13.30 Uhr
Er hatte ihr Fleisch nicht gegessen. Nur langsam fiel die Erregung von ihm ab, träge erholte sich sein Herzschlag. Mit einem eher zaghaften Biss hatte er ihre Haut aufgeritzt, so lange nur, bis ein feiner Blutfaden über ihren zierlichen Hals rann. Er hatte an der Stelle, aus der das Blut ausgetreten war, eine winzige Wunde hinterlassen, nur ein wenig gesaugt und ihr dann das Blut weggeküsst.
Wie gut sie geschmeckt hatte.
Doch jetzt, als er seine Zähne in ihre Kehle schlagen wollte, klingelte das verdammte Telefon auf dem Board im Flur. Kai Kötter zögerte. Er ließ von seinem Opfer ab, das noch immer wehrlos unter ihm lag, warf einen gehetzten Blick über die Schulter, blickte auf Rebecca herab, wartete einen Moment.
Sekunden rannen dahin wie Gummi. Der Klingelton des Telefons wurde lauter und nahm etwas Mahnendes an, das an seinen Nerven zerrte. Es war nicht der richtige Moment, um ein Telefonat anzunehmen. Doch es war bereits das zweite Mal in einer kurzen Zeit, dass sein Telefon klingelte. Manchmal meldete sich tagelang kein Mensch bei ihm. Womöglich war etwas passiert. Er ließ von Rebecca ab und leckte sich genießerisch über die Lippen, während er unbekleidet das Wohnzimmer durchschritt und den Flur erreichte, der dunkel vor ihm lag. Nur das wütende Blinken des Displays war zu sehen. Er griff nach dem schnurlosen Gerät und meldete sich mit einem knappen »Hallo?«, wobei er versuchte, seinen keuchenden Atem in den Griff zu bekommen.
»Ich hatte gerade Besuch von den Bullen. Sie haben mir die Kiste weggenommen - jetzt sind wir endgültig am Arsch, Mann!«
Kötter erkannte die Stimme des aufgebrachten Anrufers: Bernd Wiesinger. Er musste lachen. »Was heißt, wir sind am Arsch? Du hast doch dieses Forum. Ich bin nur der Fotograf.«
»Und du konntest nicht einfach nur deinen Job machen, für den ich dich bezahle, sondern musstest bei der Klimmek handgreiflich werden. Du bist ein Kranker! Ich hätte den Bullen erzählen sollen, wie du drauf bist! Ich werde deinetwegen in den Bau gehen, nachdem sie mir meine Existenz kaputt gemacht haben! Man sollte dir einen Killer auf den Hals schicken, Kötter!«
»Du weißt, was dir dann blühen würde.« Er kehrte mit dem Telefon am Ohr ins Wohnzimmer zurück. Dort lag Rebecca immer noch auf dem Sofa. Sie hatte sich auf die Seite gedreht und lag nun in einer embryonalen Haltung vor ihm. Es schien, als schliefe sie. Wenn sie wieder zu sich kam, würde sie sich nicht mehr an das, was mit ihr geschehen war, erinnern können. Nur die Tatsache, dass sie unbekleidet war und eine leichte Bisswunde am Hals hatte, würde noch daraufhinweisen, dass etwas passiert war, während die Tropfen ihre Wirkung entfaltet und ihr Bewusstsein außer Kraft gesetzt hatten.
»Ist jetzt auch scheißegal«, drang die Stimme von Wiesinger an seine Ohren. »Du solltest auf der Hut sein, die Bullen haben mich nach deiner Adresse gefragt. Du bist am Arsch, Mann!«
»Schönen Dank auch. Aber wir sehen uns, mein Freund!« Kötter hatte genug gehört. Er drückte den roten Knopf am Telefon und schleuderte das Gerät an die Wand. Es zerbrach in seine Teile. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Er trat an das Fenster und zog die bodenlangen, schwarzen Gardinen einen Spalt breit auseinander. Von hier aus konnte man auf die Parkbuchten vor dem Haus blicken. Sein Sprinter stand etwas abseits; er war zu groß für die Standard-Parkbuchten. In dem Moment, als er sich vom Fenster abwenden wollte, bemerkte er einen silbernen Audi, der langsam die Straße entlangfuhr. Auf dem Dach des Audis erkannte er eine auffällig lange Antenne - die Funkantenne für den Polizeifunk. In dem Wagen saßen zwei Personen, ein Mann und eine Frau. Sie blickten sich suchend um, dann deutete die Frau auf den blauen Kastenwagen, der am Straßenrand parkte. Der Mann nickte und lenkte den Wagen vor eine der Einfahrten, die ursprünglich als Rettungsweg freigehalten werden sollten.
»Scheiße«, zischte er. Er blickte sich panisch um. Sofort wich er vom Fenster zurück und verschloss die Gardinen wieder. Eilig schlüpfte er in seine Kleidung und angelte nach dem Wagenschlüssel, der auf dem Tisch lag. Um Rebecca konnte er sich nicht mehr kümmern. Leider. Doch es war höchste Zeit, zu verschwinden. Kötter stürmte aus der Wohnung, zog die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zu und rannte zu den Fahrstühlen. Es gab zwei, und er hoffte, dass er den Bullen nicht in die Arme lief. Sekundenlang überlegte er, ob er sich für das Treppenhaus entscheiden sollte, doch wenn die beiden etwas Grips im Kopf hatten, dann würden sie wahrscheinlich den Lift und das Treppenhaus nach ihm durchsuchen. Dann kam ihm eine Idee. Er hatte in Sekunden einen Plan geschmiedet, der ihm den Weg in die Freiheit ermöglichen würde.
Sie würden ihn nicht kriegen.
Sie waren langweilige Sterbliche, graue Tagmenschen und er war ihnen überlegen. Rebeccas Verlust würde er verschmerzen können. Nun musste er zunächst an sich denken. Nichts und niemand durfte ihn davon abhalten.