeobachtet dort abzulegen.«
»Aber es musste schnell gehen«, murmelte Micha und blies den Rauch seiner Zigarette an die hohe Decke des Dienstzimmers. Bever rümpfte bezeichnend die Nase, schwieg aber.
»Dein erster Gedanke war, dass er mit einem Lieferwagen unterwegs war. Die Leiche lag demnach auf der Ladefläche. Kötter hielt an der Ampel, ging nach hinten in den Laderaum, öffnete die seitliche Schiebetür und beförderte die Leiche ins Freie. Der Spaß hat maximal eine Minute gedauert«, mutmaßte Franka.
»Er wohnt am Sternenberg, das liegt im Norden von Wichlinghausen«, bemerkte Bever. »Das heißt, wenn er Mandy Klimmek in Elberfeld getötet und sie danach in seinen Transporter verfrachtet hat, dann hat er sein Opfer auf dem Heimweg entsorgt.«
»Am Sternenberg«, murmelte Franka. »Das ist nicht weit weg von der Straße Einern, die parallel zur Autobahn 46 verläuft. Demnach hat er sein zweites Opfer, von den männlichen Toten einmal abgesehen, unweit seiner Wohnung zur Strecke gebracht.«
»Worauf warten wir?« Micha drückte den Stummel seiner hastig gerauchten Zigarette im Aschenbecher aus und klimperte mit dem Wagenschlüssel.
Bever tippte auf den Ausdruck des Fotos, dann wandte er sich ab und setzte sich an seinen Schreibtisch. Hastig machte er sich an seinem Computer zu schaffen und rief das Einsatztagebuch auf. »Hier«, rief er. »Ich habe das amtliche Kennzeichen des Lieferwagens, mit dem er unterwegs war. Haut ab und seht zu, ob ihr ihn in seiner Wohnung erwischt. Ich schicke euch eine Streifenwagenbesatzung hinterher, falls es Schwierigkeiten gibt. Währenddessen kümmere ich mich um den Halter des Lieferwagens.«
Franka hatte keine Einwände, und so stürmte sie aus dem Büro. Es galt nun keine Zeit mehr zu verlieren. Etwas tief in ihrem Innern sagte ihr, dass Kötter schon wieder auf der Suche nach einem Opfer war.