14.10 Uhr
Wohin, wohin, wohin?, hämmerte es in seinem Schädel. Zunächst einmal musste er den Bullen entkommen, die sich jetzt scheinbar in seiner Wohnung aufhielten. Sie hatten Rebecca mit allergrößter Wahrscheinlichkeit gefunden und kümmerten sich um sie. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Wenn er die K.O.-Tropfen richtig dosiert hatte, dann erwachte sie jetzt gerade wieder.
Der Sprinter schlidderte über die matschigen Straßen, und er musste sich zwingen, behutsam mit dem Gaspedal umzugehen. Er fragte sich, wann der Winterdienst endlich in der Lage war, mit dem Schnee fertig zu werden und trommelte nervös auf dem Lenkrad herum. Immer wieder drifteten seine Gedanken zu Rebecca, die er achtlos in seiner Wohnung hatte zurücklassen müssen. Sie waren ihm verdammt dicht auf den Fersen, und er musste sich einen neuen Kurs ausdenken, um die Bullen aufs Glatteis zu führen.
Die Karre, dachte er. Die verdammte Karre ist auffällig, sie muss endlich weg. Er stoppte den Wagen an einem Taxistand am Wichlinghauser Markt. Den Motor ließ er im Leerlauf vor sich hin tuckern, damit die Heizwirkung nicht nachließ und damit die Scheiben nicht beschlugen. Die missbilligenden Blicke der am Stand wartenden Taxifahrer ignorierte er. An der Bushaltestelle gegenüber standen vermummte Gestalten in der Kälte und warteten auf den nächsten Bus. Ein Junge von vielleicht zehn Jahren unterbrach das Spiel auf seiner Game-Konsole und grinste blöde zu ihm herüber. Kötter zog sein Handy aus der Innentasche seines Mantels und schaltete es ein. Das tat er nur, wenn er wirklich telefonieren musste. Er wusste, dass eine Handyortung eine Sache von wenigen Minuten war, bis sie ihn hatten.
Die Sekunden, bis sich das Telefon ins Netz eingewählt hatte und das Betreiberlogo im Display erschien, kamen ihm unendlich lange vor. Es dauerte einen Augenblick, dann konnte er auf den internen Speicher des Telefons zugreifen und rief eine gespeicherte Nummer auf. Dann endlich meldete sich sein Gesprächspartner.
»Es ist zu früh, deine Ladung kommt frühestens um sechs Uhr.«
»Ich brauch eine andere Karre«, erwiderte er.
»Warum?« Sein Chef stutzte. Er wurde grundsätzlich stutzig, wenn einer seiner Fahrer nach einem anderen Fahrzeug verlangte, denn dann war meistens etwas im Busch. In der Regel kostenintensive Reparaturen.
»Der Motor macht komische Geräusche, damit kann ich die Tour heute Nacht unmöglich fahren, ohne liegen zu bleiben.«
»Scheiße.«
Er interessierte sich nicht im Geringsten für die Sorgen seines Chefs.
»Ich bin in zehn Minuten bei dir. Hast du eine Karre für mich frei?«
»Ich muss umdisponieren, dann kannst du den alten LT haben.«
»Mir egal. Irgendwas. Bis gleich.« Er drückte die rote Taste und schaltete das Handy wieder aus, um es in die Tasche zu stecken. Die Ampel an der Kreuzung Wichlinghauser Straße stand auf rot, und es hatte sich ein kleiner Rückstau bis zum Taxistand gebildet. Neben ihm standen die Autos, und als er den Gang einlegte und den Blinker setzte, um sich in den Verkehr einzuordnen, wurde ihm siedendheiß klar: Neben ihm stand ein Polizeiwagen. Einer dieser neuen, blausilbernen Passat Kombi.
Innerhalb einer einzigen Sekunde perlte Schweiß auf seiner Stirn, und er hatte Probleme, das Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu bekommen. Ihm wurde schwindelig, und hätte er nicht auf dem Fahrersitz des Lieferwagens gesessen, wäre er womöglich zusammengesackt. Die uniformierte Beamtin auf dem Beifahrersitz wandte den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen.
Ein Horrorszenario lief vor seinem geistigen Auge ab.
Er sah, wie die Polizisten ihren Wagen mitten auf der Straße stoppten, wie sie ausstiegen und ihn aus dem Fahrerhaus des Kastenwagens zerrte, um ihm gleich die Handschellen anzulegen. Wie er in den Fond des Streifenwagens verfrachtet und gleich dem Haftrichter vorgeführt würde. Wie würde er dann an frisches Blut kommen, um so weiter zu leben, wie er es bisher getan hatte? Die kennen mich nicht, schrie alles in ihm, als die Beamtin, eine junge zierliche Blondine, zu ihm hinauf lächelte. Die Ampel schaltete auf Grün, und der Verkehr in Richtung Wichlinghauser Straße rollte an.
Nichts geschah. Der Albtraum, der wie ein Film in seinem Kopf abgelaufen war, zerplatzte und holte ihn in die Realität zurück. Der Streifenwagen rollte an ihm vorüber, er fuhr an und ordnete sich in den nun wieder fließenden Verkehr ein. Die Polizisten bogen nach rechts in die Westkotter Straße ab. Er hatte bereits das alte Viadukt am Fuße der Wichlinghauser Straße erreicht, als sich sein Puls wieder einigermaßen normalisiert hatte. An der T-Kreuzung bog er nach rechts in die Berliner Straße ein und passierte schon nach wenigen Metern die Stelle, an der er Mandy Klimmek für die Nachwelt drapiert hatte, nachdem er mit ihr fertig gewesen war.
Das Foto vom Fundort der Leiche seines ersten Donars war in allen Formaten durch die Medien gegangen. Zeitungen, das Radio und sogar die Fernsehsender hatten von der schrecklich zugerichteten Frauenleiche berichtet, die von ihrem Mörder eiskalt nach vollbrachter Tat hier abgelegt worden war. Er nahm kurz den Fuß vom Gas und verdrängte, dass die Bullen ihm auf den Fersen waren. Inzwischen gab es eine große öffentliche Anteilnahme am Fundort von Mandy: Man hatte Blumen aufgestellt und Kerzen, man hatte Schilder gemalt mit der Aufschrift Warum? und einige Stofftiere hingelegt.
Die Öffentlichkeit wusste, dass er in der Stadt war.
Man hatte zur Jagd auf den Mörder geblasen.
Doch sie würden ihn niemals kriegen. Erst als hinter ihm der Fahrer eines rostigen Japaners hupte, beschleunigte Kötter den Lieferwagen. Es war Zeit, unterzutauchen und die Taktik zu ändern. Immerhin wussten sie jetzt, wer er war und wo er wohnte. Kötter kam in den Sinn, dass er seine Wohnung nie wieder aufsuchen konnte. Sie war zum Tatort geworden und wurde sicherlich von der Polizei mit einem neuen Türschloss versehen. Spätestens morgen würden sie ihm die Bude auf den Kopf stellen und alle Spuren sichern. Seine DNA befand sich überall in der Wohnung, im Bad, im Schlafzimmer, auf dem Boden. Ein Abgleich würde Klarheit schaffen - es gab keinen Zweifel daran, dass er hinter den Morden steckte. Und dann war die Hetzjagd auf ihn eröffnet. Sie würden ihn im ganzen Land jagen.
Während er den Alten Markt erreichte, fasste er einen neuen Entschluss: Kai Kötter musste sterben. Er überlegte sich eine neue Strategie, stoppte den Wagen an einer Bushaltestelle, zog das Handy erneut aus der Tasche und aktivierte es. So leicht würde er es den Polizisten nicht machen.